Читать книгу Die Katze und der General - Nino Haratischwili - Страница 12

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2016/Der General

Die Skulptur, die er betrachtete, war klein, nicht einmal vierzig Zentimeter maß sie, aber in ihrer Wirkung erschien sie ihm weitaus größer und gewaltiger.

Das Museum hatte gerade geschlossen, vor dem Eingang standen noch vereinzelt Gruppen, die meisten Touristen, unschlüssig, wie sie den Berliner Abend fortsetzen sollten. Er schickte eine junge Mitarbeiterin, die den Schreiberling, wie er ihn in Gedanken nannte, in Empfang nehmen und zu ihm führen sollte. Der General bedachte das Museum mit großzügigen Spenden, und so konnte er einiges an Entgegenkommen beanspruchen, wie zum Beispiel nach der offiziellen Schließung des Museums einen ganzen Ausstellungssaal für sich zu haben.

Der Schreiberling wurde in den Raum geführt, wo der General auf einer Bank vor dem Marienkopf aus Holz saß, dem gläserne Tränen die Wangen herunterliefen. Der General war allein gekommen, ohne Leibwächter. Die Mitarbeiterin überließ den Besucher seinem Schicksal und entfernte sich mit leisen Schritten. Der General spürte den Blick auf seinem Rücken und seinem kahlen Kopf. Wie ein Stück Traum in die Realität montiert, dachte er in dem Augenblick.

– In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden Büsten der trauernden Gottesmutter zu einem der beliebtesten Motive privater Andacht in Spanien und vor allem in Andalusien. Und dieses Prachtexemplar gehört aufgrund seines ausgeprägten Verismus zu den wohl Beeindruckendsten dieser Gattung. Pedro Roldán, so hieß der Schöpfer des Kunstwerks.

Er sprach ruhig, als richtete er seine Worte nicht an jemand Bestimmten. Er machte sich keine Mühe mehr, es seinem Gegenüber zu erleichtern, seinen Gedankengang mitzuverfolgen. Früher hatte ihm seine Tochter unterstellt, seine Liebe zu Metaphern sei eine Form von Wichtigtuerei, das komme wohl daher, dass er einfach gewohnt sei, dass die Menschen mit ihm Schritt hielten und nicht andersherum.

– Diese Mater dolorosa zeigt nicht unbedingt eine tatsächliche Station im Leben Marias, keinen Punkt auf der biografischen Zeitachse, es ist vielmehr dieser über der Zeit stehende Zustand der Trauer. Maria scheint physisch anwesend, man kann sie berühren, die gläsernen Tränen sind erschütternd echt, ihre Trauer ist omnipräsent.

Unvermittelt verstummte er und drehte sich zu dem Schreiberling um. Onno stand inzwischen direkt hinter ihm. Bestimmt fiel ihm eine Veränderung an seinem Äußeren auf. Das gealterte Gesicht, die dunkler gewordenen Augenringe, die fahler wirkende Haut und die grauen Haare in seinen Augenbrauen. Vielleicht aber auch nicht. Es spielte so oder so keine Rolle, was der Schreiberling dachte oder von ihm hielt.

– Hallo, sagte Onno und nickte ihm unmerklich zu. Er beugte sich zu dem Marienkopf und sah sich ihr kummervolles Gesicht genau an. Ihre Trauer war allumfassend, ihr Gesicht erschreckend naturalistisch.

– Setz dich, ich beiße nicht!, sagte der General und klopfte mit der flachen Hand auf die Lederbank, auf der er Platz genommen hatte. Der Schreiberling gehorchte, wenn auch darauf bedacht, eine gewisse Distanz zu seinem drahtigen und stets angespannten Körper zu wahren. Einen Moment lang vertieften sich die beiden Männer in das wunderschöne und zugleich so schmerzverzerrte Antlitz der Maria. Nahm der Schreiberling an, sie würden durch die gleiche Trauer vereint, zu Komplizen gemacht werden? Aber das einzige, gleichzeitig konstanteste, stärkste Band, das sie miteinander verknüpfte, war gegenseitiger Hass, keineswegs schwächer als das Band der Liebe.

– Du hast mich sprechen wollen. Wieso jetzt? Und um was geht es überhaupt?, kam es aus dem Schreiberling herausgeschossen.

– Schau dich an, du hast dich gehenlassen, das ist nicht gut, ganz und gar nicht gut. Kein Mann, der von der Welt auch nur ein Fünkchen Respekt einfordert, darf das tun, sagte der General und fixierte ihn mit seinem Blick. Dem Schreiberling war unwohl, es gefiel ihm nicht, hier wie ein kleiner, abgestrafter Junge einbestellt worden zu sein.

– Dann scheiße ich eben auf den Respekt.

Er sagte den Satz provokant, im Wissen, wie sehr der General jede Form der Obszönität verachtete. Aber er fühlte sich auch frei, da das Band zwischen ihnen so unwiderruflich durchtrennt worden war, vielleicht machte ihn sein Selbstmitleid auch mutiger, er besaß ja nichts mehr, was ihn verletzlich und erpressbar machte.

– Worum geht es? Was genau verlangst du?

Zum ersten Mal drehte Onno sich mit dem ganzen Oberkörper zum General und sah ihm direkt ins Gesicht, was ihn sichtlich große Überwindung kostete. – Und wer ist das Mädchen, das ich so zwingend überzeugen soll?

– Du bist doch ein Mann der Wahrheit, richtig?, sagte der General mit deutlicher Ironie in der Stimme. – Unentwegt hast du davon gesprochen, hast meiner Tochter damit in den Ohren gelegen, hast immerzu danach gesucht. So, nun gebe ich dir die Möglichkeit. Suche sie, deine Wahrheit, bitte sehr, ich öffne dir alle Türen, ich lasse dich in jeden dreckigen Keller, wenn du es so willst. Du kannst dein verfluchtes Buch über mich schreiben, kannst groß Karriere machen. Ich werde es dir schriftlich zusichern …

– Wo ist der Haken?

– Kein Haken. Seit Ada … Also seit einem Jahr denke ich darüber nach …, sagte der General und erhob sich auf einmal. – … denke ich darüber nach, wie ich all dem, was geschehen ist, irgendeinen Sinn geben kann. Warum sie so fordernd war. Sowohl bei dir als auch bei mir. Sie war so verdammt moralisch … so verdammt moralisch. Von mir verlangte sie ein Eingeständnis. Sie wollte, dass ich etwas wiedergutmache. Und jetzt würde ich sagen, gebe ich uns die Chance, ihren letzten Willen in die Tat umzusetzen. Nennen wir das Ganze einen Versuch …

Die Erwähnung ihres Namens ließ den Schreiberling zusammenzucken. Ja, natürlich, er hatte diesen Namen aus seinem Leben verbannt, er existierte nicht mehr, und das unerwartete Aussprechen dieser drei Buchstaben hatte eine unvorstellbare Wirkung: Es lähmte ihn.

– Wie meinst du das?, fragte er mit leiser, brüchiger Stimme und wandte sich an den General, unternahm den Versuch, sich zu erheben, was ihm erst beim zweiten Anlauf gelang.

– Sie wollte, dass ich der Wahrheit ins Gesicht blicke, das Problem ist nur, dass ich nicht an die Wahrheit glaube. Genauso wenig, wie ich an irgendeine Moral glaube. Aber Ada, Ada erwies sich als hartnäckiger und kompromissloser als jeder andere Mensch, dem ich im Leben begegnet bin. Ich bin es ihr schuldig. Ich bin es ihr schuldig, in ihrem Sinne zu handeln. Und das Gleiche könnte man auch von dir verlangen. Nicht wahr?

– Ich verstehe immer noch nicht …

– Du verstehst mich sehr wohl. Stell dich nicht so blöd an! Vielleicht willst du mich einfach nicht verstehen. Was hast du all die Jahre versucht herauszufinden? Du hast doch mit ihr darüber gesprochen? Du hast sie mit diesem Irrsinn angesteckt! Und du hast sie dazu gebracht …

Der General spürte, wie er die Kontrolle verlor, wie die Wut wieder überhandnahm, aber er ermahnte sich, schluckte, atmete durch, er musste kühl bleiben, er durfte keine Sekunde lang von seinem Plan abweichen.

– Wir reden von Nura Gelajewa, Tschetschenien 1995.

Der Schreiberling blieb gefasst. Er versuchte ebenfalls, sich in Selbstbeherrschung zu üben.

– Und was haben ich oder diese Schauspielerin mit Nura Gelajewa zu tun?

– Das weißt du nicht, du im Selbstmitleid ertränkter Parasit, der meine Tochter an den Abgrund geführt und sie dort hinabgestoßen hat? Du willst mir erzählen, dass du nicht weißt, was du mit Nura Gelajewa zu tun haben sollst?

Er war sich nicht sicher, ob es Angst oder Verachtung war, die sich im Gesicht des Schreiberlings abzuzeichnen begann. Mit leicht geöffneten Lippen starrte er ihn an.

– Das wollte ich damit nicht sagen …

– Richtig so. Sei wenigstens Manns genug, ehrlich zu sein. Ehrlich zu dir selbst.

– Ich hasse mich stark genug, danke, ich brauche dich nicht, um mich daran zu erinnern.

– Nein, glaub mir, du kannst dich gar nicht genug hassen für das, was du getan hast.

– Ich habe sie geliebt, verdammt noch mal!, protestierte er, seine Hände zitterten wie die eines Alkoholikers.

– Geliebt. Ja, natürlich hast du sie geliebt.

Seine Stimme wurde eisig, als wäre seine Körpertemperatur in Sekundenschnelle in den Minusbereich gefallen. Einen Augenblick lang schien Onno unentschlossen, ob er sich gleich umdrehen und aus dem Saal stürmen, ihm an die Gurgel springen oder einfach resigniert zu einer reglosen Säule erstarren sollte.

– Du hast mein Leben zerstört, und das allein wegen deines irrsinnigen Vorsatzes, irgendeine verdammte Wahrheit zu finden, von der du glaubtest, sie der Welt schuldig zu sein. Und diesem Vorsatz wurde alles geopfert, das Heiligste und Wertvollste, was ich besaß. Und ich habe trotzdem Gnade gezeigt, habe dich am Leben gelassen! Das Mindeste, mein Freund, nach all dem, wäre wohl, mir blindlings zu folgen und aufrichtig zu sein!

Die Augen des Schreiberlings wurden von einem nebligen Film überzogen. War es ein Anflug von Schuld? Hatte er sich die letzten Monate eingeredet, er hätte es nicht verhindern können, dass ihre Entscheidung nichts mit ihm zu tun hatte, sie einzig und allein gegen ihren Vater vorgegangen war? Aber irgendwann musste es doch Minuten, Sekunden gegeben haben, in denen er anerkennen musste, dass diese Wahrheit mit endlos vielen Lügen gewürzt war.

– Also habe ich keine Wahl, wenn ich das richtig sehe?, fragte er und sah in Richtung Ausgang, zum weiß leuchtenden Männchen auf dem grünen EXIT-Schild. – Wozu dann dieser Besuch, diese Überzeugungsarbeit, dieses Treffen hier? Warum nicht gleich der Befehl, und sich diese Mühe sparen?

– Es ist deine Wahl, hier zu sein, es ist deine Wahl, am Leben zu sein, es ist deine Wahl, dir mein Anliegen anzuhören. Ich will nur wissen, ob meine Geschichte für dich weiterhin interessant ist, ob du sie immer noch erzählen willst. Und wenn nicht, dann kannst du dieses Gebäude sofort verlassen, ich werde alles tun, um dich nie wieder zu Gesicht zu bekommen, etwas, was mir keineswegs schwerfallen wird.

Er drehte dem Schreiberling den Rücken zu und verharrte so, schenkte ihm ein paar Sekunden zum Überlegen. Dann erhob er sich und ging einige Schritte durch den Raum. Der Schreiberling holte ihn ein, stellte sich zu ihm, fast berührte er ihn mit der Schulter, anscheinend gab es ihm ein gutes Gefühl, dass sie fast gleich groß waren, es wäre zu demütigend gewesen, sich jetzt auch noch physisch unterlegen zu fühlen.

– Du möchtest diese Geschichte also wieder aufrollen? Einen zweiten Gerichtsprozess? Geständnisse erzwingen? Ist es so?

– Wenn du es so nennen willst. Ja, ich möchte meinen ganz eigenen Gerichtsprozess. Ich werde die Männer ausfindig machen, die beteiligt waren. Ich werde sie zusammenbringen, und ich werde uns allen ein Urteil fällen. Ganz wie meine Tochter es wollte. Und du wirst mir dabei helfen. Und danach, wenn alles vorbei ist, gehört sie dir, die große Story. Vorher brauche ich aber dieses Mädchen. Und es ist kein Zufall, dass sie mir ausgerechnet jetzt über den Weg gelaufen ist. Du wirst sie dazu bringen, meinem Angebot zuzustimmen.

Er machte eine leichte Kopfdrehung.

– Auf der Bank liegt ein Umschlag. Darin sind Informationen über sie. Der Preis spielt keine Rolle, fügte er noch hinzu. Bevor er den Saal verließ, strich er sein Jackett glatt und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf.

– Bleib ruhig noch eine Weile bei Maria, warf er dem Schreiberling aus der Dunkelheit des Korridors zu.

Onno gehorchte und ging zurück zu der Bank. Die Stadt drang nicht bis hierhin durch. Es gab nur ihn und die Muttergottes mit ihrer unendlichen Trauer. Währenddessen schritt der General über den Marmorboden aus dem Saal und sah ihn vor sich, wie er den braunen Umschlag aufriss und sich die beiden Fotos anschaute. Wie er beim Anblick ihres Gesichts genauso zusammenschreckte wie er selbst, als er im Auto an diesem Theaterplakat vorbeigefahren und ihm ihr geschminktes Gesicht in die Augen gesprungen war. Natürlich hatte der Schreiberling Nura nie selbst gesehen, aber er kannte ihr Gesicht von den grobkörnigen Zeitungsausschnitten. Der General sah vor sich, wie Onno sich das Foto anschaute, das junge Mädchen mit dem kupferroten Haar, das an der Stirn einen kleinen weißen Fleck aufwies, das Mädchen mit den sumpfgrünen Augen, das gerade mit hektischen Schritten irgendeine Berliner Straße überquerte.

Dann würde er sich dem anderen Bild widmen. Wie sie sich verausgabt und verschwitzt und doch glücklich und erleichtert vor dem Publikum irgendeines kleinen Provinztheaters verbeugt. Er würde in ihrem »östlichen« Hintergrund irgendeine geografische Zuordnung suchen und würde scheitern. Er würde sich in ihren feinen Gesichtszügen verlieren, würde dann entdecken, dass unter der feinporigen Haut etwas Unheilverkündendes brodelt. Anders als bei Nura, die stets ihrer selbst so sicher gewirkt hatte, fast schon unnatürlich entschieden, war das Mädchen auf den Fotos keine, die geradlinig und kerzengrade durchs Leben lief, nein, sie wirkte eher wie eine, die von Widersprüchen zerfressen war.

Fragen würden in seinem Kopf auftauchen, anfangen, dort zu pochen. Und zugleich würde er staunen über seine schlagartige Wiederauferstehung, das Erwachen seiner verloren geglaubten Sinne, das Nervöse, das Manische, das Neugierige, blitzschnell wären sie wieder da.

… es ist vielmehr dieser über der Zeit stehende Zustand der Trauer … über der Zeit stehende Zustand der Trauer …

Dann würde der Schreiberling erneut einen Blick auf die Mater dolorosa werfen. Sie würde ihm das Gefühl geben, ihn in ihre Trauer mit einzuschließen. Und während er auf die von den Straßenlaternen beschienene, vom Novembermatsch nasse Straße taumeln würde, würde er selbst bereits seine Villa in Grunewald betreten, von seinen Hunden begrüßt werden. Würde dann, in der Hoffnung, dass Evgenia noch nicht zu Hause wäre, in seinem Kabinett verschwinden, dort in einem Ledersessel versinken und sich einen Drink bringen lassen. Und vielleicht würde es ihm gelingen, sich für einen Moment fallen zu lassen, seine Rüstung aus Stahl abzulegen. Und dann würde er die Augen schließen und sie spüren, wie sie mit ihrer Schulter seinen Arm berührt, wie sie gemeinsam mit ihm die Wandmalerei betrachtet, seine Tochter, zu diesem Zeitpunkt bereits von einer unbändigen Trauer festgehalten und in Misstrauen ertrinkend. Würde spüren, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellt, um ihm diese letzte, endgültige Frage zu stellen, die ihn jetzt noch zusammenzucken ließ, und dann, dann würde er sich wünschen, er hätte ihr eine andere Antwort gegeben.

Die Katze und der General

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