Читать книгу Die Katze und der General - Nino Haratischwili - Страница 7

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1994/Nura

Sie sah in den Himmel. Durch die dichte Wolkendecke erkannte sie einen schmerzlich grellen Kreis. Sie hatte das Gefühl, dass sie durch das blendende Weiß hindurch die glühenden Knochen sehen könnte, würde sie nur lange genug hinstarren, würde sie nur aushalten, wenn ihre Netzhaut Feuer fing. Aber sie wandte den Blick ab, der Himmel hatte sich in Sekundenschnelle zugezogen, und die Wolken trieben den Nebel in die Schlucht.

Wieder gab es verächtliche Blicke, als sie den Marktplatz betrat, sie wurde vom Geflüster verfolgt. Auch die klebrigen gelben Eidechsenblicke der alten Weiber spürte sie auf ihrer Haut brennen. Bestimmt zerrissen sie sich die Mäuler, weil sie mit unbedecktem Kopf durch das Dorf lief.

Der Nebel zog sich in Windeseile über der Schlucht zusammen. Schwer und leise war er in die Dörfer gekrochen und hatte mit seinem endlosen Maul alle und alles verschluckt. Es bedurfte größter Anstrengung, um das Nächste zu erkennen.

Der Nebel und die feuchte Kälte machten die Menschen angespannter, dünnhäutiger, die ohnehin frostige Stimmung im Dorf war kaum zu ertragen. Auf leisen Sohlen schlichen die Frauen umher, gingen still ihren Alltagsbeschäftigungen nach, während sich die Männer in kleinen Gruppen nachdenklich und geheimnistuerisch in die Hinterzimmer zurückzogen.

Der Winter würde bald mit seiner für diese Gegend gewohnten Schonungslosigkeit über die Schlucht hereinbrechen. Die Bewohner wappneten sich und stellten sich auf die frostigen, sternenklaren Nächte und eisigen Morgenwinde ein. Aber es war auch noch etwas anderes, das in der Luft lag, nein, vielmehr lauerte es dort, und sie konnte es nicht in Worte fassen, sie kannte diese Stimmung nicht, sie wusste nur, dass sie nichts Gutes bedeutete. Aber anders als alle anderen wollte sie sich nicht von Sorgen und Ängsten lähmen lassen. Sie wollte sich auf den ersten Schnee freuen, wie sie es jedes Jahr tat. Sie wollte mit der kleinen Asma Schneeballschlachten veranstalten und Schlitten fahren – trotz Mutters Gejammer, dieses Verhalten schicke sich nicht mehr für eine junge Frau ihres Alters. Sie wollte das Knirschen unter ihren Füßen spüren, wollte die weiße Decke von den dünnen Ästen der moosgrünen Tannen schütteln und dabei lachen, sinnlos, einfach so, wie sie es schon immer getan hatte und auch immer noch tun wollte.

Schließlich war es nichts Neues, dass die Alten ihr hinterherzischelten, sie mit ihren Blicken verdammten, sie kannte das, sie war daran gewöhnt, und auch jetzt, trotz der eisigen Stimmung, trotz der schwer in Worte zu fassenden Bedrohung, die in der Luft lag, würde sie sich davon nicht abschrecken lassen, würde keinen Umweg nehmen, um zur Mühle zu gelangen und dort das vorbestellte Mehl abzuholen. Sie würde nicht den Kopf senken. Sie musste nur kurz die Augen schließen und sich Natalia Iwanownas dünne, hauchige Stimme vorstellen, die ihr in ihrem feinen Russisch zuflüsterte: »Was ist das für eine Haltung? Geht so eine stolze Kaukasierin? Mach den Rücken gerade! Eine Frau mit krummem Rücken, mit geduckter Haltung wird sich niemals durchsetzen können! Gut so, wie eine Bolschoi-Ballerina, jawohl! Geht doch! Gut gemacht, Madame! Und nun müssen wir an deiner Osanka arbeiten!« Nura hatte schon immer geliebt, wie sie dieses Wort sagte, jede Silbe einzeln betont, und obwohl es nichts anderes hieß als Körperhaltung, bekam es dadurch einen weiteren, einen tieferen Sinn. Es war leicht, sich Natalia Iwanownas Stimme ins Gedächtnis zu rufen, schließlich hatte sie ihr die magische Formel beigebracht, die jede Widrigkeit, jeden lästigen Umstand, jede Zumutung des Lebens erträglicher machte. Ihre Stimme war nach wie vor so lebendig, als hätten sie sich erst gestern voneinander getrennt, und irgendetwas sagte ihr, dass es ihr ganzes Leben lang so bleiben würde. Mit ihren Worten im Ohr umarmte Nura ihren Stolz umso fester und überquerte erhobenen Haupts und mit kerzengerader Osanka den Marktplatz.

»Du musst dich konzentrieren! Die Fantasie verträgt keine Beliebigkeit und schon gar keine Nachlässigkeit. Du musst sehr präzise sein in dem, was du dir vorstellst!« Der Nebel umhüllte sie jetzt dicht wie eine Pelzstola, und für einen Augenblick glaubte sie, es wäre Natalia Iwanownas Werk, ihre Zauberei, um sie vor den missgünstigen Blicken und vor dem Geflüster zu schützen, das ganz sicher für ihre Ohren verletzend war.

Die Schlucht schlummerte, ließ sich vom Nebel in den Armen wiegen, und die Berge schienen den Atem angehalten zu haben. Immer wieder malte sie sich aus, wie sie eines Tages das Dorf verlassen würde, vielleicht sogar für immer, eine Erkenntnis wie eine Unvermeidbarkeit, diese Gewissheit schien sich in ihren Körper und in ihre Gedanken eingeschrieben zu haben, es war anders nicht denkbar, aber dennoch, wenn sie sich die Szene genau vergegenwärtigte, dann zog sich etwas in ihr zusammen. Und das nicht wegen der Menschen, nein, vielmehr wegen dieser Berge, wegen der Nähe zum Himmel. Hier schien sie nur eine Hand ausstrecken zu müssen, und schon konnte sie die Wolken streifen, nur eine Armbewegung, und schon konnte sie den Himmel ertasten, und wenn nicht ertasten, so doch zumindest einatmen.

Das erste und bisher einzige Mal, dass sie in einer Stadt gewesen war – und zwar in einer richtigen Stadt und nicht in einem dieser umliegenden Provinznester –, war sie von dieser Feststellung überwältigt worden, dass dort weder die Sterne noch der Himmel sichtbar waren, oder vielmehr war ihr der Himmel wie eine Attrappe vorgekommen, er hatte so gewirkt, als hätte ihn ein schlechter Maler nachzuahmen versucht und wäre dabei kläglich gescheitert. Damals war sie zehn gewesen und an der Hand ihres Vaters durch breite Straßen gelaufen und hatte Autos an ihnen vorbeijagen gehört, und obwohl sie sich merkwürdig gefühlt hatte, fremd und ungewohnt, war es ein wunderbares, ein aufregendes Gefühl gewesen, sie hatte etwas auf ihrer Zunge schmecken können, das sie bis dahin noch nie geschmeckt hatte und das für sie mittlerweile auch einen Namen hatte: Freiheit. Aber vielleicht war dieser Geschmack auch von der Tatsache intensiviert worden, dass sie dort mit ihrem Vater gewesen war, nur sie allein, ohne die Mutter mitsamt ihren Regeln und Verboten, und dass Vater ein anderer schien, so locker und gut gelaunt, so kindlich verspielt und so leicht, als wäre eine tonnenschwere Last von seinen Schultern gefallen. Lange war es her … Und auch die Erinnerung an ihn als einen frohen und zufriedenen Mann kam ihr mittlerweile fast unwirklich vor.

Der Mühlenbesitzer Avlan wischte die Hände an seiner Schürze ab und grinste über beide Ohren. Dann fragte er nach der Gesundheit der Mutter und erkundigte sich nach den Schwestern. Eigentlich interessierte er sich nur für Malika, die Älteste von den dreien. Aber es war ein hoffnungsloser Fall. Malika war schon längst eines anderen Mannes Frau, und auch er wusste um die Hoffnungslosigkeit seines Verlangens, wollte aber nicht ganz aufgeben, konnte sich noch nicht mit seinem Schicksal abfinden. Schon immer hatte Nura ihn bemitleidet. Es war von Anfang an eine törichte Sehnsucht, niemals hätte Malika ihn zum Mann genommen, und vor allem hätte sich die Gelajew-Familie niemals mit der seinen verschwägert. Er galt als zu weich und zu weibisch für die Berge, eine Art Kollateralschaden für den Taip, unvermeidbar und von minimalem Nutzen, nicht der Hauch eines Kriegers war in seinem Blut, und somit war er auch kein richtiger Nochtscho. Malika aber, die es liebte, gesagt zu bekommen, wo es langging, empfand eine fast erotische Verzückung dabei, sich unterzuordnen. So wäre diese Bindung schon allein aus diesem Grund zum Scheitern verurteilt gewesen.

– Sehr gutes, sehr fein gemahlenes Mehl wie von deiner Mutter bestellt, ganz hervorragend geeignet für Chepalgaschi. Sie ist ja eine wahre Meisterin darin. Ich habe einmal beim Geburtstag deines Großvaters die Chepalgaschi deiner Mutter gekostet und habe den Geschmack immer noch im Mund, himmlisch!

Sie fragte sich, ob er übertrieb, weil er sie für sich einnehmen wollte, oder ob er davon wirklich überzeugt war. Mutter kochte wirklich gut, aber das taten die meisten Frauen im Dorf. Sie lächelte ihm zu und warf einen Blick nach draußen. Der Nebel war noch dichter geworden, graue Mauern hatte er in den Straßen des Auls errichtet.

– Wirklich gemein, dieser Nebel, nicht?

Avlan täuschte eine Art Schüttelfrost vor und grinste dämlich. Am liebsten hätte sie ihn umarmt, aber sie wusste, dass die beiden Männer, die sich vor dem Eingang unterhielten, sie ununterbrochen beäugten, und da sie kein zusätzliches Ärgernis auf sich ziehen wollte, unterließ sie es und ärgerte sich im gleichen Augenblick über ihre Selbstbeherrschung.

– Und die gute Malika, geht es ihr gut? Besucht sie euch ab und zu?

Avlan konnte sich weitaus weniger beherrschen.

– Spätestens zum Opferfest wird sie kommen, da bin ich mir sicher. Ansonsten … also, ich hoffe, dass es ihr gutgeht.

Sie hoffte es wirklich. Malika hatte vor fast einem Jahr geheiratet und war nach Urus-Martan gezogen. Ob sie glücklich war, wusste man nicht, Mutter jedenfalls hatte sie mit ihrer Heirat sehr glücklich gemacht. Es war ein starker Clan, dem Vater des Bräutigams gehörte eine Seifenfabrik in Urus-Martan, sie galten zwar als assimiliert, aber auch nicht als Speichellecker, und so war es die Erfüllung eines Traums und gleichzeitig eine Rangerhöhung, die Malika und der ganzen Familie zuteilwurde; nach der Schande, die Vater über die Familie gebracht hatte, eine regelrechte Wiedergutmachung, ein Friedensvertrag. Mutter hatte schon immer auf Malikas Karte gesetzt. Erstens war sie die Gehorsamste, zweitens war sie ein »richtiges« Mädchen mit »richtigen« Mädchenträumen, die sich alle um einen starken und mächtigen Mann drehten, und drittens war sie die Hübscheste. Asma war noch zu klein, und man wusste nicht, in welche Fußstapfen sie einmal treten würde. Und sie selbst, die Zweitgeborene, nun ja, darüber sollte man gar nicht erst reden. Also blieb die Karte Malika, und sie erwies sich als Trumpf. Der Plan ging auf und ließ Mutter einen Moment lang versöhnlich werden. Gegenüber sich, der Welt und vor allem gegenüber der Vergangenheit, aber dieser Moment sollte nicht lang währen.

Eine Kupplerin aus dem Nachbardorf hatte die Heirat eingefädelt, und Mutter wiederholte immer wieder, was für ein Glück es gewesen sei, dass Malika ein so hübsches Gesicht hatte und darüber hinaus Urus-Martan zu weit entfernt lag, um sich dort ernsthaft um das beschämende Verschwinden ihres Mannes zu kümmern. Malika willigte schon ein, bevor sie ihren Bräutigam überhaupt gesehen hatte, denn sie würde in die Stadt ziehen und einen Ehemann mit einem deutschen Auto bekommen. Es wurde geheiratet. Sie zog weg. Seitdem hatte sie ihre Schwester nur ein einziges Mal gesehen, Malika war mit ihren Schwiegereltern im Hochsommer in das Aul gekommen, weil die Nihaloyskie-Wasserfälle angeblich gut für die Fruchtbarkeit waren, und auf dem Weg dorthin hatten sie einen Abstecher ins Dorf gemacht. Sie trug nun ein Tuch auf dem Kopf, wie es sich für eine verheiratete Frau gehörte, und ein knöchellanges Kleid.

Jetzt aber fragte sich Nura, ob ihre Schwester glücklich war. Und wie Malikas Glück überhaupt aussehen könnte. Würde man es erkennen? Würde man es ihr ansehen? Oder war Malikas Glück farb- und geruchlos, still und unauffällig, verschwommen wie dieser Nebel? Damals war sie sehr still gewesen, stiller als sonst, und hatte etwas verschreckt gewirkt, verunsichert, als hätte sie es verlernt, hier zu sein, in der Nähe ihrer Mutter und Schwestern, im Dorf und nicht in der Stadt, als hätte sie es verlernt, sie selbst zu sein oder vielmehr, als hätte sie sich eine Fassade gebaut und fürchtete nun, dass jemand dahinterblicken könnte.

– Ihre Familie versteht sich gut mit den Russen, nicht?

Diese Frage erstaunte sie. Avlan schien nie sonderlich am Weltgeschehen interessiert zu sein. Er würde auch niemals diesen Ort, dieses Dorf verlassen, wenn man ihn nicht regelrecht verjagen würde, dessen war sie sich sicher.

– Ich weiß nicht. Wieso fragst du mich das?

– Nun ja, geht ihr nicht zu den Gasujews fernsehen?

– Manchmal.

– Es hat einen Putsch gegeben, die Russen wollten ihre Vasallen bei uns an die Spitze setzen. Wir haben deren Kampfhubschrauber abgeschossen.

– Wir?

– Ja, die Unseren.

Seine Wortwahl verwunderte sie. Sicherlich verbrachte er viel Zeit im ehemaligen Komsomolclub, dort versammelten sich in letzter Zeit immer mehr junge Männer und besprachen unentwegt irgendwelche »wichtigen Angelegenheiten«, wie Mutter es nannte, was Diskussionen über Politik bedeutete. Wahrscheinlich war auch Avlan dort zugegen und hatte die fremden Worte übernommen, um Eindruck zu schinden.

– Ja, und viele von den Speichelleckern sind festgenommen worden.

Man kam nicht umhin, einen gewissen Stolz in seiner Stimme zu bemerken, sein eifernder Patriotismus erstaunte sie, und das Glühen in seinen Augen, als er das sagte, stufte ihn auf ihrer Sympathieskala auf Anhieb herab.

– Ich muss jetzt wirklich los, Mutter und Asma warten …

Es war ihr zum ersten Mal in seiner Nähe unbehaglich geworden, und sie wollte schnell wieder los. Als wäre er aus einem Halbschlaf erwacht, schüttelte er den Kopf, lachte wieder auf seine einnehmende Art auf und überreichte ihr den Mehlsack. Sie verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und trat hinaus. Der Nebel umhüllte sie augenblicklich wie ein warmer Mantel.

Ein paar Schritte weiter wäre sie um ein Haar mit der dicken Gülnaz und ihrem unförmigen Sohn zusammengestoßen. Die Gülnaz war eine richtige Dorfmatrone, und da ihr Ehemann ein paar Rinder hatte und genauso viele Ehefrauen – was ihr wiederum etwas weniger gefiel, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ –, glaubte sie, viele Gemeinschaftsfragen entscheiden und sich überall einmischen zu dürfen. Würde man vom Tratschen zunehmen, müsste sie längst eine Tonne wiegen, hatte Nura einmal zu Asma gesagt und selbst über ihre bildhafte Vorstellung lachen müssen.

Das Kind, das kein richtiges Kind mehr war, aber noch lange nicht erwachsen, hielt Gülnaz’ Hand fest und stampfte mit schweren und trägen Schritten hinter ihr her.

– Ach, Nura, du bist es! Hast du mir einen Schrecken eingejagt!, schrie sie auf, und sogar der dichte Nebel konnte nicht verhindern, dass man das viele Gold in ihrem Mund aufblitzen sah.

– Ja, ich bin es, Tante Gülnaz, Verzeihung! Der Nebel ist heute aber auch besonders dicht …

– Mein Bruder hat gesagt, dass es die Russen sind. Ja, ja, sieh mich nicht so an, man sagt, sie würden jetzt irgendwelche Gase einsetzen, um sich an uns zu rächen und uns, ohne dass wir es bemerken, langsam vergiften …

– Das glaube ich kaum, Tante Gülnaz!

Sie versuchte, mit einem kleinen Schritt nach vorne anzudeuten, dass sie weiterwollte, aber Gülnaz boykottierte ihr Vorhaben. Sie hatte nämlich noch Dinge loszuwerden, und vor allem wollte sie sichergehen, dass sie auch ja nichts verpasst hatte.

– Was macht deine arme Mutter nun?

– Wie meinen Sie das, Tante Gülnaz?

Sie hatte keine Ahnung, worauf die falsche Schlange hinauswollte.

– Nun ja, so alleine mit zwei Mädchen zu Hause, und das in diesen wirren Zeiten …

Alles in ihr zog sich zusammen. Am liebsten hätte sie aufgeschrien, hätte ihr ins Gesicht gespuckt und wäre weitergerannt. So viel Schadenfreude, so viel Gier nach dem Leid der anderen war kaum auszuhalten. Wie konnte man mit so viel Frust überhaupt leben, fragte sie sich und zwang sich zu einem Lächeln.

– Alles in Ordnung, Tante Gülnaz. Machen Sie sich wegen uns keine Gedanken.

– Mach deiner Mutter keine Sorgen, hörst du?, sagte sie mit fast drohendem Unterton und beugte sich ganz nah zu ihr, so dass Nura ihren unangenehmen Atem riechen konnte, ein Geruch nach hartgekochten Eiern und nach etwas Fettigem. – Sie hat bereits genug durchgestanden.

Wie gerne hätte Nura ihr eine Ohrfeige verpasst. Und in dem Moment spürte sie die Abwesenheit von Natalia Iwanowna am schmerzlichsten. Normalerweise wäre sie nach solch einem Vorfall zu ihr gerannt und hätte sich wie ein Donner bei ihr entladen, hätte dort gewütet und alles zum Teufel geschickt, bis sie sich wieder beruhigt und ihre Zuversicht wiedergewonnen hätte. Aber jetzt, ja, jetzt musste sie die Bitterkeit, den Zorn herunterwürgen, sich dabei sogar zu einem Lächeln zwingen.

– Auf Wiedersehen!, murmelte sie nur und setzte ihren Weg durch den Nebel fort, als der Junge, der vorher apathisch neben seiner Mutter gestanden hatte, ihr plötzlich die Zunge rausstreckte und spuckend etwas ausstieß. Zuerst verstand sie nicht, was es war, aber nachdem sie sich etwas entfernt hatte, konnte sie die Laute besser deuten. »Hure« hatte er ihr hinterhergerufen. Gülnaz muss ihm den Mund zugehalten haben, denn er verstummte abrupt und wieder herrschte die alles umfassende Stille.

Sie durfte nicht die Kontrolle verlieren. Sie durfte diesen Hinterwäldlern nicht noch einen Grund mehr liefern, über sie und die Ihren zu tratschen. »Einfach weiteratmen, tief und gleichmäßig weiteratmen«, hörte sie wieder Natalia Iwanowna in ihr Ohr hauchen. Wie furchtbar sie sie doch vermisste! »Atmen und dann den Filter auswechseln!«

Das tat sie, wenn die Welt um sie herum zu fest wurde, zu hart, zu unbehaglich, dann schaltete sie einfach die Realität aus, wechselte sie aus wie einen Farbfilter. Das war gar nicht schwer, nur die Augen schließen und sich in eine andere Realität versetzen, mit jedem ihrer Sinne, mit der allerhöchsten Konzentration, und dann war schon alles anders, sie wurde zu einer anderen, austauschbaren Person, eben zu dem, was sie sich vorzustellen vermochte, was ihre Vorstellungskraft bereit war zuzulassen. Und mit jedem Tag, jedem Monat, jedem Jahr wurde sie darin kühner und waghalsiger. Früher, da wagte sie in ihrer Vorstellung höchstens ein Szenario, in dem sie eine Ärztin war, irgendwo in einer großen Stadt voller schöner Parks und Attraktionen. Einer Stadt, die einer Kirmes glich. Bunt und grell und voller Musik, voller Vergnügen, und sie mittendrin, von der Arbeit eilend, die sinnvoll und wichtig war, am besten in der Chirurgie, am besten da, wo es mindestens um Leben und Tod ging, und selbstverständlich würde sie dem Leben immer zum Sieg verhelfen und danach an den Buden mit Zuckerwatte und den schönen Karussells vorbeimarschieren und lachen und Eis essen, in einem wunderschönen Kleid, mit offenen Haaren. Sie entdeckte, wie sie ihre Fantasie trainieren konnte, dressieren wie ein gehorsames Pferd. Und so lernte sie, immer tollkühnere und schrillere, immer abenteuerlichere Geschichten zu erfinden. Wenn sie sich zum Beispiel nicht allzu sehr anstrengen wollte, dann war sie einfach eine Prinzessin, das kostete gar keine Mühe. Aber auch nicht irgendeine beliebige, sondern eine japanische. (Sie hatte einmal in der alten Dorfbibliothek, die voller sozialistischer Propagandabücher war, eine zerfledderte Zeitschrift entdeckt, eine alte Modezeitschrift, in der alles in lateinischer Schrift geschrieben stand, in einer fremden und schön anmutenden Sprache, und in der schöne, gut gekleidete Frauen abgebildet waren. Und dort gab es eine adrette junge Dame, die sich als eine japanische Prinzessin erwies, mit dem exotischen und Fernweh weckenden Namen Michiko – so viel hatte sie entziffern können.) Sie trug schicke Kostüme und winkte dem Volk von einem kaiserlichen Palast aus zu, der vollständig vergoldet war.

Aber in letzter Zeit war sie meist María. Die wunderschöne María aus der mexikanischen Telenovela Simplemente María, die sie zusammen mit den anderen Dorffrauen allabendlich bei den Gasujews im Fernsehen sah – man hatte den Fernseher wegen des großen Andrangs mithilfe eines mit Klebestreifen zusammengefügten Verlängerungskabels in den Hof gestellt, damit alle Platz finden konnten. Dort ging es um das einfache Bauernmädchen, die titelgebende María, die es trotz aller Widrigkeiten und Hindernisse zu einer ruhmreichen Modedesignerin schaffte, die alle sozialen Hürden überwand, obwohl sie ihre Liebe zum reichen Juan Carlos del Villar Montenegro nicht leben durfte. Es war schön, María zu sein. Und es war auch einfach, sich Marías Wirklichkeit auszuleihen, da die russisch synchronisierte, farbenfrohe mexikanische Realität so prall und detailreich war. Sie hatte genaue Vorstellungen, wie die Räume aussahen, durch die María schritt, von den Kleidern, die sie anhatte, den Gegenständen, die sie berührte, und den Rest, ja, den Rest vervollständigte sie in ihrem Kopf. Zum Beispiel den Geschmack der Lippen von Juan Carlos del Villar Montenegro. Auch wenn ihre Liebe unglücklich war, auch wenn es ihnen nicht vergönnt war, zueinanderzufinden (noch konnte sie dies aber nicht mit Gewissheit sagen, noch durfte sie hoffen, immerhin hatte sie noch einhundertzweiundzwanzig Folgen vor sich), so war sie wunderschön, geheimnisvoll, aufregend, so wie sie sich vorstellte, dass sie sein sollte, und nicht die, die ihr die Realität aufzwang. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass die Schauspielerin, die María verkörperte, Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo hieß, und hatte sich den Namen eingeprägt wie eines der vielen patriotischen Gedichte, die man ihr in der Schule eingetrichtert hatte. Wie magisch und verlockend dieser Name klang! Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo, wie Zuckerwatte schmolz dieser Name auf der Zunge und hinterließ einen Geschmack, der Sehnsucht nach mehr weckte. Die Welt von Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo war eine, wie sie sich vorstellte, dass die Welt zu sein hatte, wenn man schon das Glück hatte zu leben, dann mussten das Leben und die Umgebung doch mitspielen, das war ja wohl nicht zu viel verlangt. Oder doch? War es denn so falsch, sich mehr zu wünschen? Mehr als das, was einer Frau zustünde, wie ihre Mutter meinte? Was diese alten Frauen meinten, die auf dem Marktplatz saßen und sie mit ihren gelben Eidechsenaugen auffraßen, tadelnd, schmähend; sie fanden es schon unverschämt genug, dass sie so jung war, jung und voller geheimer Versprechen, die ihr Körper machte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Musste sie sich dafür entschuldigen, so geschmeidig und anmutig zu sein wie ein freilebendes Tier?! Musste sie sich dafür entschuldigen, sich fortzuträumen? Dass ihr das Dorf nicht genug war? Und die Dorfbewohner noch viel weniger! Hinter diesen Bergen, hinter der gewaltigen Schlucht, hinter dem zornigen Fluss lag eine Welt, die so viel beinhaltete, so vielfältig war, so bunt. Dort wollte sie hin. Sie musste dorthin. Sie musste es schaffen. Die Vorstellung, sie könnte eines Tages ihre Zauberkraft einbüßen und sich nicht mehr in eine andere Realität versetzen, weil die gegenwärtige, die reale sich durch alle Fantasieschichten hindurchfressen würde wie eine ätzende Säure, versetzte sie in Schockstarre. Das Furchtbarste, was passieren könnte, wäre der Verlust ihrer magischen Fähigkeit. Diese Fähigkeit hielt sie am Leben, sie schenkte ihr Zuversicht, ließ sie alles erdulden, was das Gegenteil von Glück und trotzdem kein Unglück war, für das sie bisher aber keinen Namen gefunden hatte.

»Ist das nicht endlos traurig, Nura, dass die meisten Menschen sich nichts sehnlicher wünschen als das Mittelmaß? Das Mittelmaß an Leben, das Mittelmaß an allem, und dass ich mich vor nichts so sehr fürchte wie genau davor?«

Plötzlich sah sie Natalia Iwanowna vor sich stehen, am Fenster, mit dem Rücken zu ihr, in der linken Hand eine Zigarette. Sie war Linkshänderin und hatte immer gesagt, es liege daran, dass die linke Hand nun mal näher am Herzen sei und sie nichts machen könne, was nicht in direkter Verbindung mit ihrem Herzen stehe. Es war Winter – fast immer, wenn sie an Natalia Iwanowna dachte, war es Winter, als wäre ihre gemeinsame Zeit ein endloser, schneebedeckter weißer Winter gewesen, als hätte es in der Zeit mit ihr keinen Sommer gegeben –, und im Blechofen brannte Holz, das Knistern hatte etwas Einschläferndes, das Geräusch lud zum Träumen ein. Draußen war es kalt, und durch das Fenster wirkte die Welt so unbarmherzig, so unfreundlich, während es in diesem kleinen Zimmer so warm und gemütlich war. Nura konnte ihr Gesicht nicht sehen, als sie diesen Satz sagte, aber sie bekam auf einmal Gänsehaut. Ob ihr der Satz so vertraut vorkam, sie eher abstieß oder ihr Angst machte, das konnte sie nicht festmachen – aber er zog sie in seinen Bann, und sie erstarrte.

»Immerzu haben wir dagegen angekämpft, mein Mann und ich, wir beide haben nichts anderes getan. Und jetzt nach so vielen Jahren frage ich mich, ob das ein Fehler war, ob wir nicht kläglich gescheitert sind. Ja, wenn du mich fragst, dann ist das Mittelmaß der Fluch des Menschen, nicht die Schlange brachte die Sünde in den Garten Eden, es war das Mittelmaß …«

Natalia Iwanowna zog an ihrer Zigarette (in der Welt, in der Nura lebte, eine für eine Frau unerhörte, verbotene Tat), und sie überlegte sich, ob sie sich von hinten an sie heranschleichen und sich an sie drücken, sie trösten, ihr sagen sollte, dass sie der außergewöhnlichste Mensch war, den sie je getroffen hatte.

»Aber manchen Menschen, nur sehr wenigen, gelingt es … Sie können diesen Fluch durchbrechen …« Wieder verstummte sie abrupt, wartete auf etwas, irgendein Urteil musste sie noch fällen, und das tat sie auch, nachdem sie die Zigarette auf einer zu einem Aschenbecher umfunktionierten Untertasse ausgedrückt hatte: »Vielleicht, ja, vielleicht … könntest du es schaffen, Nura …«

Ein größeres »Ja« hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie bekommen. Aber für dieses »Ja« galt es zu kämpfen, wie eine Löwin musste sie kämpfen, auch das hatte sie von Natalia Iwanowna gelernt. Andernfalls würde auch sie eines Tages wie diese alten Frauen auf dem Marktplatz enden, mit einem Wolltuch um den Kopf, mit auf dem Schoß zusammengefalteten Händen, mit gelben, klebrigen Augen und mit galligen Worten, die den Mund giftig machten – wenn sie nicht fortginge, wenn sie nicht diesen Bergen und diesem Fluss entkäme, dieser Natur, die so trügerisch schön war. Oder es würde noch schlimmer kommen, und sie würde werden wie Mutter, triefend vor Selbstmitleid, mit jeder Faser des Körpers um den Schutz des Auls bangend, um die penible Berechtigung jeder Handlung, jeder Entscheidung bemüht – seit Vater fort war und sie wie ein hilfloses Wesen durch die Galaxie schwebte, ängstlich und unsicher, verschüchtert bis ins Mark, und sich in sinnloser Tüchtigkeit verlor.

Nein, sie würde ihren Lebenssinn niemals an einen Mann koppeln, nicht einmal an einen wie Juan Carlos del Villar Montenegro. Sie würde die Sonne ihres eigenen Planetensystems sein. Sie würde nichts verbergen, sie würde die allerschönsten, allerbuntesten Kleider tragen und sowohl ihre Knöchel zeigen als auch die Linie, die sich erst seit zwei Jahren zwischen den so runden und festen Brüsten abzeichnete. Und wie schön würde sie die Wohnung einrichten, die sie einmal beziehen würde! Mit geblümten Tischdecken und Porzellanvasen, mit handgeknüpften Teppichen und mit weichen Sofas. Ähnlich wie die Haziendas aus der Telenovela. Vielleicht aber – und dieser Traum war der aufregendste, tollkühnste, verrückteste und daher vielleicht der innigste aller ihrer Träume – würde sie eine Schauspielerin werden, eine, zu der man aufsah, in die sich alle reihenweise verliebten, die lauter Preise abräumte und in edelsten Roben herumstolzierte und die mit feuchten Augen von der Bühne Handküsse verteilte. Eine wie Maria Victoria Eugenia Guadalupe Martínez del Río Moreno-Ruffo!

Aber diesen Traum wagte sie nicht so richtig in jeder Konsequenz zu durchdenken. Die Vorstellung, nicht nur die ganze Familie, sondern auch Asma könnte sie verachten und sich von ihr abwenden, war zu schmerzlich. Aber vielleicht würde sie es schaffen, und dieser Ort würde Asma nicht in seinen Bann ziehen und mit seinen stahlharten Regeln und Doktrinen infizieren, vielleicht würde sie es schaffen, für ihre Schwester das zu werden, was einst Natalia Iwanowna für sie gewesen war: ein Anker. Ja, vielleicht, wenn es ihr gelungen wäre, wenn sie erst nach Grosny, später nach Moskau, später nach … Ja, wohin eigentlich? Ja, vielleicht nach Mexiko gegangen wäre, ja warum nicht nach Mexiko, schließlich wurden da ja solch fabelhafte Serien gedreht wie Simplemente María, und sie würde in einer dieser Serien mitspielen, und wenn sie endlich dort angekommen wäre und eine bunte Hazienda bewohnte mit Papageien und überdimensionalen Kakteen im Garten, würde sie Asma zu sich holen und mit ihr die Freiheit üben, täglich, mit eiserner Disziplin, so wie es einst Natalia Iwanowna mit ihr getan hatte, und Asma würde begreifen, dass ihre Welt nur eine der endlos vielen Varianten der großen Welt war und keineswegs die absolute und einzig richtige, und dann würde vielleicht auch Mutters Herz erweichen, denn immerhin wären sie zu zweit, und die Mutter würde sie besuchen kommen und staunen, in welchen Technicolorfarben sich das mexikanische Leben ihrer Töchter abspielte. So stur, wie Mutter war, würde sie dennoch niemals ihr Land, ihr Aul, gänzlich verlassen wollen, aber vielleicht würde sie ein paarmal im Jahr den Ozean überqueren und mit ihren Töchtern Ausflüge zu den schönsten Orten Mexikos machen.

Natalia Iwanowna war vor etwa vier Jahren ins Dorf gekommen, eine Russin, die einen Tschetschenen geheiratet hatte und mit ihm nach Grosny gezogen war. Beide waren ehemals Lehrer, die es sich aus irgendeinem für Nura nicht nachvollziehbaren Grund zur Aufgabe gemacht hatten, durch die abgelegensten Dörfer des Nordkaukasus zu ziehen und dort Kinder zu unterrichten. Sie gingen nicht in die Dorfschulen, sie boten ihren ganz eigenen Unterricht an, in improvisierten Klassenräumen ihrer Privatunterkünfte. Sie lebten von den Gaben und Almosen, die ihnen die Eltern aus Dankbarkeit für ihre begeisterten Kinder zukommen ließen, und sahen ihren Auftrag darin, »Denkanstöße jenseits der herrschenden Normen« zu vermitteln. Sie brachten einen ganzen Kofferraum voller Bücher und etwas ebenfalls ganz Wunderbares mit: ein Fernsehgerät mit einem integrierten Videorekorder und eine Vielzahl an Videokassetten, die sie mit der Hand beschriftet hatten. Eine magische Welt wurde dort offenbar und zog die Kinder scharenweise an. Von alten Chaplinfilmen in raubkopierter, schlechter Qualität über Visconti bis zu knalligen Actionstreifen aus Hollywood – alles war dabei, sogar Bollywoodfilme. Vor jeder Vorführung wurde ein Vortrag über den jeweiligen Film gehalten und im Anschluss fand eine Diskussion darüber statt. In der Stunde vor der Filmvorführung erzählten sie den Kindern etwas über die Entstehungsgeschichte und die Schauspieler, über die jeweilige Epoche und die weltgeschichtlichen Ereignisse zu der Zeit. Nach der Vorführung mussten die Kinder ihre Eindrücke mitteilen. Und da reichte es nicht zu sagen, ob der Film ihnen gefallen hatte oder nicht, sie mussten argumentieren und miteinander debattieren. Es gab keine Kriterien, keine Doktrin eines guten Geschmacks, alles konnte gedacht und gesagt werden. Viele der Anwesenden fühlten sich von dieser Übung überfordert. Niemals zuvor war es ihnen erlaubt worden, ihre eigene Meinung zu äußern. Stets waren es die Adat-Gesetze, die ihr Leben regelten, stets waren es die Eltern und Großeltern, die Dorfältesten, die Partei und die Imame, die ihnen sagten, was sie zu tun und zu lassen hatten. Und nun waren da auf einmal zwei Zauberer, die sie in eine magische Wirklichkeit entführten, in der so viel erlaubt schien. Nicht alle kamen mit dem Freiraum klar, viele blieben nach ein paar Sitzungen weg oder die Eltern witterten Unheil und verboten es ihren Kindern, zu dem schrägen Paar zu gehen. Aber andere waren froh über die Begeisterung in den Gesichtern ihrer Sprösslinge und kümmerten sich nicht weiter um die Inhalte, die das Paar ihnen vermittelte. So oder so, die beiden würden wieder fortziehen, und ihre Kinder würden wortlos zu ihrem kargen und streng reglementierten Alltag zurückkehren, denn das war das Gesetz der Berge, das Gesetz der Ahnen, hier herrschte das jahrhundertealte Gesetz der Wainachen.

Aber in ihrem Fall war alles anders. Die Saat traf auf einen mehr als fruchtbaren Boden. Ein Unglück sollte sich für sie als pures Glück herausstellen. Natalia Iwanownas Mann starb plötzlich an einem Herzinfarkt, als sie gerade einmal ein paar Wochen in der Argun-Schlucht waren. Sie hatten eine kleine leerstehende Holzscheune am Rand des Hauptweges gemietet, und eines Abends fiel der bärtige, gutmütige Mann um, bevor Nura sich seinen Namen überhaupt hatte merken können. Natalia Iwanowna trauerte lange. Sie trauerte anders als die Frauen im Aul. Sie trauerte stumm und ohne feste Riten. Sie trauerte für sich allein. Die Dorfbewohner redeten darüber, aber keiner mischte sich ein, sie war keine Nochtscho, sie war eine Fremde, eine gottlose Sozialistin aus dem Norden, woher sollte sie schon wissen, wie man richtig trauerte, wie man einen Mann gebührend beweinte? Ja, ja, die Städter waren verkommen, sie waren vom Weg abgekommen, die Kommunisten hatten sie korrumpiert, aber es bestand Hoffnung – so flüsterten es die Alten –, seit kurzem gab es sie wieder, diese quälende Hoffnung, seit der Riese wie ein kranker Elefant umgekippt war, seit die Wainachische Demokratische Partei gegründet, seit die Unabhängigkeit ausgerufen worden war! Es gab Hoffnung, dass Allah dem Land erneut seinen Segen schenken würde!

Erst nach und nach wagte sich die fremde Frau ohne Kopfbedeckung wieder auf die staubigen Dorfstraßen, wie ein vom Rest der Schar abgekommenes Vögelchen irrte sie ziellos umher, kaufte ein paar Lebensmittel ein. Nura beobachtete sie aus dem Fenster, wie sie an ihrem Hof vorbeiging, und hatte ein Gefühl im Herzen, als würde es von innen zerreißen. Damals wusste sie so wenig über diese fremde Frau, die aus einer anderen Welt gekommen war, und doch fühlte sie sich so vertraut an, etwas an ihrer Art zu gehen, an ihrer Art, in die ungewisse Ferne zu gucken, etwas an ihrer Verlorenheit erinnerte sie an sich selbst, als hätte sie ihr Leben lang nach Wurzeln gesucht, ganz anderen Wurzeln, nicht denen, die in die Erde gingen, fest und hart, nein, nach solchen aus Gedanken und Empfindungen.

Einmal lief sie ihr heimlich hinterher, durch den alle Geräusche verschluckenden, hohen, provozierend weißen Schnee, fasziniert von dem, was diese Frau ausstrahlte und für das sie selbst keine Worte fand, etwas, das sie später als selbstgenügsam bezeichnen sollte. Diese Frau schien nichts und niemanden zu brauchen, sie war voll von etwas, ein Etwas, das man nicht sehen, aber spüren konnte, nur traurig war sie, weil sie einen geliebten Menschen verloren hatte, und zu gern hätte Nura erfahren, wie ihre Liebe gewesen war, ob ihr Mann auch einer war, der alles hatte, was er brauchte, und in ihr keine Notwendigkeit sah, sondern eine Bereicherung? In all den Monaten an der Seite von Natalia Iwanowna sollte es ihr nicht gelingen, ihr Geheimnis zu lüften, es war ihr nicht vergönnt, zu begreifen, wie sie so leben konnte, so ohne jede Bedürftigkeit. Wie alles, was sie tat, alles, was sie war, auf Freiwilligkeit basieren konnte. Aber irgendwann spielte es keine Rolle mehr …

Natalia Iwanowna blieb lange in der Schlucht, länger, als sie je zuvor irgendwo geblieben war, und genau das erwies sich für Nura als Glücksfall, als Rettung. Der Tod ihres Mannes stürzte Natalia Iwanowna in eine Krise. Als wäre ihr alles einerlei geworden, als hätte sie nur mit ihm zusammen den Sinn in dem finden können, was sie tat. Kinder gab es keine, feste Bindungen auch nicht. Ein Nomadenleben hatten sie gelebt, sich ergänzt, niemanden außer ihren Schülern gebraucht. Sie hätte nach Grosny gehen können oder nach Machatschkala, vielleicht nach Tbilissi oder Jerewan, irgendwie schien sie an den Kaukasus gekettet zu sein wie einst Prometheus, von dem sie Nura eines Tages erzählt hatte, bei einem Tee mit Honig und einer dünn geschnittenen Zitronenscheibe. Zu Leningrad, das mittlerweile wieder St. Petersburg hieß, wo sie geboren und aufgewachsen war, hatte sie keine Beziehung mehr, nichts lockte sie zurück. Die Berge waren ihr Zuhause geworden. Mit dem hellblauen Lada Niva waren sie einer vagen Sehnsucht folgend durch den Kaukasus gefahren, hatten die Heerstraße bereist, einem Gefühl oder vielleicht einer Hoffnung auf der Spur. Und nun gab es keinen Ort für Natalia Iwanowna, keine Sehnsucht, die stark genug wäre, um sich erneut auf den Weg zu machen durch die endlosen Weiten, denn das Ziel schien trüb, unscharf.

Und noch etwas brachte sie dazu, dass sie immer mehr den Rückzug suchte und sich immer weniger in die Berge traute – der mit der Ausrufung der Tschetschenischen Republik Itschkerien einhergehende Nationalismus. Seit Inguschetien der Russischen Föderation beigetreten war, Tschetschenien diesen Schritt aber verweigerte, wurde die Luft für sie immer dünner. Überall im Kaukasus wurden Stimmen laut, die die Welt in zwei Lager spalteten, in das der Freunde und das der Feinde, und zu Feinden wurden alle, die nicht das Gleiche wollten und forderten, überall wollte man nun für sich und unter sich sein, lange genug waren die ungebetenen Gäste da gewesen, jetzt, da die Sowjetunion zu Staub zerfiel und das gigantische Russland blind und wirr durch die Dunkelheit tapste, wollte man den Zeitpunkt nutzen und die ungebetenen Gäste endlich verabschieden.

Natalia Iwanowna hatte zeit ihres Lebens nirgendwo dazugehört, und nun konnte ihr dieser Umstand zum Verhängnis werden. Im Süden war schon Blut geflossen – in Georgien hatte es begonnen, in Armenien und Aserbaidschan hatte es sich fortgesetzt, und nun konnte man diesen metallenen Geruch auch hier im Norden riechen. Sie verkroch sich in der Scheune und fing an zu zaubern. Nun zauberte sie nicht mehr für die anderen, Kinder und Jugendliche, sondern für sich. Sie fantasierte, sie reiste durch das antike Griechenland und schwebte in pompösen Kleidern und mit turmhohen Perücken durch Versailles und Fontainebleau. Sie war Herrin über ganze Welten, die sie in ihrer Vorstellung erschuf. Da sie keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, unterrichtete sie die Kinder nur noch gelegentlich in Russisch, da Russisch im letzten Jahr vom Lehrplan der Schulen gestrichen worden war, manche Eltern aber weiterhin darauf beharrten, dass ihre Kinder die Sprache beherrschen sollten. Ihre »Denkanstöße« und Vorträge ließ sie von diesem Zeitpunkt an sein. Bis sie aufeinandertrafen und Natalia Iwanowna, als wäre sie vom Leben geküsst worden, aus ihrem Winterschlaf erwachte.

Das erste Treffen war eines der knappen, leisen Worte, passend zu dem kniehohen Schnee und doch gleich einer Initiation, die Einweihung in eine Zauberei. Nura war wieder einmal zu der Scheune geschlichen und wie eine streunende Katze um das Haus herumgelaufen, in der Hoffnung, aufgespürt, entdeckt zu werden. Und sie wurde entdeckt.

– Komm doch rein, meine spärliche Behausung scheint dich ja regelrecht anzuziehen!

Das war das Einzige, was sie zu ihr sagte, als sie die Tür öffnete. Natalia Iwanowna saß bei einer dampfenden Tasse Tee an einem kleinen Beistelltisch, den sie als Esstisch nutzte, und starrte mit ihren hellblauen Augen und dem Ausdruck höchster Konzentration durch die auf ihrer Nasenspitze sitzende Brille auf einen bunten Würfel, wie ihn Nura noch nie gesehen hatte. Er wirkte wie ein Spielzeug für Erwachsene.

– Was ist das?

– Das ist ein Kubik-Rubik, ein sogenannter Zauberwürfel, kurzum: ein Drehpuzzle. Kennst du ihn nicht?

– Nein.

– Ja, vielleicht ist es besser so, ich beiße mir an diesem dummen Ding die ganze Zeit die Zähne aus.

– Wieso?

– Ich kriege es einfach nicht hin, egal was ich tue, es will mir nicht gelingen. Mein Mann hat mich deswegen schon so oft ausgelacht, er meinte, ich würde aussehen, als müsste ich das Geheimnis des Lebens lösen, aber irgendwie habe ich an diesem Ding einen Narren gefressen, aber es klappt und klappt nicht. Vielleicht gelingt es dir ja, sagte sie und reichte ihr den bunten Würfel.

Es war wie nach Hause kommen. Es war vertraut, auch wenn auf eine unbegreifliche, unlogische Weise. Der Zauber war allgegenwärtig. Und jeden Abend, wenn sie heimkam und sich die zornigen Blicke ihrer Cousins und die vorwurfsvollen Sätze ihrer Mutter wie eine Lawine über sie ergossen, fragte sie sich, wie sie ohne all dieses Wissen, ohne all dieses Können bisher hatte leben können. Es war Glück, pures Glück, das sie in dieser einfachen Scheune antraf. Und das Aufregendste war, dass sie auch das Vertraute und teils Verhasste durch Natalia Iwanownas Augen anders zu begreifen und sogar schätzen lernte. Dank ihr verliebte sie sich in die Schlucht und in den unzähmbaren Fluss. Sie wurde versöhnlich gegenüber der Vergangenheit und übte sich in Vergebung.

Ja, sie musste ihm vergeben, Vater, eine Bezeichnung, die sie seit seinem Fortgang nicht mehr in den Mund genommen hatte, als würde sich ihre Zunge an den Buchstaben verbrennen. Das Wort war gelöscht worden, aus der Wirklichkeit, aus der Gegenwart, als hätte es nie einen gegeben, auch wenn Mutter nichts anderes tat, als ihm nachzutrauern, auch wenn das ganze Dorf nichts anderes tat, als sich monatelang die Mäuler über ihn zu zerreißen.

Und manchmal, da hasste sie ihre Sehnsucht, weil sie Angst hatte, es könnte sein Erbe sein, das in ihren Adern floss. Und dann würde es sich eines Tages vielleicht gar nicht als Sehnsucht entpuppen, sondern als ein Fluch. Wäre sie demnach auch dazu verdammt, stets die Suchende zu bleiben, getrieben und nie zufrieden, unfähig zum Glück? Er hatte nicht anders gekonnt, das ahnte sie und hasste sich, dass sie jetzt noch versuchte, eine Entschuldigung für ihn zu finden. Er hatte es hingenommen, seine Familie durch sein Handeln zu Aussätzigen zu machen. Wie stark musste der Fluch sein, dass er nicht anders konnte, als zu tun, was er getan hatte? Ja, Schande hatte er über die Seinen gebracht und blieb verschwunden, hatte sich aus jeder Verantwortung gezogen.

Die Jahre davor waren eine einzige Aneinanderreihung von Peinlichkeiten gewesen. Und dieses Desaster mit den Schafen! Als Mutter feststellte, dass seine »Verrücktheiten« wiedergekommen waren, beschloss sie, ihm unendlich viele Aufgaben aufzuladen, damit ihm keine Zeit für seine »Absonderlichkeiten« blieb. Sie hatten nie Schafe besessen, Pferde ja, Hühner sowieso, aber nie Schafe. Also beschloss sie, er solle eine Schafherde beaufsichtigen und sie in die Hochebene treiben, wo es wenig Ablenkung gab, wenig, was er kaputt machen konnte. Er erwiderte zu Beginn nichts, was sie als Erfolg verbuchte, aber keine zwei Wochen später hatten sich die meisten Schafe in der Hochebene verirrt und manche waren gar in Schluchten gestürzt. Auf die allgemeine Empörung hatte er nur erwidert, dass es der freie Wille der Tiere gewesen sei. Es war der Anfang vom Ende gewesen. Bis zu seinem Verschwinden folgte für Mutter eine unerhörte Peinlichkeit nach der anderen. Und sie überlegte zwischendurch sogar, ihm eine jüngere Frau zu suchen, eine inoffizielle, aber geduldete Mitgestalterin seines Glücks, aber es sollte nicht mehr dazu kommen. Er ging fort und ließ sie mit ihren Erinnerungen und ihrer Pein allein. Und diese Erinnerungen waren nicht so leicht zu löschen, die Jahre, die sie an seiner Seite verbracht, und drei Kinder, die sie von ihm bekommen hatte, nichts davon konnte sie ungeschehen machen. Immerzu musste sie in Sorge leben, dass ihre Kinder etwas von ihm abbekommen, dass sie auch »verrückt« werden, tagelang schweigen oder wochenlang in einer Berghöhle übernachten würden. Sie selbst war schon immer eine Frau, die nach den Adat-Gesetzen lebte, die auch im Sozialismus und in der Kolchosära beten gegangen war. Ja, sie war eine, die sich am meisten vor dem fürchtete, was ihre mittlere Tochter sich am meisten ersehnte: anders zu sein, auch wenn man dadurch bei der Gemeinschaft in Ungnade fiel.

Der erste Skandal, so erzählte man sich, hatte sich gleich in den ersten Monaten ihrer Ehe, als ihre Mutter mit Malika schwanger gewesen war, ereignet – als er eines Tages splitterfasernackt im Fluss baden ging und bei der Dorfmiliz landete. Die Geschichte, wie er auf dem Geburtstag seines Schwiegervaters vom Onkel seiner Frau verprügelt worden war, erzählte man sich noch immer als lustige Anekdote. Es hatte eine hitzige Diskussion mit dem engstirnigen Onkel gegeben – und da hatte jeder eine andere Version gehabt, um welches Thema es damals gegangen war, von Völkerumsiedelung bis Breschnew bis zu einer bestimmten Schafzüchtung war alles dabei gewesen –, und da hatte er auf einmal begonnen, den Onkel mit Essen zu bewerfen, Brot und Käse, alles flog dem alten Mann an den Kopf. Was sich für Mutter als am schlimmsten erwies, war die Tatsache, dass sie all das und noch viel mehr erduldet hatte, nur um am Ende zur Aussätzigen des Auls zu werden und mit leeren Händen dazustehen, und doch nicht sagen konnte, ihre Opfergaben, ihre Engelsgeduld, ihre schier unmenschliche Ausdauer hätten sich ausgezahlt. Diese Ungerechtigkeit raubte ihr seit seinem urplötzlichen und wortlosen Fortgang den Schlaf, kanalisierte ihre über die Jahre so zerstreute und hilflose Wut.

Der Nebel sank tiefer hinab. Wie eine Schlange wand er sich durch die Felsen der Schlucht. Hoffentlich würde sie es vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause schaffen. Die Nacht versprach eisig zu werden. Der Frost würde nach dem Nebel kommen, aber er würde kommen und gnadenlos sein. Vor dem Haus der Osmajews blieb sie stehen, sie hörte hinter sich Geraschel und drehte sich erschrocken um.

– Du bist doch sonst immer so mutig, jetzt machst du dir in die Hose, was?

Es war Musa, der Störenfried. Sie atmete erleichtert auf, und zugleich spannte sich ihr ganzer Körper an. Er kam ihr nah, näher, als es der von den Ahnen festgelegte Abstand zuließ, es war der Nebel, der ihn übermütig machte. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Und irgendwie hatte er es auf sie abgesehen. Jeder Papierball, den er warf, galt ihr, jedes Ziehen musste das Ziehen an ihrem Zopf sein, jeder Witz über die Mädchen musste in ihrer Abwesenheit gesprochen, jeder Streich vor ihren Augen ausgeführt werden. Seit sie ganz klein waren und auf Familienfesten im Hof zusammen gespielt hatten, konnte er es nicht lassen. Er war flink und redegewandt, sicherlich galt er als ein vielversprechender Bräutigam, zumal sein Vater die größte Molkerei der ganzen Schlucht besaß und seit der Privatisierung viel Geld angehäuft hatte. Musa war in die Höhe geschossen, nahezu einen Kopf größer stand er vor ihr, kräftig und voller Tatendrang, mit einer zittrigen Unruhe in den Gliedern, als wäre es ihm unmöglich, still zu stehen, als wäre die ständige Bewegung sein natürlicher Zustand, er wippte mit dem Oberkörper hin und her und trat von einem Fuß auf den anderen und machte sie ganz unruhig und wirr.

– Wegen dir mache ich mir ganz bestimmt nicht in die Hose. Was treibst du dich hier rum? Hast du nichts Besseres zu tun, als Mädchen aufzulauern?

– Ich lauere niemandem auf. Du stehst vor meinem Haus, ich kann hier machen, was ich will, das ist mein Bereich.

Er zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche und nahm sich gleich zwei Zigaretten heraus. Auch das traute er sich nur, weil keine Erwachsenen in der Nähe waren und ihn der Nebel von ungebetenen Blicken abschirmte. Die eine steckte er sich hinters Ohr und die andere zwischen die Lippen. Das Aufleuchten der Feuerzeugflamme erzeugte eine kurze Illusion von Geborgenheit und Wärme, die ihr gut gefiel.

– Ich muss nach Hause, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Musa. Sie hatte noch eine weite Strecke vor sich, und der Himmel war bereits vom Nebel verschluckt worden.

– So ängstlich bist du, soll ich dich begleiten, was? Nicht dass dich einer klaut, erwiderte er und lachte laut und dreckig, wie es seit eh und je seine Art war. Ein Lachen, als hätte er etwas Verbotenes im Kopf.

– Nein, nicht nötig, danke.

– Komm schon, es sind keine guten Zeiten für ein Mädchen, um so spät am Abend umherzulaufen.

– Wieso das denn?

Einerseits fand sie den Gedanken angenehm, sich den Weg nicht alleine durch die Dunkelheit bahnen zu müssen, andererseits war ihr Musas Nähe nicht ganz geheuer. Erst beim Glühen der Zigarette erkannte sie, dass er sich einen Bart wachsen ließ, der noch nicht so dicht gelingen wollte wie erwünscht. Sie musste schmunzeln.

– Na ja, es treibt sich in letzter Zeit alles Mögliche an Gesindel in unserer Gegend herum. Ungläubige und Gotteslästerer.

Diese Worte klangen aus seinem Mund etwas befremdlich; ihr fiel ein, dass Mutter und ihre Cousins erzählt hatten, dass Musa sich im Gemeindezentrum sehr stark für den Bau der neuen Moschee einsetzte und sein Vater den Großteil des Baus finanzieren wollte. Sie konnte den leichtsinnigen, albernen, zappeligen Musa nicht mit einem gottesfürchtigen und streng gläubigen Moslem in Verbindung bringen. Sie setzte sich in Bewegung und ärgerte sich darüber, dass sie nicht auf Mutter gehört hatte und keine Taschenlampe dabeihatte. Sterne waren nicht da, um ihr den Weg auszuleuchten, überhaupt schien alles verschwunden, verschluckt von dem dichten Nebel und der so urplötzlich hereingebrochenen Dunkelheit. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Eine ungewohnte Spannung lag in der Luft, die sie sich nicht anders erklären konnte als durch das Wetter. Musa folgte ihr stumm.

– Wirklich, vielen Dank, aber ich laufe lieber alleine …

– Ich muss dich nach Hause bringen, ich bin es deiner Mutter schuldig.

– Warum das jetzt?

– Ihr ist schon genug Unglück geschehen!

Der Satz hatte einen bitteren und frostigen Beigeschmack. Sie wollte etwas erwidern, aber sie hatte keine Kraft. Sie wollte nichts mehr rechtfertigen, erklären, niemanden in Schutz nehmen. Es war ihr egal, was in der Vergangenheit gewesen war, es war ihr egal, was Vater für Probleme hatte, es war ihr egal, wohin er gegangen war, es war ihr egal, wie beschämend all das für Mutter war, sie wollte nicht mehr zurückschauen müssen, sie wollte nach vorne blicken, sie wollte ihren Blick über die Ränder dieser Welt richten. Schweigend liefen sie am Gemeindezentrum und an dem ehemaligen Gastronom vorbei, es herrschte gespenstische Stille, die Laute, die Geräusche, sogar das Atmen schien dieser verdammte Nebel zu fressen, als wäre er nicht satt, bis er die ganze Welt aufgegessen hätte.

– Du solltest dir langsam ein Tuch zulegen, sagte er, immer noch ein paar Schritte hinter ihr, und sie fühlte sich auf eine merkwürdige Art ertappt, als hätte er etwas gesehen, was nicht für seine Augen bestimmt war. Sie zupfte aus Verlegenheit an ihrem Mantel.

– Was ist mit dir los?

Sie konnte sich nicht weiter beherrschen, der Vorwurf, der lauter geriet als gewollt, huschte ihr einfach so über die Lippen.

– Was soll denn das heißen, was mit mir los ist … ich … ich …

Plötzlich fing er an zu stammeln, als hätte er sich an seinem eigenen Gedanken verschluckt. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm ins Gesicht. Sie erriet mehr, als sie sah, und dennoch konnte sie seine Angst spüren, oder war es etwas anderes, das man fast riechen konnte, war es Scham? Und er beugte seinen Kopf, brachte sein Gesicht plötzlich so nah an ihres, dass sie vor Schreck erstarrte, kein Junge, kein Mann war ihr bislang so nahe gekommen, auch dies verboten die Ahnen, und sie wusste nicht, was er vorhatte, und war hin- und hergerissen zwischen Neugier und Abscheu. Würde er sich trauen? Würde er seinen feuchten Mund, seine vollen Lippen auf die ihren legen, und würde er genauso schmecken wie Juan Carlos del Villar Montenegro? Wollte sie es überhaupt? Wollte sie ihren ersten Kuss von Musa Osmajew erhalten? Hatte sie nicht stets von etwas Aufregendem geträumt? Aber irgendwie fing ja jeder an, auch María hatte irgendwie angefangen. Sie verharrte so, in Erwartung, ihr drehte sich der Magen um, es fühlte sich so an, als führe sie Karussell. Aber im gleichen Augenblick hörte sie die schweren Flügel eines großen Vogels die Luft durchschneiden und schreckte zurück. Musa hatte den Kopf nach oben gerichtet, und sie wusste bereits, dass er seinen sehnlichsten Wunsch in die Knie gezwungen und gezähmt hatte, jetzt würden sie wieder wortlos den Weg fortsetzen.

Vielleicht war es ein Gänsegeier. Vielleicht auch ein fremder schwarzer Vogel, der Unglück witterte, wie in den Geschichten, die manchmal die Alten erzählten. Da gab es immer einen schwarzen Vogel, der herbeigeflogen kam, wenn etwas Unheilvolles im Gange war, eine Art Warnsignal, das dann aber niemand hörte und niemand sah, außer der zur Tatenlosigkeit verdammte Erzähler.

– Musa …, sie sprach seinen Namen aus, und plötzlich hatte er einen ganz anderen, einen bedrohlichen Klang. Die vier Buchstaben sprangen ihr nicht mehr so locker von der Zunge.

– Also …, setzte er an und entfernte sich schlagartig von ihr, als gelte es von nun an, immer eine vorgegebene Distanz zwischen ihren Körpern einzuhalten. Also, wenn die Moschee fertig ist, dann fang ich mit dem Hausbau an.

– Welchem Hausbau?

Sie setzte sich wieder in Bewegung, es war leichter so, er lief hinter ihr.

– Meinem.

– Ach so?

– Ja, unten am Fluss, direkt am Hang, dort ist die fruchtbarste Erde. Dort, wo früher der alte Pankow lebte.

– Wo ist der denn hin?

– Ist doch egal.

– Nein, ich würde es gerne wissen; wo du seinen Namen erwähnst, fällt er mir wieder ein, ich habe so lange nicht mehr an ihn gedacht. Wie oft wir damals in seinen Garten geklettert sind und die Birnen geklaut haben, erinnerst du dich?

– Ja, natürlich.

– Völlig idiotisch, ich meine, auch bei uns im Garten gab es Birnen, aber seine schmeckten besonders gut, zumindest bildeten wir es uns ein, stimmt’s?

– Ja. Irgendwie schon.

Plötzlich war die Leichtigkeit jener Tage wieder da, sie konnte sie in ihrem Körper spüren, wie gerne sie auch Musa davon etwas abgegeben hätte, wie gerne sie ihm die Zunge rausgestreckt, ihn geschubst, mit ihm um die Wette gerannt wäre. Aber sie hatte in den letzten Jahren gelernt, der Welt mit Misstrauen zu begegnen. Sie konnte nicht mehr unüberlegt handeln, das war wohl der Preis des Erwachsenwerdens.

– Und wie gut er mit den Tieren war. Er konnte alle Tierkrankheiten heilen.

– Na ja.

– Nein, wirklich, er war der beste Tierarzt der Region. Und erinnerst du dich, wie gerne er die Lesginka tanzen wollte und es nie richtig hingekriegt hat?

– Russen können keine Lesginka tanzen, sie haben es nicht im Blut.

– Wieso sagst du das?

– Was?

– Ich meine, er war so nett zu uns, wieso machst du ihn schlecht?

– Ist doch egal. Ich wollte was anderes …

– Nein, ist nicht egal! Du sollst ihn nicht schlechtmachen.

– Tue ich doch gar nicht. Ist ja gut.

– Nein, machst du sehr wohl. Und genau aus dem Grund ist auch Natalia Iwanowna weggegangen. Weil sie alle nur noch angestarrt haben, als hätte sie die Pest.

– Du meinst die verrückte Russin aus der Scheune?

– Sie war keine verrückte Russin, sie war meine Freundin!

– Sie war komisch.

– Du kanntest sie überhaupt nicht.

– Ist ja gut, jetzt beruhige dich.

– Nein, ich will mich nicht beruhigen, ich bin es leid … Woher weißt du das immer? Woher willst du immer wissen, was richtig und falsch ist, was gut und was schlecht ist? Zweifelst du nie, dass du vielleicht im Unrecht sein könntest?

– Wieso sollte ich?

– Weil du auch nur ein Mensch bist.

– Ist dir eigentlich klar, was die Russen mit uns gemacht haben? Ist dir klar, dass deine Großmutter und mein Großvater 1944 mit einer halben Million Nachtschi nach Kasachstan deportiert wurden und erst nach Stalins Tod zurückkehren durften? Ich meine alle, er wollte sie alle weghaben, das musst du dir mal vorstellen! Seit Jahrhunderten wollen sie uns am liebsten ausrotten, sie haben uns unserem Gott abschwören lassen, sie …

– Musa, aber das haben doch nicht Pankow oder Natalia Iwanowna gemacht?

– Das spielt keine Rolle. Sie sind zu uns gekommen, haben sich genommen, was uns gehörte, haben sich hier breitgemacht, haben uns eingeredet, wir wären Menschen zweiter Klasse, aber jetzt sind wir dran. Wir lassen uns nicht mehr unterjochen. Wir sind ein Kriegervolk, darauf müssen wir uns wieder besinnen, müssen uns erinnern, wer wir sind und woher wir kommen und dann …

– Und dann?

– Dann sind wir an der Reihe.

Wie zwei Blinde bahnten sie sich den Weg durch die Dunkelheit, sie erreichten die Metzgerei und bogen nach links ab, Richtung Bushaltestelle, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden war, passierten dann die Wehrturmruinen, von da aus würden sie auf die Hauptstraße gelangen, dort gab es ein paar Laternen, die aller Wahrscheinlichkeit nach funktionierten, und ab da, hoffte sie, würde sie alleine weitergehen können. Er hatte wieder abrupt aufgehört zu reden, als hätte er den Faden verloren, aber ihr war es nur recht, sie verstand ihn nicht, sie wollte ihn nicht verstehen, sie wollte nicht schon wieder alles der Vergangenheit unterordnen, sie wollte nichts von Taips und Adat hören.

– Ich werde dort mein Haus bauen. Und dann …

Sie brauchte einen Moment, bis sie verstand, wovon er sprach, bis sie sich daran erinnerte, dass er etwas von fruchtbarem Boden erzählt hatte. Sie drückte den Stoffsack mit dem Mehl gegen die Brust und beschleunigte den Schritt.

– Wieso willst du denn ausziehen? Ich meine, euer Haus ist doch groß genug, fragte sie eher aus Höflichkeit, nicht weil es sie wirklich interessierte.

– Weil ich heiraten werde und meine Brüder im Haus bleiben sollen.

– Heiraten? Du?

Irgendwie wirkte dieser Gedanke absurd, sie sah den stets unruhigen, zappeligen kleinen Jungen, der zufällig in den Körper eines Mannes geraten war, der immer Blödsinn im Kopf hatte, alle Jungs aus dem Dorf zu verschiedenen Streichen anstiftete und alle Mädchen ärgerte, und ausgerechnet der wollte nun eine Familie gründen? Das erschien ihr vollkommen unpassend, und sie lachte auf. Er blieb stehen. Sie hatte ihn gekränkt.

– Ist ja gut, sei doch nicht gleich beleidigt. So habe ich das nicht gemeint. Und wer soll die Glückliche sein?

– Du.

Zuerst entfuhr ihr ein weiteres Lachen, aber bevor sie zu Ende lachen konnte, verstummte sie und machte ein Gesicht wie ein Fisch an Land, mit offenem Mund, nach Luft schnappend. Zum Glück war es dunkel, zum Glück war er einen Schritt vorausgegangen.

– Mein Vater wird nächste Woche mit deiner Mutter reden.

Er sprach leise, aber klar, bedacht, als hätte er all die Worte bereits oft genug geübt.

– Das ist vollkommen unnötig, unterbrach sie ihn und eilte voran, überholte ihn und beschleunigte immer mehr den Schritt, bis sie fast rannte.

– Hey, warte … Was heißt denn unnötig?

– Ich werde dich nicht heiraten. Ich werde überhaupt nicht heiraten. Ich ziehe weg.

– Wie? Wohin?

– Erst mal vielleicht nach Grosny. Ich muss nur ein paar Wochen warten, bis ich achtzehn werde, und dann …

– Aber, aber …, stammelte er. – Das geht nicht.

– Wieso geht das nicht?

– Das gehört sich nicht. Außerdem wird deine Familie …

– Das spielt keine Rolle.

Sie lief weiter, und plötzlich schien die Dunkelheit gar nicht mehr so gefährlich, im Gegenteil, sie bot ihr Schutz und nahm sie in ihre Obhut. Sie rannte und rannte in Richtung Hauptstraße und hörte Musa schnaufend hinter sich herrennen.

– Nura, warte, Nura!

Früher war er schneller gewesen, dass er sich jetzt schwer damit tat, sie einzuholen, zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen, das er nicht sehen konnte. Entweder er war langsamer geworden, oder sie hatte gelernt, mit dem Wind Schritt zu halten.

– Aber ich liebe dich!, hörte sie ihn auf einmal nahezu schreien, und die Worte hallten noch lange nach.

Sie blieb stehen. Etwas in ihr zog sich zusammen. Etwas riss ab. Er tat ihr leid, und zugleich freute sie sich über das Geschenk, das er ihr machte, auch wenn sie es nicht annehmen konnte und wollte. Sie war froh, dass er etwas sagte, das von ihm kam und nicht angelernt war, das nicht vorbestimmt und durch die Ahnen diktiert wurde. Sie empfand so etwas wie Dankbarkeit und hätte ihm um ein Haar einen Kuss auf die Wange gedrückt, aber nein, das könnte falsch gedeutet werden. Das Schwierigste im Leben, so verriet es ihr einmal Natalia Iwanowna, sei die große Mühe, die man aufwenden müsse, um im Alltag nicht man selbst zu sein.

– Danke.

Sie wusste nicht, wieso sie sich bedankte, auch begriff sie, dass das Wort zu dieser Situation überhaupt nicht passte und Musa sich darüber ärgern würde, aber ihr war nichts Besseres eingefallen.

– Hast du mir zugehört?

Jetzt mischte sich Wut in seine Stimme.

– Ja, habe ich, und das ist schön, aber ich werde dich trotzdem nicht heiraten. Ich muss jetzt wirklich heim, meine Mutter wird sich Sorgen machen, und ich will nicht, dass sie einen meiner idiotischen Cousins losschickt, um mich zu suchen.

– Du solltest nicht so reden …

– Wie so?

– So arrogant.

– Das ist nicht arrogant. Das ist ehrlich.

Auf der Hauptstraße war es tatsächlich heller, obwohl das Laternenlicht nur wenige Meter weit reichte, aber immerhin sah sie plötzlich wieder, wo sie war, erkannte die Umgebung, den Boden unter ihren Füßen. Die Umrisse der Wehrturmruinen waren ebenfalls zu erahnen. Sobald sie sich ihnen näherte, hörte sie ihre Klassenlehrerin mit der piepsigen Stimme sprechen: »Die Kaukasischen Wehrtürme dienten in den Bergregionen des Nordkaukasus als Wachtürme und zur Verteidigung von Familienverbänden sowie als Zuflucht im Angriffsfall, Mynaev, die Hand aus der Nase, sofort …«

Der Nebel begann sich zu lichten.

– Das gehört sich so nicht, sagte er, und seine Stimme zitterte, er beherrschte sich, seine Wut war der Enttäuschung entwachsen.

– Ich weiß. Alles, was glücklich macht, gehört sich nicht. Ich aber, Musa, ich will … Ach, egal.

Sie wollte nichts mehr sagen, es war eh einerlei, er würde sie nicht verstehen. Er war ein guter Junge, ein kleiner Draufgänger, einer, der nicht zweifelte, einer, der seine Welt nicht hinterfragte, einer, der sich mit allem, was er im Leben vorfand, zufriedengab, außer … außer vielleicht mit den Russen und der Gottlosigkeit, die sie ins Land gebracht hatten, wie es sein Vater immer predigte.

Aber es gab nichts zwischen ihnen zu klären, zu sagen. Sie wünschte ihm alles Gute, sie wünschte sogar seinem grimmigen Vater alles Gute, der vorhatte, mit ihrer Mutter zu sprechen, um die Ehe seines Sohnes zu arrangieren, und wahrscheinlich würde sich Mutter darüber sogar freuen, immerhin galten die Osmajews als wohlhabend und Musa als eine gute Partie, aber … Ja, es gab dem nichts mehr hinzuzufügen.

– Bitte kehr jetzt um. Es ist nicht mehr weit. Ich möchte den Weg alleine gehen.

Plötzlich, wie ein beleidigtes Kind, widersetzte sich Musa nicht mehr, er widersprach ihr nicht einmal, er blieb an der Hauptstraße im schummrigen Laternenlicht einfach stehen. In seiner Lammfelljacke, die er bestimmt gemeinsam mit seinem Vater in Grosny oder Machatschkala auf dem Schwarzmarkt für viel Geld ersteigert hatte, denn schließlich waren diese Jacken in letzter Zeit zum Symbol des Wohlstands und des Ansehens geworden.

Sie setzte ihren Weg fort, immer weiter, dem Flussrauschen nach, die Kieselsteine mit den Füßen zur Seite kickend.

– Mach’s gut, Musa, und sei mir nicht böse!, rief sie in die Dunkelheit, ohne sich noch einmal umzudrehen, und als sie schon fast aus seinem Blickfeld verschwunden sein musste, hörte sie ihn etwas rufen. Den Anfang hatte sie nicht mehr hören können, aber die letzten Worte lauteten: – … Frau werden.

Vielleicht stimmte es, und vielleicht hatte Natalia Iwanowna doch recht, als sie einen Grund für Vaters Verschwinden suchte und eine Theorie entwickelte. Das einzige Mal, dass sie ihr nicht zu Ende zugehört hatte, sondern aus der Scheune gestürmt war, ohne ihr Tschüs zu sagen, das war am gleichen Tag, an dem Vater verschwunden war und sie Natalia Iwanowna tränenüberströmt aufgesucht hatte:

– Ich … ich … Er ist einfach verschwunden. Er ist weg. Er kommt nicht wieder, ich weiß, er ist weg … alle Sachen mitgenommen, wir haben alles abgesucht und …

Sie stammelte und schluchzte.

– Wer? Was ist los? Beruhige dich bitte, setz dich, ich mache dir einen Tee.

Immer dieser Tee, als liege in dem heißen Getränk die magische Kraft, alles erdulden zu können.

– Mein Vater … er hat uns verlassen.

– Was ist passiert?

– Er sollte nach Gudermes fahren, er hatte einen entzündeten Zahn und sollte dort zu einem Spezialisten … und er ist nicht wiedergekommen. Und dann haben wir nachgeschaut, und alle Sachen von ihm waren weg. Und mein Onkel und meine Cousins sind ihn suchen gefahren, aber er ist überhaupt nicht nach Gudermes … er ist dort nie angekommen …

Nachdem sie sich lange genug die Seele aus dem Leib geweint und drei Tassen Tee getrunken hatte, nachdem sie alles doppelt und dreifach gesagt hatte, was es zu sagen gab, und wie eine Detektivin alles über den Morgen seines Verschwindens genauestens rekonstruiert hatte, ergriff Natalia Iwanowna das Wort und begann, nach Gründen für seinen Fortgang zu suchen. Das erschien Nura in dem Augenblick als eine Verhöhnung, sie wollte nichts von einem oder mehreren Gründen wissen, es könnte schlichtweg keinen Grund geben, dachte sie, der sein Verhalten rechtfertigen würde. Es gab keine Entschuldigung. Es sollte keine geben. Und so wollte sie auch nichts von Natalia Iwanownas kruden Theorien wissen. Die Nachsicht, das Akzeptieren der Leerstelle, die der Vater hinterließ, kam erst später, in den Wochen und Monaten danach, aber an jenem Tag wollte sie ihn einfach nur hassen. Und dass Natalia Iwanowna das nicht einsehen wollte, kam ihr unverzeihlich vor.

– Vielleicht ist es manchen Menschen nur vergönnt, im Widerstand glücklich zu werden, sagte Natalia, und noch vieles anderes, vieles hatte sie zu erklären versucht, die Motive für seine Unfähigkeit, Teil seiner Umgebung und der Gemeinschaft zu werden, in die er hineingeboren worden war. Aber damals hatte sie von all dem nichts wissen wollen. Jetzt aber, wo sie die Schritte verlangsamend der Einladung des Flusses folgte und sich dem Rauschen hingab, sich fallen ließ, die Gedanken abschüttelte, überlegte sie sich, ob es ebenfalls ihr Erbe war, Widerstand zu leisten, immer und überall. Etwas an diesem Gedanken machte sie traurig, aber sie würde nicht nachgeben, der Traurigkeit keinen Raum geben, sie würde mit jedem Schritt, den sie auf dem Nachhauseweg tat, alle lästigen und unnützen Gedanken abschütteln und leer und leicht ankommen.

Im gleichen Augenblick hörte sie ein Auto hupen, aus der Ferne ertönte ein Ruf, eine Männerstimme. Sie sah sich um, aus der Richtung des Auls kam ein Auto angefahren, nein, es waren zwei, plötzlich ging das Hupen in einen ununterbrochenen und enervierenden Lärm über, dann wieder Rufe. Sie blieb stehen und versuchte, in der Ferne etwas zu erkennen, um den Grund für die unangenehme Unruhe zu erraten, aber leider war es ihr nicht möglich, das Gedränge und der Lärm ergaben keinen Zusammenhang, keinen Sinn. Sie versuchte, weiterzugehen, aber jetzt näherte sich auch von der anderen Seite ein Wagen mit übertriebener Geschwindigkeit, ein schmutziger Geländewagen raste an ihr vorbei. Aus dem Fenster ragten Fahnen der Tschetschenischen Republik Itschkerien, und junge Männer in Armeejacken grölten irgendwas von den Rücksitzen. Zwei weitere Autos, diesmal alte Ladas, folgten, auch sie hupten ununterbrochen, und die Männer, die darin saßen, schrien irgendwelche Parolen und patriotische Slogans. In wenigen Sekunden war die gewohnte Ruhe der Schlucht durch einen undurchdringlichen, fremdartigen Lärm und einen hektischen Aufruhr durchbrochen.

Sie versuchte, die Gesichter zu erkennen, aber ohne Erfolg, es war zu dunkel, auch blendeten sie die Autoscheinwerfer. Sie trat zur Seite und hoffte, die irritierende Karawane möge schnell vorbeiziehen. Aber das Gegenteil war der Fall: Wie eine Ameisenarmee tauchten von überallher immer mehr Autos auf und rasten durch die Schlucht. Sie fragte sich, ob irgendwo ein Fest stattfand, eine opulente Hochzeit im Nachbardorf vielleicht, aber die Fahnen, das Gegröle und die Überzahl an jungen Männern – all das war verdächtig, nichts davon erinnerte an ein Fest. Aber die Stimmung, die aufkam, hatte etwas Elektrisierendes, Rauschhaftes, für einen Augenblick ließ sie ihren Blick umherschweifen: Das Spiel der Scheinwerfer, das Auf- und Abtauchen der Lichter hatte etwas Unwirkliches an sich, begleitet von dem immerwährenden, gleichstarken Rauschen des Flusses.

Plötzlich hörte sie jemanden ihren Namen rufen, sie schreckte zusammen und begann, nach dem Rufenden Ausschau zu halten, aber es waren mittlerweile so viele Autos, fast eine Kolonne hatte sich gebildet, eine Kolonne, die um die Wette raste. Sie kniff die Augen fest zusammen und drehte ihren Kopf hin und her, hielt den Mehlsack immer fester an sich gedrückt.

– Nura, Nura!, brüllte es durch das Meer aus Motoren und Reifengeräuschen, durch das Hupen, das Geschrei und sogar den Gesang. Zuerst dachte sie an Musa, dass er mit dem Wagen seines Vaters zurückgekehrt war, um sie nach Hause zu begleiten, dann aber erkannte sie die kratzige Stimme Rustams, ihres ältesten Cousins, und wusste nicht, ob sie Erleichterung oder Enttäuschung empfinden sollte. Er war im gelben und klapprigen 06 seines Vaters unterwegs und hatte die Fensterscheibe heruntergekurbelt. Erstaunlicherweise war er ohne seine idiotische Gefolgschaft an testosterongesteuerten Brüdern und Freunden unterwegs.

– Steig ein, steig schnell ein!, schrie er durch das offene Wagenfenster und kam quietschend am Straßenrand zum Stehen. Sie hüpfte schnell auf den Beifahrersitz, und bevor sie die Tür zugemacht hatte, fuhr er davon.

– Ich suche dich schon seit über einer halben Stunde! Bist du irre, wieso nimmst du die Hauptstraße?

Er wirkte aufgewühlt, er zündete sich eine Zigarette an, obwohl er vor seinem Vater nicht rauchte und es das Auto seines Vaters war. Typisch Rustam, einfach nicht nachdenken, schoss es ihr durch den Kopf, und sie freute sich über die Wärme, die sie im Wagen vorfand.

– Was ist denn los? Warum suchst du mich? Nana wusste doch, wo ich bin …

– Hast du denn nichts mitbekommen?

Sie schüttelte den Kopf, im gleichen Augenblick schaltete er das Autoradio ein. Erst kam das bekannte Rauschen, hier in der Schlucht war es gar nicht so einfach, eine saubere Frequenz zu finden, nicht selten sah man improvisierte, verbogene, zusammengeklebte Antennen, die man mühevoll bei der ewigen Suche nach einem gut hörbaren Sender zusammenmontiert hatte.

Zwei Geländewagen kamen ihnen mit hoher Geschwindigkeit entgegen, Rustam verlangsamte und lehnte sich aus dem Fenster.

– Salam alaikum, Bruder!, schrie einer.

– Maschallah, entgegnete Rustam.

– Freiheit dem tschetschenischen Volk!, grölten die Männer, deren Gesichter sie im anderen Wagen nicht erkennen konnte.

– Freiheit!, antwortete Rustam etwas verhaltener.

Sie gaben noch weitere Parolen von sich, aber sie hörte nicht mehr hin, denn für einen Augenblick war der Empfang da, und sie vernahm einzelne Worte aus dem Radio, wie »Einmarsch«, »Wehrpflicht«, »militärische Intervention«, »Präsident der Russischen Föderation«. Ihre Knie wurden weich. Sie traute sich nicht, den Gedanken, der sich ihr die ganze Zeit aufdrängte, zuzulassen. Erst nachdem Rustam wieder auf das Gaspedal trat und sie von der Hauptstraße in die kleine Abzweigung linker Hand abbogen, die zu ihrem Hof führte und die erfreulicherweise menschenleer war und vollständig im Dunkeln versunken, wagte sie, die Frage zu stellen:

– Haben wir Krieg?

– Ja.

Sie war froh, dass Rustam keine Fragen stellte und ihr auch nicht wie gewohnt die Leviten las. Schweigend fuhr er sie nach Hause. Vor der Tür lagen unzählige Paar Schuhe. Im Wohnzimmer tummelten sich die Nachbarsfrauen, auch ihre Tante, Rustams Mutter, war da und drückte die verwirrte Asma an sich. Die alte Rabyat, die Königin der Imker, wie sie scherzhaft genannt wurde, ging auf und ab, die Arme auf dem Rücken, und murmelte irgendwelche Glücks- und Friedensformeln. Sogar die Gasujews waren gekommen.

Die Männer waren fort, wahrscheinlich hatten sie sich bei dem Mufti zusammengefunden, oder vielleicht war der Ältestenrat einberufen worden.

Sie entledigte sich ihrer Schuhe, ging hinein, nickte den Damen zu, neigte respektvoll den Kopf vor Rabyat. Rabyat lächelte ihr zu, sie schien sichtlich erleichtert, dass sie aufgetaucht war, aber die Missbilligung in ihrem Blick, dass sie mit siebzehn Jahren immer noch kein Tuch auf dem Kopf trug, war Nura nicht entgangen. Wahrscheinlich tröstete sie sich damit, dass spätestens nach der Heirat ihr unbedeckter Kopf der Vergangenheit angehören würde.

– Wo hast du bloß gesteckt? Wir sind hier vor Sorge fast umgekommen, kam ihre Mutter ihr klagend entgegen.

– Ich habe es nicht gewusst, ich habe es nicht mitbekommen, woher sollte ich es wissen …

Leise wiederholte sie die Sätze, wie unter Betäubung. Und vielleicht war sie auch betäubt, vielleicht war ihr Körper klüger, vielleicht schützte er sie damit. Sie fühlte nichts, sie spürte nichts, schlagartig gab es eine Distanz zwischen ihr und dem Außen, dem Geschehen um sie herum.

– Gott sei Dank, du bist wieder zu Hause!, rief nun auch ihre Tante und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Es war ungewohnt, dass all diese Frauen pure Freude bei ihrem Anblick empfanden, meist waren die Reaktionen, die sie hervorrief, widersprüchlicher Natur.

Die Einzige, die in ihr ein klares, ein lebendiges und keineswegs taubes Gefühl wachrief, war ihre zehnjährige Schwester Asma, der sie, wie immer, wenn sie sich sahen, zuzwinkerte. Gerade jetzt war es wichtig, ihr vor allen zuzuzwinkern, die Kleine hatte Angst, das sah sie an ihren weit aufgerissenen Augen, auch wenn sie es mit viel Mühe zu kaschieren versuchte, aber Nura konnte ihre Anspannung erkennen und ihre Unsicherheit. Sie musste ihr Mut zusprechen, musste ihr mit kleinen Gesten zu verstehen geben, dass alles in Ordnung war, dass sie nichts zu befürchten hatte.

Ihre schöne kleine Schwester – wie sehr sie doch wollte, dass die Welt sich ihr von der besten Seite zeigen möge. Wie schade es war, dass Asma zu klein gewesen war, als Natalia Iwanowna mit ihren Videokassetten, mit ihren Zauberkräften in die Schlucht gekommen war. Wie gerne sie all das, was sie gelernt hatte, an die Kleine weitergeben würde; ihr all die Filme zeigen und ihr von all den Orten erzählen. Sie verdiente so viel, sie verdiente so viel Lachen und so viele Tänze, so viele Torten und so viele Kirschen und so viele Blumen und luftige Kleider, so viele Reisen und so viele Aussichten, so viele Erkenntnisse und so viel Freude.

Sie ging in die Küche, wo die Ältere der Gasujew-Schwestern Hüttenkäse für die Chepalgaschi zubereitete.

– Ah, das gute Mehl …, sagte sie nur und nahm Nura den Mehlsack ab. In der Ferne bellte ein Hund. Die Stimmung, die im Haus herrschte, drückte auf die Köpfe, als hätte man sich eine Metallhaube aufgesetzt. Das Autohupen von der Hauptstraße war vollständig abgeklungen, und wieder wurde die Gegend von der mächtigen Stille erfasst, die nur vom Flussrauschen durchbrochen wurde und die so typisch war für diese Uhrzeit.

Die Gasujew-Schwester setzte zu einem Gespräch mit ihr an, was bedeutete, sie würde meist selbst reden und von Nura ab zu ein Kopfnicken oder ein »Ja, ja, schrecklich, das alles« einfordern, aber sie nutzte die Gelegenheit, drehte sich zum Händewaschen um und ging hinaus. Sie schlüpfte in die Gummistiefel und nahm den Hinterausgang. Der Hof lag friedlich da. Als stünde das, was im Hof war, in keinerlei Verbindung zu dem, was im Haus stattfand. Als wären es zwei vollkommen verschiedene Welten.

Natalia Iwanowna hatte die letzten Wochen vor ihrer Abreise unentwegt vom Krieg gesprochen. Nura war sogar genervt von ihrer Besessenheit, und sie ertappte sich dabei, dass sie immer weniger gerne zur Scheune ging. Anstatt sich einen Film anzusehen, lief Natalia Iwanowna besorgt auf und ab, trank ununterbrochen ihren Tee, sah mit wässrigen Augen in die Ferne und prophezeite Ungutes, Besorgniserregendes. Sie wirkte wirr, nicht mehr ganz bei Sinnen, und Nura fiel es zunehmend schwerer, ihr mit lachender Heiterkeit etwas entgegenzusetzen, ihr und ihrem Wahn. Aber nun, im dunklen Garten stehend, dachte sie, dass es kein Wahn gewesen war, und etwas schmerzte brennend, weil sie ihr nicht besser zugehört hatte und ihrem Wahn nicht zur Wahrheit gefolgt war, die sich jetzt, in dieser Nacht, offenbarte. Sie hatte sie nicht gestützt, ihr keinen Halt gegeben, und Natalia Iwanowna musste es gespürt haben, war sie doch in den letzten Wochen und Tagen in ihre Einsamkeit zurückgekehrt, in diesen Zustand der Selbstgenügsamkeit und der Tagträumerei, sie kehrte dorthin zurück, wo sie gewesen war, nachdem sie ohne ihren Mann in dieser Abgeschiedenheit alleine zurückgeblieben war, als Nura das erste Mal in die Scheune gekommen war und mit ihr versucht hatte, das Geheimnis des Zauberwürfels zu lösen. Doch eines Abends hatte Natalia Iwanowna einen Nachbarsjungen nach ihr schicken lassen – etwas, was bisher nie nötig gewesen war, denn sie war immer freiwillig gekommen. Aber an jenem Abend hatte sie es tun müssen, und so ging Nura hin, trotz Mutters Geschimpfe und der Dunkelheit ging sie zu ihrer Lehrerin und Freundin und traf Natalia dort mit gepackten Taschen und Koffern an. Sie hatte milde gelächelt und einen merkwürdigen Glanz in den Augen gehabt.

– Ich werde dich verlassen müssen, meine Schöne!, sagte Natalia Iwanowna und legte den Kopf auf mädchenhafte Art zur Seite.

– Wie verlassen? Wo gehst du hin?

– Ich kann nicht länger bleiben. Ich habe meine Aufgabe hier erfüllt. Ich muss weiterziehen.

– Aber was soll werden …

– Es ist nicht mehr sicher für mich hier.

– Wieso denn das?

– Ich habe dir alles aufgeschrieben, was ich noch zu sagen habe. Lies den Brief bitte erst, wenn ich fort bin. Ich breche morgen früh mit dem Auto auf.

– Aber wohin gehst du?

– Das weiß ich noch nicht. Sobald ich irgendwo einen Platz für mich gefunden habe, werde ich dir eine Nachricht zukommen lassen, versprochen.

Drei Koffer mit Kassetten und vier Taschen – das war ihr ganzes Hab und Gut. Ihr ganzes Werk, ihr zusammengepresstes, zusammengefaltetes Leben. Nura war überfordert gewesen, überfordert, aber vor allem verärgert, und auch wenn sie sich in den letzten Wochen von ihrer Lehrerin distanziert hatte, so hieß das noch lange nicht, dass sie auf sie verzichten wollte oder konnte, und dass Natalias Iwanowna ihr Fortgehen einfach so beschloss, ohne mit ihr Rücksprache zu halten, schien ihr unbegreiflich, nahezu frech. Sie stand da, hölzern, unsicher, wie sie sich verhalten sollte. Vieles ging ihr durch den Kopf, doch ihre Lippen blieben verschlossen, sie konnte nichts sagen, keinen geraden und klaren Satz formulieren.

– Das ist ungerecht, stammelte sie irgendwann und knackte ihre Finger, etwas, was Natalia Iwanowna nicht ausstehen konnte.

– Ich weiß, du bist wütend auf mich, aber ich hoffe, dass du nach dem Lesen dieses Briefes versöhnlicher sein wirst, und ich wünsche mir inständig, dass du mich verstehen wirst, wenn eine Weile verstrichen und … Sie brach den Satz ab und kam auf sie zu. Sie nahm Nura in den Arm, drückte ihren Kopf an sich, küsste ihre Wangen und ihre Stirn und sagte dann knapp, sachlich, als wäre es eine Formalität: – Geh jetzt bitte. Ich bin keine Frau der langen Abschiede.

Sie hatte vom Krieg gesprochen in ihrem zweiseitigen Abschiedsbrief, in ihrer feinen, aristokratischen Schreibschrift, und ihn mit »Liebste Nura« begonnen. Vom Krieg und von ihrer Rastlosigkeit und ihrem Unbehagen angesichts der Zukunft und von ihrer Sehnsucht nach Frieden und einem Ort des Ankommens hatte sie geschrieben. Sie dankte Nura für die Monate und Wochen ihrer Zweisamkeit, ihrer gegenseitigen Bereicherung und sprach ihr Mut zu – sie solle unbeirrt ihrem Selbst folgen, ihr Ich nicht außer Acht lassen, sich nicht verraten. Das sei nun mal das Wichtigste, und dann fügte sie hinzu, in der kleinen Speisekammer hinter der grünen Tür, in der Metalldose, auf der »Zucker« oder »Salz« stehe, sie wisse es nicht mehr genau, würde etwas für sie versteckt sein, ein kleines Andenken, eine Aufgabe vielleicht. Sosehr sie hoffe, dass sie sich wiedersähen, würde sie sie niemals vergessen und immer in besonderer Liebe in ihrem Herzen behalten. »Deine Natalia«, so war der Brief unterschrieben.

Und als Nura den Brief las, kullerten ihr Tränen die Wangen herunter, und gleichzeitig empfand sie Groll, sie hätte nicht so einfach abreisen, nicht so einfach fortgehen dürfen. Unwillig, widerstrebend ging sie in die Scheune, der Schlüssel lag unverändert unter der Fußmatte, und trat ein. Die wenigen Möbel standen noch da, aber etwas Wesentliches, das Wesentlichste überhaupt, fehlte, und sogar der Geruch hatte sich schlagartig verändert. Es roch dort verlassen, menschenleer, es roch dort nach einem Ort, der über Nacht entzaubert worden war. Leise schlich sie in die Speisekammer, als fürchtete sie, alte Erinnerungen zu wecken, und entdeckte dort drei Metalldosen, staubig und bereits mit Rost überzogen. In der Zuckerdose wurde sie fündig: Dort lag der bunte Kubik-Rubik, der Zauberwürfel, dessen Rätsel sie anfangs zu lösen versucht hatte, bis sie ihn ungeduldig und entnervt an die Besitzerin zurückgegeben hatte. In Wahrheit aber war es aus Angst geschehen, ihre Lehrerin zu enttäuschen, falls sie der Aufgabe nicht würde gerecht werden können. Unter dem bunten Würfel entdeckte sie einen kleinen Zettel, der mit einem Klebestreifen an ihm befestigt war: »Ich habe es nicht geschafft, Du aber, Du wirst es ganz sicher schaffen.« Sie drehte die bunten Flächen des Würfels hin und her, und Tränen schossen ihr in die Augen. Es war gemein. Natalia hätte nicht einfach so verschwinden dürfen, das war feige, das war ungerecht. Sie warf den Würfel wieder in die Dose, nein, sie würde es ihr nicht so einfach machen, sie würde ihren Erwartungen nicht entsprechen. Hätte sie es sich wirklich gewünscht, wäre sie sicherlich geblieben und hätte ihr dabei zugesehen, aber so, aus der Ferne, nein, das würde sie nicht tun. Sie knallte die Tür hinter sich zu und lief hinaus, der Zauberwürfel blieb in der rostigen Dose zurück.

Der Garten war in eine verschlafene Ruhe versunken, und sie nahm ein paar tiefe Atemzüge, bevor sie ihre Runde um das Haus drehte und vor dem Fenster des Wohnzimmers stehen blieb, in dem sich alle Frauen um das Radiogerät versammelt hatten. Zum Glück konnte sie nichts Genaues hören, sie konnte sich gänzlich auf die Gesichter der Frauen konzentrieren, die etwas zwischen Besorgnis, Ungläubigkeit, Überforderung und übertriebenem Eifer verrieten. Es wunderte sie, dass sie nicht zu den Gasujews gelaufen waren und sich vor ihrem Farbfernseher versammelt hatten – dem einzigen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Aber wahrscheinlich war das Gerät von den Männern in Beschlag genommen worden, und so mussten sie sich mit dem Radio zufriedengeben. Vielleicht war es auch besser so. In der Mitte dieser hektischen Frauen entdeckte sie Asma, wie eine Gazelle, die sich zufälligerweise in eine Hirschhorde verirrt hatte, deplatziert und bemüht ernst. Sie drückte ihr Gesicht gegen das Fensterglas, aber es würde für die Kleine unmöglich sein, sie hier am Fenster zu sehen, in dieser vollkommenen Dunkelheit, während ihre Schwester selbst unter dem Lampenschirm saß.

Sie selbst aber stand da, als hätte sie sich aus ihrem eigenen Leben davongestohlen, und sah dem Treiben drinnen zu. Sah, wie die Mutter sich immer wieder nervös die Hände an der Schürze abwischte, wie die Jüngere der Gasujew-Schwestern sich auf die Unterlippe biss, wie ihre Tante die Fäuste zusammenballte, in der Hoffnung, die Geste möge ihre Aufmerksamkeit von ihrem übermächtigen Wunsch nach Nikotin auf etwas anderes umlenken (auf ihrer Toilette stank es dauernd nach Zigarettenrauch, den sie mit widerlichem Parfum zu überdecken versuchte). Sah, wie die Königin der Imker, die alte Rabyat, mit dem Oberkörper hin- und herwippte, als wäre sie in Trance, ein armseliger Versuch, sich zu beruhigen.

Rabyat gehörte damals, kurz vor Kriegsende 1944, zu der halben Million Tschetschenen und Inguschen, die wegen angeblichen Ungehorsams und vermeintlicher Kollaboration mit den Nazis von Stalin gewaltsam nach Kasachstan und Kirgisistan deportiert wurden. Wie eine Fackel, die nicht verlöschen durfte, gab sie die Erinnerung an die elende und endlose Fahrt in den Viehwaggons an ihre Töchter, Söhne und Enkelkinder weiter. Unentwegt erzählte sie ihnen von den quälenden Erlebnissen im Exil, und als würde von diesen Geschichten eine grausame Magie ausgehen, hörten ihr alle wie gebannt zu, auch die, die diese Geschichten schon längst in- und auswendig kannten, keiner konnte sich abwenden, keiner konnte weggehen, sobald sie zu erzählen begann. Und auch sie gaben später die Geschichten Rabyats weiter, erzählten sie ihren Kindern und Kindeskindern, ihren Freunden, ihren Klassenkameraden. Und so waren ihre Erzählungen allgegenwärtig, schrieben sich in das kollektive Gedächtnis der Schluchtbewohner ein.

Es gab viele Geschichten von der Fahrt und vom Hunger, von den Arbeitslagern in Kasachstan, von der Sehnsucht nach den Bergen und den leise gesungenen Heimatliedern, aber eine der Geschichten war Nura am stärksten in Erinnerung geblieben und hatte sie ihre gesamte Kindheit lang verfolgt. Heute noch, wenn sie Rabyat ansah, wenn sie ihr lang genug zuhörte, egal von welchen Banalitäten sie auch sprechen mochte, welche Nichtigkeiten sie auch von sich gab, irgendwann tauchte unvermeidlich diese eine Geschichte in ihrem Gedächtnis auf. Wieder sah sie die kleine Rabyat vor ihrem inneren Auge. Sah sie vor sich, wie sie mit ihrer Mutter und ihren vier älteren Geschwistern im Viehwaggon durch die endlose Steppe abtransportiert wurde. Wo eine unerträgliche Hitze herrschte und es wenig Wasser gab, es unmöglich war, sich auszustrecken, in vollkommener Ungewissheit weggezerrt aus der Heimat, aus dem Vertrauten. Aber sie hielten zusammen, und da Rabyat die Jüngste der Geschwister war, passten die anderen auf sie auf, und sie bekam sogar von ihren Essensrationen etwas ab, und die Mutter achtete darauf, dass sie nicht in die anderen Waggons kam, wo es dem Gerücht nach mehrere Kranke gab, die Blut husteten. Nirgendwo hielt der Zug lange, nirgendwo gab es Rast. Nirgendwo gab es genügend frische Luft zum Atmen und Wasser, um sich ordentlich zu waschen. Aber ihre Mutter tat ihr Bestes. Mit feuchten Lappen zwang sie die Kinder, sich sauber zu halten, rettete ihnen dadurch womöglich das Leben. Außer ihrer Mutter – der Vater kämpfte im Krieg – waren auch ihre wunderschöne Tante Hava und deren zwei kleine Kinder im Waggon. Ihr Mann war beschuldigt worden, am Israilow-Aufstand teilgenommen und mit den Nazis kollaboriert zu haben, und war sofort nach der Verhaftung hingerichtet worden. Hava blieb mit einem vierjährigen Jungen und einem Säugling zurück. Die ganze Fahrt über weinte sie, und Rabyats Mutter sah sich gezwungen, sie immer wieder anzuschreien, manchmal gab sie ihr sogar eine Ohrfeige, sie müsse sich zusammenreißen, der Kinder wegen, sie bringe sich und die ganze Familie mit ihren Gefühlsausbrüchen in Gefahr. Aber Hava hatte ihren Mann geliebt, es hatte im ganzen Aul und darüber hinaus Legenden über ihre große Liebe gegeben, fügte Rabyat meist an dieser Stelle hinzu, und nachdem man ihren geliebten Mann getötet hatte, habe sie nicht gewusst, wie sie weiterleben sollte. Aber ihre Schwester kümmerte sich auch um Havas Kinder, so gut es ging, und zwang Hava dazu, das Mindeste an Nahrung und an Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Die Krankheit aber – deren Namen Rabyat niemals nannte, als bringe das bloße Aussprechen Unglück – griff um sich, und auch Havas vierjähriger Sohn begann, Blut zu spucken. Das Kind wurde fiebrig und erbrach alles, was es aß. Rabyats Mutter flehte die Wachen an, einen Arzt zu holen oder bei der nächstbesten Station haltzumachen, damit man dem Jungen helfen konnte, aber wie mechanisch wiederholten sie, der Befehl von oben sehe keinen zusätzlichen Halt vor. Und so fuhren sie immer weiter und weiter, und der Junge wurde immer kränker, bis er eines Tages nicht mehr aufwachte und in fiebriger Agonie in den Armen seiner schönen Mutter starb.

Wie versteinert saß Hava da und regte sich nicht mehr, während Rabyats Mutter und andere Frauen Totengesänge anstimmten und das Schicksal verfluchten. Die Hitze ließ das Beweinen nicht viel länger zu, man musste den Jungen bestatten. Nur wiederholten die Wachen stumpfsinnig, der Befehl von oben sehe keinen zusätzlichen Halt vor. Rabyats Mutter schrie, die anderen Frauen schrien auch, sie warfen den Wachen vor, Unmenschen zu sein, dafür in die Hölle zu kommen, nur die schöne Hava – ein wahrer Filmstar, so sah Hava in Nuras Vorstellung aus, da Rabyat ihre Schönheit rühmte, mit sumpfgrünen Augen und einer milchweißen Haut, mit dichtem kupferrotem Haar und einer gebrechlichen Trauer im Gesicht – regte sich nicht, ließ das Kind nicht mehr aus den Armen und starrte durch sie alle hindurch, als sähe sie in der Ferne etwas, was den anderen verborgen blieb und das eine Lösung für all ihre Probleme bereithielt. Und so war es auch …

Sie müsse das Kind aus dem Zug werfen, lautete schließlich der Befehl. Es gebe leider keine andere Möglichkeit. Bei den Todesfällen in den anderen Waggons sei man ebenfalls so verfahren, eine Ausnahme könne man daher nicht machen. Ja, wo würde man denn bitte hinkommen, würde man für jeden, der darum bitte, eine Ausnahme machen, nein, nein! Man gab Hava noch eine Stunde, dann würde man die Tür öffnen und den kleinen reglosen Körper der gnadenlos durstigen Erde der Steppe überlassen.

Rabyats Mutter weinte und drückte den Säugling ihrer Schwester an die Brust, und Rabyats Geschwister weinten, all die anderen Frauen weinten, nur Hava saß stumm mit dem toten Jungen auf dem Arm da und starrte vor sich hin, in die Erlösung. Und als der Augenblick kam und die schwere Metalltür aufgerissen wurde, die sandige, hitzige Luft hineinwirbelte und jeder voller Schrecken sein Gesicht abwandte, trat die schöne Frau an die Türschwelle, ruhig, gelassen, drehte sich noch einmal um, lächelte den anderen zu, sah ihrer Schwester in die Augen, als nehme sie ihr ein Versprechen ab – und Rabyat sagte, dass ihre Mutter es gewusst habe, in dem Augenblick habe sie es spüren müssen und verstanden, dass es keinen Sinn haben würde, Hava davon abzuhalten, und sie habe ihr zugenickt, das Versprechen würde sie halten, komme, was wolle, ja, dem Säugling würde nichts passieren –, und so drehte Hava sich wieder um, und als der Wachmann ihr zurief, sie solle sich beeilen, sprang die junge Frau mit ihrem toten Sohn in den Armen ins blendende Licht.

Sie warf Asma noch ein Lächeln zu, das die Kleine nicht sah, aber hoffentlich spürte, und ging davon. Im Geflügelhof herrschte Ruhe. Die Hühner schliefen. Wie sehr Mutter es doch hasste, diese »abscheulichen Tiere« hüten zu müssen. Nura hatte niemals verstanden, warum sie diese harmlosen Vögel so schrecklich fand. Dabei waren sie nützlich, und alle drei Töchter hatten die Küken so sehr geliebt und sie als Kinder oft mit ins Haus genommen, heimlich ihre Lippen gegen ihr weiches Gefieder gedrückt. Außerdem hatte sich die Geflügelzucht als sehr profitabel erwiesen, da in der Schlucht überwiegend Schafe und Ziegen gehalten wurden. Aber wahrscheinlich hätte sie alles gehasst, egal welches Tier oder welche Beschäftigung, solange es sich um Vaters Hinterlassenschaft handelte. Die Hühner mussten sie an ihn erinnern und somit an ihre Schande. Jeden Morgen in der Früh, wenn sie das Gehege betrat, um es zu reinigen, verfluchte sie ihn. Jedes Mal, wenn sie mit ihr und Asma die Eier einsammelte, versank sie in ein tiefes und bedrücktes Schweigen, und ihre Töchter wussten sofort, dass sie wieder an ihren Mann dachte. Daran, dass er hier stehen müsste, dass er diese Tiere versorgen und sie schlachten sollte, er sich um die Sauberhaltung des Geheges und um die Fütterung kümmern müsste, dass er hier zu sein hätte, hier bei ihnen, bei seiner Frau und seinen Töchtern. Und dass er nicht krank im Kopf hätte sein dürfen, dass er andere Wünsche und Träume hätte hegen sollen und ihre Ehe einen anderen Verlauf hätte nehmen und ihre Zukunft eine andere hätte werden sollen als die, die er ihr hinterlassen hatte.

Sie umrundete das Gehege und folgte blind dem so vertrauten Pfad, der um den ganzen Hof führte. Rabyats Mutter hat ihr Versprechen gehalten, den Säugling mit Ziegenmilch gefüttert, bis ein gesunder Junge aus ihm geworden war. Und Ende der fünfziger Jahre kehrten sie dann endlich zurück in ihre Schlucht, in ihre Berge, nach Hause, in das Aul, in dem man, wie überall im Land, inzwischen Fremde aus dem Westen angesiedelt hatte, Slawen mit hellen Haaren und kaum Bartwuchs, wie Pankow einer war, der geschickte Tierarzt, der bunte Bonbons an die Kinder verteilte. Aus dem Kind wurde ein Mann, und Rabyat und ihre Geschwister waren zeit ihrer Kindheit eifersüchtig auf ihren Cousin, denn die Hingabe, mit der ihre Mutter sich um ihn kümmerte, überhaupt ihre ganze Liebe, schien nur ihm zu gehören, als verdiente er eine besondere Zuwendung, eine, die man stets betonen und unterstreichen musste. Der Mann, auf dessen Schultern das Gewicht seiner Familiengeschichte tonnenschwer lastete, sollte Großes vollbringen. Und er wurde diesen Erwartungen gerecht. Als Einziger aus Rabyats Familie zog er aus der Schlucht fort. Er studierte in Moskau, arbeitete im diplomatischen Dienst und kehrte später in seine Heimat zurück, um bei Grosneftegas einzusteigen und binnen kurzer Zeit zu einem sehr reichen Mann zu werden.

Ein einziges Mal sah sie diesen zu einem grimmigen und groß gewachsenen Mann gereiften Säugling auf der Hochzeit von Rabyats ältestem Sohn, und sie war enttäuscht gewesen und hatte sogar gegen Tränen der Entrüstung kämpfen müssen, hatte sie ihn sich doch so klar und deutlich vorgestellt, ausgemalt in den buntesten Farben und in den nuanciertesten Schattierungen. Aber nun, wo er einige Meter von ihr entfernt am Tisch saß und Reden hielt, zerschellte ihre Fantasie an der Wirklichkeit wie ein kleines Boot an mauerhohen Klippen. Da saß ein bärtiger Mann, der bei seinen Trinksprüchen für ihren Geschmack zu oft Gottes Segen einforderte, als wäre sein Überleben nicht Segen, als wäre seine Geschichte nicht Wunder genug. Alle himmelten ihn an, aber nicht, weil er als Einziger aus seiner Familie der Hölle entkommen war, und das dank der wild entschlossenen Liebe seiner Tante, sondern weil er es zu etwas gebracht hatte. Aber was war dieses Etwas? War es das, was seine schöne Mutter für ihn vorgesehen hatte, als sie aus dem Zug gesprungen war, mit dem toten Körper seines Bruders in den Armen? War es folgerichtig, was er tat und was er wurde? Wie hätte er denn sein müssen, wenn seine Biografie, wenn sein Leben eine gerade Linie gewesen wäre? Wie naiv es von ihr war, anzunehmen, dass er eine Art Hadschi Murad hätte werden müssen. War das Leben an sich nicht Grund genug, um am Leben bleiben zu wollen, oder rechtfertigte seine Existenz den Tod seiner Familie nur dann, wenn er es zu etwas brachte?

Den ganzen Abend, während sie und ihre Mutter Rabyat und ihren Töchtern und den Schwägerinnen beim Kochen und bei der Bewirtung aushalfen, hatte sie darüber nachgedacht. Warum schmerzte sie der Anblick dieses Mannes so? Was irritierte sie? Irgendwann hatte sie sich, wie sie es so oft tat, davongeschlichen, wie ein Dieb hatte sie sich davongemacht, zum großen Zorn ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Malika, und sich in Rabyats Gewächshaus versteckt. Es hatte geregnet, und das Gewächshaus war in einen warmen Dunst eingehüllt. Sie fühlte sich auf Anhieb geborgen. Sie hatte dort gesessen und hinaus in den Regen gestarrt, in das Leben, das so viele Fragen aufwarf und das sie so überforderte und gleichzeitig so anzog. Und da hatte sie auf einmal seine Schritte gehört und dann ihren Namen. Sie war verwirrt, es war Mutters Aufgabe, nach ihr zu suchen, er hatte es niemals getan, zumal er doch mit den anderen Männern am Tisch gesessen und nach dem »offiziellen Teil«, nachdem die »wichtigen« Gäste gegangen waren, mit den Nachbarsmännern selbst gebrannten Schnaps aus der Teekanne getrunken hatte.

– Bist du hier, Nura?

Seine Stimme war stets ruhig, bedacht, niemals wurde er laut, niemals übte er mit seiner Stimme Druck aus. Er ging so geizig mit seinen Worten um, dass dadurch jedes seiner Worte ein besonderes Gewicht bekam. Ohne zu zögern, rief sie »Ja!« und rannte ihrem Vater entgegen.

– Was machst du hier?

– Ich wollte meine Ruhe haben.

– Ja, verstehe. Aber irgendwas hat dich traurig gemacht, ich habe dich beobachtet, sagte er nach einer Weile. Er hatte sich zu ihr gestellt und sah in den Regen hinaus.

– Dieser Mann, Rabyats Cousin …

– Was ist mit ihm?

– Ich hatte ihn mir anders vorgestellt.

– Ja, er ist eben ein wichtiger Mann.

– Aber seine Geschichte, du weißt doch, die ist doch genauso wichtig? Das, was seinen Eltern und seinem Bruder passiert ist, und dass … Plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen, und obwohl sie es selbst albern fand, ohne einen wirklichen Grund zu weinen, konnte sie nichts dagegen tun. – Ich meine …

Ihr gingen die Worte aus. Sie konnte nicht klar benennen, was sie so störte, was sie so aufregte. Etwas stimmte nicht, etwas war falsch, etwas passte nicht zusammen, aber sie wusste nicht, was genau es war, als fehle in einem Puzzle das zentrale Teil, als sei es unmöglich, ohne dieses Teil das Gesamtbild zu erkennen. Ihr Vater legte seinen Arm um sie und drückte sie fest an sich, ohne sie dabei anzusehen. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Es tat gut, es war ein sicheres, ein geborgenes Gefühl, das unerschütterlich schien.

– Er muss so sein, er musste so werden, um zu überleben, sagte er auf einmal und zog aus seiner Jacketttasche eine Packung Papirossy, die er so gerne rauchte, alle westlichen Zigarettenmarken, die man auf einmal kaufen konnte, verschmähte er. – Er musste unverwundbar werden, sonst würde ihm seine Vergangenheit die Luft abschnüren, er würde ersticken, sagte er gewohnt ruhig, fast leise. – Er musste überleben, er hatte keine andere Wahl.

Ihr Vater machte eine längere Pause, in der er sich seine Papirossa anzündete und einen tiefen Zug nahm. Die Spitze glühte im regnerischen Abendlicht. – Manchmal, da ist das Licht nur eine Tarnung für die Dunkelheit, sagte er dann und verstummte.

Merkwürdigerweise fiel ihr auf, dass sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, gleich als das Wort »Krieg« gefallen war, an diesen Mann und an den Viehwaggon hatte denken müssen. War das der Krieg? Abgerissene Leben, zerschnittene und aus der Zeit gefallene, nicht mehr folgerichtige Biografien? Oder gab es sowieso keine Folgerichtigkeit im Leben, weder im Frieden noch im Krieg? Wieso musste sie schon wieder an diesen bärtigen Mann denken, der einst ein ahnungsloser Säugling gewesen war? Worauf musste sie sich gefasst machen? Worauf mussten sie sich alle gefasst machen?

War der Krieg ein Viehwaggon mit Männern, die über Leben und Tod bestimmten? Waren es Frauen, die zu Säulen erstarrten, und Männer, die ihre Geschichten vergaßen, weil sie zum Überleben verpflichtet worden waren, durch ein vor Jahren gegebenes Versprechen? Aber überleben um welchen Preis? Oder spielte der Preis bei derlei keine Rolle?

Sie musste weg. Nein, sie mussten alle weg. Sie durfte nicht zulassen, dass das Leben ihrer Mutter, ihr Leben und das Leben von Asma von irgendwelchen Befehlen abhingen, dass ihre Leben nicht nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten verliefen. Dass die Folgerichtigkeit aus ihrem Dasein verschwände. Sie brauchte einen Plan. Es galt, gleich in den nächsten Tagen eine Karte des Überlebens zu zeichnen.

Wieder bellte der Hund in der Ferne. Sie sah zum Himmel, vom Mond fehlte jede Spur. Die Dunkelheit war allumfassend, aber sie fühlte sich in ihr sicher, sie spendete Schutz und Trost. Ja, ihr Vater hatte recht gehabt, manchmal, da war das Licht nur eine Tarnung für die Dunkelheit. Und daraus zog sie eine Schlussfolgerung, die sie für einen Augenblick zuversichtlich stimmte: Die Dunkelheit war demnach vielleicht nur eine Tarnung für das Licht.

Die Katze und der General

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