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Begegnung

Wenn ich rannte, konnte ich vielleicht noch einen kleinen Abstecher zum hiesigen Bäcker machen. Glücksgefühle überkamen mich, während ich mich langsam in Bewegung setzte. Im Vergleich zu den meisten anderen Menschen lief ich gern. Knapp fünfzig Kilogramm auf einen Meter fünfundsechzig verteilt, das ließ sich gut bewegen. Die Luft roch angenehm nach Moos und Feuchtigkeit. Der Himmel war bedeckt, aber die Wolkendecke dünn, sodass ich die mittägliche Sonne schon erahnen konnte. Früher hatten um diese Jahreszeit die Vögel gezwitschert. Inzwischen waren sie in Gefilde abgewandert, in denen es mehr grüne Vegetation und besseres Wasser gab. April – der Frühling war auch ohne Vögel im Landeanflug. Ich genoss den minimalen Gegenwind, den meine Bewegungen auslösten.

Mich traf schier der Schlag, als ich den Anschlag an Sabritzkis Tante-Emma-Laden sah: Die Literflasche Wasser kostete mittlerweile satte fünf Dollar. Es war unfassbar! Ich würde bald einen Kredit für Grundnahrungsmittel aufnehmen müssen. Vor zehn Jahren hatten die Demokraten im Kongress davor gewarnt, dass Wasser bald über drei Dollar kosten würde. Ein Aufschrei war durch die Nation gegangen: Drei Dollar! Da hätten wir ja gleich unser Öl trinken können – das wäre günstiger gewesen. Tödlich, aber günstig. Natürlich hatte es jahrelang keine verbindlichen CO₂-Abkommen gegeben. Klimaschutz war einfach zu teuer. Umweltschutz und Recycling blieben viel zu lange das Privileg der großen Industrienationen. Und selbst die hatten es damit nicht so genau genommen.

Der Super-GAU aus 2018: die chemischen Gifte und die Dreckwolken im Meer, die den Weg bis heute über den Regen in unsere Städte fanden: Heute zahlten wir alle die Rechnung für unsere Dummheit.

Seitdem die Wasserpreise über vier Dollar gestiegen waren, beschwerte sich niemand mehr. Es war eine Art stiller Resignation, mit der wir akzeptiert hatten, dass das Wichtigste, das wir neben der Luft zum Atmen brauchten, plötzlich zum Luxusartikel geworden war. Es gab einfach kein sauberes Wasser mehr. Wir hatten unseren verdammten Planeten verkommen lassen. In ein paar Jahren würden wir vermutlich zu Tausenden in Chicago mit Wasserkanistern an einem Tankwagen anstehen. Die Geschichte hatte uns schon lange eingeholt.

Als ich die Tür zum Coffeeshop öffnete, kam mir sofort der Duft von warmem Brot entgegen. Es gab schlimmere Gerüche. Zwei Teenager bezahlten noch ihre Brötchen, aus denen zerquetschte Marshmallows herausquollen. Ich war dran. „Morgen.“

„Morgen. Was darf’s sein?“

Ich bestellte einen Latte und ein Croissant, die gelegentliche Frühstückshommage an das Heimatland meines Vaters. Die Aussicht auf Milchschaum und Butter hatte eine fast erhebende Wirkung auf mich.

„Kann ich sofort zahlen?“

„Klar. Ich bring Ihnen die Sachen gleich.“

Ich legte das abgezählte Geld auf den Tresen und suchte mir einen Platz auf der Fensterbank vor den bodentiefen Schaufenstern. Es war der perfekte Platz: Ich sah die Straße und konnte mit einer kleinen Wendung meines Körpers beobachten, wie mein Kaffee zubereitet und das Croissant auf einem Tellerchen platziert wurden. Im Hintergrund sangen die Beatles „Yesterday“ aus einer rauschenden Pod-Anlage. Die alten Dinger hatten eine himmelschreiend schlechte Qualität. Jeder, der etwas auf sich hielt, verlinkte die Boxen einfach mit seinem Mob. Im hinteren Teil des Ladens gab es noch einen Stehtisch und zwei Tische für jeweils vier Personen. Für die üblichen Seniorentreffs war es noch zu früh.

Links neben mir buhlte die aktuelle Schlagzeile der Tageszeitung in großen schwarzen Lettern um meine Aufmerksamkeit: „Mehrere Tote im Mirror Lake – Vergiftet?“ Ich nahm das Blatt hoch. Wer schwamm heute noch im Mirror Lake? Das glich einem Selbstmordkommando. Der See war seit Jahren verunreinigt. Meine Augen flogen über die Zeilen. Die Knochen mussten schon ewig im See gewesen sein, irgendetwas hatte sie lange genug unter Wasser festgehalten. Dass nach über 15 Jahren, so lautete die Schätzung des Gerichtsmediziners, überhaupt noch etwas von den Menschen übrig war, grenzte an ein Wunder. Die Todesursache war noch unklar – man hatte hohe Konzentrationen von Umweltgiften in den körperlichen Überresten gefunden.

Umweltverschmutzung. Das Übel unserer Zeit. Ich kannte niemanden mehr, der ohne Filter duschte. Filter, die Einfachlösung für die Probleme unserer Zeit. Wir duschten durch Filter, wir pinkelten hinein. Jeder Tropfen Wasser wurde gespart und wiederverwendet. Baden – ein Luxus für die oberen Zehntausend. Todesfälle durch Ertrinken hatten sich in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht. Niemand würde heute noch freiwillig in einem offenen Gewässer schwimmen. In den letzten zwanzig Jahren des neuen Jahrtausends waren mehr Menschen beim Schwimmen in Flüssen und Seen gestorben als bei Verkehrsunfällen. Das behauptete zumindest die Statistik. Man musste weit reisen, um noch saubere Küsten anzutreffen, und die Urlaubsanbieter ließen sich das gut bezahlen.

Der 18. Dezember 2018 hatte sich in das kollektive Gedächtnis eingeprägt wie die Terroranschläge vom 11. September 2001. Der Tag, an dem Mutter Erde nach Ansicht der Verschwörungstheoretiker zurückgeschlagen hatte. Erdbeben im Atlantik und Pazifik hatten Tsunamis ausgelöst. An Weihnachten hatten alle das Ausmaß der Jahrhundertkatastrophe verstanden: Die seit Jahren in den Ozeanen dümpelnden Dreckwolken aus Müll, Dioxinen und Kunststoffen – jede für sich so groß wie Australien – waren in ihren feinen Einzelteilen über die Küsten und Meere verteilt worden. Auch die gigantische chemische Industrie von Tokio war damals binnen Minuten vom Meer verschluckt worden. Ihre Gifte und die anderer zerstörter Chemie-Großanlagen an den Küsten verteilten Ebbe und Flut noch heute über den gesamten Planeten.

Die Klimakatastrophe, die durch den Treibhauseffekt und die Gletscher- und Polareisschmelze vorangetrieben wurde, hatte allein schon gereicht, um die Nationen dieser Welt in große Schwierigkeiten zu stürzen: Die rapide wachsende Weltbevölkerung hatte immer weniger Trinkwasser zur Verfügung. In Südamerika gaben die Andengletscher kein Wasser mehr her – die Kraftwerke produzierten als Folge davon weniger Strom. Der Himalaja konnte mit seinen schwindenden Gletscherseen immer weniger Chinesen versorgen. Die Permafrostböden in Russland waren abgeschmolzen. Anstieg des Wasserpegels in den Küstenregionen, Dürre und Versandung im Landesinneren aller Kontinente. Und während all dies unter den Augen der Weltbevölkerung und der Regierungen dieser Welt geschah, hatten die USA sich weiterhin stur geweigert, verbindliche Treibhausgas-Richtlinien zu unterzeichnen.

Trinkwasser verdiente seit Jahren den Namen nicht mehr. Nur Wasser in versiegelten Flaschen zertifizierter Firmen war noch sicher. PET-Regen, überall da, wo die Luft am meisten verschmutzt war. Die Schwermetalle, Weichmacher und Hormone wanderten über die kranken Bäume ins Grundwasser, und die Zuflüsse versauten die großen Gewässer. Dann begann der Kreislauf von Neuem. Die Kosten für die Aufbereitung verschmutzten Wassers überstiegen mittlerweile locker jeden Rüstungsetat.

Ich bedankte mich für meinen Kaffee und überlegte, ob er vor meiner Geburt wohl anders geschmeckt hatte. Während ich in mein Croissant biss, öffnete sich die Tür ein weiteres Mal. Drei Personen betraten den Raum. Es war, als hätten sie einen ganzen Schwung kalte Morgenluft mit hereingebracht. Sie grüßten kurz und gingen direkt auf einen der zwei Tische zu. Einer der drei setzte sich mit dem Rücken zur Wand, die anderen nahmen gegenüber Platz.

Mein Blick hatte sich an dem Kleinen festgesaugt, der mit dem Rücken zur Wand saß. Gerade lachte er leise über etwas, das sein Gegenüber gesagt hatte. Mann, der Typ war riesig: mindestens ein Meter fünfundneunzig! Ich hätte neben ihm ausgesehen wie ein Schulkind. Er hatte dunkle, kurze Haare und einen großen Mund. Dunkle Augen. Hundeaugen. Die Nase war griechisch gebogen. Eine schöne Nase. Eine Hand des Riesen lag auf seinem Oberschenkel. Demnach hätte der Mann Möbelpacker sein können. Bestimmt konnte er rohe Kartoffeln in seiner Hand zerquetschen ... oder Walnüsse einhändig knacken. Das karierte Hemd spannte an seinen Oberarmen. Trotzdem fand ich ihn wohlproportioniert; er war kein aufgeblasener Bodybuilder. Aber kein Fall für mich. Ich stand nicht auf griechische Götter. Mein Blick schweifte zu dem Mann, der den beiden anderen gegenübersaß. Seine Haare waren blond, ziemlich durcheinander, und sein Gesicht war ernst. Er saß aufrecht auf seinem Stuhl und hatte seine schmalen, hellen Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet. Er sah gut aus. Gut auf eine selbstbewusste und entspannte Weise. Er war keiner griechischen Sage entsprungen. Für einen Sterblichen war er ein ganz schöner Hingucker. Sein Anzug war dunkel und teuer. Wenn er lachte, konnte man kaum den Blick von ihm abwenden.

Er erinnerte mich an jemanden. Und während ich noch gedankenverloren an meinem Kaffee nippte, schaute er plötzlich zurück. Unsere Augen trafen sich nur eine Nanosekunde, bevor ich schnell meinen Blick senkte. Ich spürte, dass er mich weiter ansah. Warum hatte ich mich abgewendet? O Gott, war das peinlich! Ich hätte ihm standhalten sollen. An wen erinnerte mich der Typ? Na, ich konnte ja gleich wieder rüberstarren. Ich kam mir vor wie ein Idiot! Der Biss in mein Croissant wurde plötzlich zur Theatervorführung. Ich kaute vor, er schaute zu. Jede Faser des Hörnchens quoll in meinem Mund auf. Super. Gleich fällt es mir aus dem Mund, dachte ich. Trink was, du Idiot!, mahnte meine innere Stimme. Und da machte es endlich „klick“. Ich konnte nicht anders und schaute nochmals mit aufgerissenen Augen zu der Sitzecke rüber. Der kleine Blonde guckte mich immer noch an. Unsere Blicke verschränkten sich. Auch die anderen beiden sahen plötzlich zu mir rüber. Ich versuchte es mit einem kleinen Lächeln, aber jetzt hatte ich Gewissheit: Das musste Ethan Waterman sein. Die Haare stimmten, nur seine Gesichtszüge waren etwas jungenhafter als auf den Fotos. Als ich mich wieder abwendete, fragte ich mich: Was zum Teufel machte Ethan Waterman hier in meinem Coffeeshop?

Schlecht für mich: Er hatte nicht zurückgelächelt. Ich ermahnte mich, professionell zu sein. Ich wollte schließlich etwas von ihm. Promis waren mir in der Regel egal. Ich hatte mich noch nie von irgendwelchem Starrummel anstecken lassen. Was mich interessierte, war, was die Leute taten, nicht wie sie aussahen oder welche Klamotten sie trugen. Ich hatte als Kind nicht mal Poster an meinen Wänden aufgehängt. Wenn ich meine Interviews machte, versuchte ich mich aufs Wesentliche zu konzentrieren und ein paar Überraschungen neben den üblichen PR-Infos rauszukriegen. Das gelang mir keinesfalls immer. Im Prinzip spielten alle Beteiligten die immer gleichen Rollen in dem Spiel der Stars und Sternchen: „Glänzet mit im Schein meines neuen Films/meines neuen Buches/meines neuen Kunstwerks“. Es war wie im normalen Leben auch: Man verstand sich nicht mit allen Künstlern gut, aber wenn man eine Ebene gefunden hatte, kamen dabei interessantere Informationen heraus als bei gegenseitiger Ablehnung. Ich versuchte jedenfalls, auch mit den Spinnern respektvoll umzugehen. Oft waren mir die noch am sympathischsten. Zugegebenermaßen stand industrieller Geldadel bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf meiner Liste.

Was sollte ich jetzt tun? Mich blöd stellen? Nachher würde ich bei ihm zu Hause auflaufen und erklären müssen, warum ich nicht gleich heute Morgen geschaltet hatte. Aber hingehen und ihn ansprechen? War das nicht, als würde man King William um ein Autogramm bitten? Industriemagnaten hatten wahrscheinlich keine Übung mit hysterischen Fans, die ihnen überall auflauerten. Ich war eigentlich nicht hysterisch. Genau genommen war ich nicht mal ein Fan. Ich kam mir gerade eher vor wie ein verschüchtertes Highschool-Mädchen. Weil ich das nicht von mir kannte, beschloss ich, zu Mr. Ethan Waterman rüberzugehen und meine Annahme zu überprüfen.

Ich schaute von meinen Hörnchen auf, holte tief Luft und musste zu meiner Überraschung feststellen, dass ich keinen Schritt mehr machen musste. Mr. Vielleicht-Ethan-Waterman stand keine dreißig Zentimeter von mir entfernt und sagte: „Hi, Sie sind Nia Petit. Ich bin Ethan Waterman. Freut mich“, und streckte mir seine lange, schmale Hand hin. Wie fürs Klavierspielen gemacht, dachte ich und schluckte trocken. Ich räusperte mich und versuchte, die roten Flecken in meinem Gesicht wegzudenken.

„Hi. Schön, dass das geklärt ist.“ Ich entzog ihm meine feuchte Hand, die er immer noch festgehalten hatte.

„Sie machen Ihrem Namen alle Ehre. Ich hatte mir Sie größer vorgestellt.“

„Dito.“ Er lachte entwaffnend.

Warum hatte er überhaupt eine Vorstellung von mir gehabt?

Seine Freunde hatten sich hinter ihm aufgebaut und verfolgten die Begrüßung mit großer Aufmerksamkeit. Da ich mir sitzend unterlegen vorkam, stand ich polternd auf. Der Riese und die Blonde rückten an Watermans Seite vor, als hätte ihnen jemand ein geheimes Kommando gegeben. Irgendwie wirkten sie bedrohlich.

„Ich bin unbewaffnet“, schnappte ich.

Waterman lachte, was seine beiden Aufpasser zu entspannen schien.

„Sir. Soll Ich Ihre Bestellung hier absetzen?“, ließ sich die Bedienung aus dem Hintergrund vernehmen.

Langsam wandte sich Waterman um. „Packen Sie es uns bitte ein.“ Ein entschuldigender Blick zu mir: „Ich gehe dann mal zahlen. Ich nehme an, Sie fahren gleich mit uns?“ „Sie verlieren keine Zeit, was?“, murmelte ich und griff nach meiner Tasche. Großartiger Einstieg. Und das schon zum Frühstück.

„Normalerweise nicht“, hörte ich ihn sagen, während er das Geld auf die Theke legte und eine Tüte vom Tresen nahm. „Der Rest ist für Sie.“

„Oh, danke, Sir“, flötete die Bedienung, am Kragen ihrer Uniformbluse zupfend.

„Darf ich?“, fragte ich die Blondine und den Riesen.

Die beiden rückten auseinander, um mir den Weg zur Tür frei zu machen.

Das Licht draußen kam mir plötzlich grell und unwirklich vor. Wieso wusste der Typ meinen Namen und hatte mich sofort erkannt? Hatte Keeler den Boten mit einem Foto anmelden müssen? Ich würde das sicher gleich herausfinden.

Hinter mir schloss sich die Tür mit einem melodischen Klingeln. Ich drehte mich um und sah Waterman fragend an.

„Da lang“, sagte er und zeigte nach rechts.

„Nach Ihnen.“

Die drei gingen an mir vorbei, und ich hatte endlich Zeit, einen Blick auf die Frau zu werfen. Sie war schlicht und ergreifend schön. Groß, schlank, ebenmäßige, vielleicht etwas harte Gesichtszüge. Meine blauen Augen verblassten gegen das leuchtende Blau der ihren. Sie schritt kraftvoll aus. Alles an ihr war fest und kompromisslos.

Wir machten halt vor einem glänzenden Citroën DS. Ich war kein Autoexperte, und mein Wissen beschränkte sich auf kindliche Bezeichnungen wie Geländewagen, Rennauto, Laster oder Krankenwagen. Aber dieses Auto kannte ich, weil mein Vater immer davon geträumt hatte. Ein europäisches Auto. Er verehrte damals die schnittigen Formen, die geraden langen, abfallenden Linien, die Technik sowie die puristische Ausstattung. Die Karosserie konnte gehoben und gesenkt werden – ein fragwürdiger Gimmick. Hier stand das Modell in Babyblau. Wahnsinn. Nur auf Kuba wäre man mit diesem vorsintflutlichen Gefährt nicht aufgefallen.

Ich war erstaunt, als die Blondine den Schlüssel zückte und die Männer ohne Murren auf Beifahrer- und Rückseite auswichen. Gehorsam stieg ich hinten ein und setzte mich neben den Riesen. Immerhin hatte ich so einen guten Blick auf Ethan Waterman, der sich leicht seitlich an die Tür gelehnt hatte.

„Nia Petit, angenehm.“ Ich hielt meinem Rücksitznachbarn die Hand hin. Es wurde Zeit, dass ich mich schlaumachte. Zögernd betrachtete der Riese meine Hand, bis er schließlich die seine ausstreckte. Natürlich drückte er so fest zu, dass zwei meiner Knöchel knackten.

„Felix Waterman“, ertönte sein Bass mit einem breiten Lächeln, während ich meine Hand bewegte, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu setzen.

„Sein Bruder?“ Die Frage hatte erstaunter geklungen als geplant.

„Yep.“

Ethan Waterman hatte also einen Bruder, der – unterschiedlich, wie sie aussahen – aus einem anderen Wurf hätte stammen können.

„Venus Persson“, ließ sich nun auch die Blondine vom Fahrersitz aus vernehmen. Der Name war Programm. Ihre tiefe Stimme war viel weicher als erwartet.

Ich wartete.

Die schöne Venus legte den Gang ein und machte das Radio an. Ich vernahm zunächst nur ein leises Rauschen. Dann kurbelten alle ihre Fenster runter. Das Quietschen der alten Gummidichtungen begleitete die heruntergleitenden Scheiben. Niemand sprach, aber das lange Schweigen schien niemanden zu stören. Kristallklar ertönten die ersten Klänge einer Band, die ich erst neulich zum ersten Mal im Radio mitbekommen hatte. Ich suchte in meiner Erinnerung. Love Dubsters, die Nummer hieß „Brillant“ – und das war sie auch. Die Anlage war offensichtlich nicht so alt wie das Auto, aber auch nicht mobgesteuert. Ich war überrascht, solche Musik hier zu hören. Irgendwie hatte ich mit Mainstream-Pop oder dem Besten aus den letzten zwei Jahrzehnten gerechnet.

„Journalistin also.“ Ethan Waterman hatte es wie eine Mischung aus Frage und Feststellung klingen lassen.

Ich nickte.

„Stars und Sternchen – nicht gerade investigativ.“

Meine innere Registrierkasse zählte: eins. Eine freche Bemerkung – vielleicht unabsichtlich.

„Das kommt darauf an, wie man seinen Job versteht. Auch bei den kleinen Lichtern verstecken sich gute Geschichten.“

„Während unser Planet zugrunde geht, suchen Sie nach etwas Berichtenswertem bei Sitcom-Darstellern, die nur jeder Fünfzehnte überhaupt kennt?“

Ring! Ring! Zwei Unverschämtheiten. Jetzt war es eindeutig Unhöflichkeit. Ich schluckte, bemühte mich um Gelassenheit. In mir brodelte es bereits. „Dürfen wir jetzt nur noch über Katastrophen berichten? Neben Wasserknappheit, Hunger und Gewalt gibt es doch noch jede Menge andere Themen, die uns Menschen interessieren.“

Ethan Waterman sah mir fest in die Augen. Mir blieb fast die Spucke weg, als ich hörte, was er mit größter Selbstverständlichkeit feststellte: „Sie gehören einer aussterbenden Art an, Mrs. Petit!“

„Ethan!“ Felix Waterman hatte seinen Bruder mit der Hand über den Sitz hinweg angestoßen. Er sah schockiert aus. Die charmante Art seines Bruders war ihm offensichtlich peinlich. Nur Venus blickte unbewegt auf die Straße, als säße sie allein im Wagen.

Ring! Ring! Ring! Meine innere Registrierkasse war sehr genau in solchen Dingen: drei Beleidigungen in drei Sätzen. Es reichte!

„Was soll das, Mr. Waterman? Wenn Sie mir erklären wollen, dass kaum noch Magazine und Zeitungen gedruckt werden, erzählen Sie mir nichts Neues. Aber die Zeitschriften haben trotzdem überlebt – und ich mit ihnen. Nur weil es mehr Blogger als Sand am Meer gibt, heißt das noch lange nicht, dass ich als Journalistin mit meinen Interviews und Geschichten keine Existenzberechtigung mehr habe.“

Die Musik lief weiter, aber sie klang wesentlich leiser in meinen Ohren. Warum feindete er mich plötzlich so an? Ich hatte mich nach vorn gelehnt und spürte die Spannung, die uns miteinander verband.

Ethan Waterman betrachtete mich wie ein seltsames Insekt. In seinen Augen las ich mehr Botschaften als in seinen harten Worten. „Das war nicht ganz das, was ich meinte.“

„Nun, dann täte Ihnen ein wenig sprachliche Genauigkeit vielleicht gut. Es erleichtert die Verständigung ungemein.“

Wenn ich Felix’ unterdrückten Hustenanfall so deuten wollte, hatte das gesessen. Was für ein kapitaler Angeber sein Bruder war! Zu viel Reichtum machte zwangsläufig arrogant.

„Gehen Sie immer so mit Ihren Interviewpartnern um?“, erkundigte sich Ethan Waterman belustigt.

Ich?! Der hatte Nerven! „Sie sind nicht mein Interviewpartner. Ich bin nur der Bote, und Sie haben etwas, das ich abholen muss. Falls Ihnen das nicht passt, lassen Sie mich doch einfach an der nächsten Ecke aussteigen.“

Felix hatte irgendetwas gesagt, aber ich hatte es nicht gehört. Ich war mächtig genervt, mental auf Autopilot. Eine Stimme in meinem Kopf sagte: „Gib es ihm!“, die andere mahnte: „Komm runter, sei ein Profi!“

Dann sagte er mit diesem unverschämt geheimnisvollen Lächeln: „Nein. Es passt mir sehr gut, dass Sie hier sind.“

„Damit sind Sie mittlerweile allein“, fügte ich halblaut hinzu. Selbst etwas Nettes klang aus seinem Mund wie eine Gefälligkeit. Ich verfluchte ihn stumm in zwölf Sprachen. Dann atmete ich tief durch, lehnte mich zurück und versuchte, die Fahrt zu genießen.

Der kühle Fahrtwind wehte zum Fenster herein. Die immer gleichen Holzhäuser zogen an uns vorbei wie eine Parade ausgebleichter Bausteine. Die wenigen Autos, die uns entgegenkamen, rollten leise vorüber. Die Gitarrenklänge der Musik schmeichelten sich in meine Ohren ein.

Ich, die ich noch nicht mal ein Auto besaß, erinnerte mich plötzlich wieder, warum auch Autofahren eine meditative Erfahrung sein konnte. Die letzten Häuser flogen am Fenster vorbei. Die Sonne schien auf mein Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen und atmete langsam ein und aus. Watermans intensiver Blick hatte sich wieder einmal auf mein Gesicht geheftet – ich spürte es. Der Mann war ganz schön unverfroren. Ich sollte eigentlich diejenige sein, die glotzte. Das tat ich jetzt. Und während wir einander in die Augen starrten und keiner auf kindische Weise aufgeben wollte, sagte er plötzlich: „Da wären wir“, und zeigte auf ein großes schmiedeeisernes Tor, das wie von selbst aufglitt.

Aqualove

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