Читать книгу Amélie und die Sturmzeit von Valfleur - Nora Berger - Страница 11

8 Liebelei

Оглавление

Tage und Wochen waren vergangen, in denen sich der Altweibersommer hartnäckig gehalten hatte. Die trüben Nachrichten aus der Hauptstadt mehrten sich, es gab kein Brot, und die Stimmung gegen den König, der in den Augen der Bürger zu keinem Entschluss fähig war, verschlechterte sich zusehends. Der Ruf nach den Generalständen wurde lauter und lauter, und man setzte die ganze Hoffnung auf diese Versammlung, die den Zwist zwischen Parlament und König, zwischen Adeligen, der Kirche und dem dritten Stand schlichten sollte. In allen Provinzen waren die Vorbereitungen in vollem Gange. Man bemühte sich, aus den Ständen die fähigsten Köpfe zu wählen. Aber das alles brauchte Zeit, denn diese Versammlung war schon seit Hunderten von Jahren nicht mehr einberufen worden, und der Termin musste aus den verschiedensten Gründen immer wieder verschoben werden.

Nach kurzer Haft in der Bastille waren der Baron d’Emprenvil und sein jüngerer Magistratskollege de Montalembert, der sich öffentlich auf die Seite des älteren Freundes gestellt hatte, aufgrund heftigster Proteste des Parlaments und der Bürger wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Doch der König sah sich gezwungen, seine Machtposition nach diesem Affront stärker zu behaupten und dem aufmüpfigen Parlament, das wie ein Mann hinter den renitenten Räten stand, einen Denkzettel zu erteilen. Kurz entschlossen und auf Drängen seines Finanzministers de Brienne verbannte er das gesamte Parlament aus Paris nach Troyes. Wie Zunder flammten jetzt aber erst recht die Proteste empor. So etwas war noch nie da gewesen! Nachdem offensichtlich war, dass das Volk ganz auf der Seite der beiden hauptschuldigen Räte, d’Emprenvil und de Montalembert, stand, milderte er das harte Urteil der Gefängnisstrafe und die einjährige Verbannung auf die Insel St. Marguerite in eine gnädigere Form ab. Die beiden wurden vorläufig aus der Hauptstadt und aus dem Parlament zu einem befristeten Aufenthalt auf ihren Landgütern verbannt. Sollten sie sich weiterhin ungehorsam und widersetzlich zeigen, müsste man eben härtere Maßnahmen ergreifen.

Nachdem sich der Baron auf seine Güter verbannt sah, wurde de Montalembert zu einem ständigen Gast auf Valfleur. Die beiden Männer, durch das Schicksal zusammengeschmiedet, freundeten sich an, sie unternahmen weite Ausritte und debattierten abends am Kamin bis tief in die Nacht hinein über die verfahrene Lage des Landes.

Das ruhige und beschauliche Leben auf Valfleur war einer regen Betriebsamkeit gewichen, die bestimmt war von den Fragen der großen Politik. Fieberhaft wurden Boten mit neuen Nachrichten aus Paris und Troyes erwartet, Artikel abgefasst, Flugblätter verteilt und Briefe geschrieben. Obwohl es d’Emprenvil strengstens verboten war und er auch nur aus der Ferne agieren konnte, mischte er sich weiterhin in die Geschicke des Landes ein. Dabei diente de Montalembert ihm nicht nur als Informant, sondern auch als Sprachrohr: Durch seine Kontakte mit einem anderen Magistrat ließ er die Vorschläge des Barons dem Parlament unterbreiten. Immer wieder sandten beide auch Gnadengesuche an den König mit der Bitte um vorzeitige Einsetzung in Amt und Würden, begleitet von Versicherungen der Ergebenheit in die Monarchie. Außerdem betrieben sie eine Politik auf geheimen Schleichwegen, die ohne die Bezahlung von Bestechungsgeldern nicht möglich gewesen wäre, denn nur so konnte man sich mittels Personen von Stand und Ehre beim König immer wieder ins Gedächtnis rufen. Man wusste schließlich um seine Gutmütigkeit und darum, dass er ungern Strenge walten ließ und dass er in diesen Zeiten nicht mehr wusste, wem er überhaupt sein Ohr leihen sollte.

Camille Desmoulins, dessen Publikation Die Revolutionen von Flandern und Brabant mehr und mehr von sich reden machte, war der Dritte im Bunde. Er sorgte dafür, dass das Volk im Ami du Peuple, einer radikalen Zeitung, die er mit einem gewissen Marat gegründet hatte, über die neuesten Entwicklungen informiert wurde. Das hielt ihn allerdings nicht ab, sozusagen unter den Augen des Ehemanns, Laura weiterhin heimlich den Hof zu machen. Seit seinem Einsatz beim Polizeipräfekten hatte seine Verehrung für die Baronin einen neuen, fordernden Ton angenommen. Dass Laura ihm immer wieder geschickt auszuweichen wusste, ihn mit Versprechungen hinhielt und ihn erstaunt zurückwies, wenn er diese einfordern wollte, reizte ihn umso mehr. Sie hoffte wohl, ihn schadlos zu halten, indem sie in aller Heimlichkeit seine Blätter korrigierte. Mit leichter Hand warf sie flammende Aufrufe an das Volk aufs Papier, die den Journalisten frappierten. Wo hatte sie das nur gelernt? Doch dieses Spiel zerrte an seinen Nerven, und wenn er auch manchmal wütend wegfuhr und sich schwor, sie nie mehr wiedersehen zu wollen, so kehrte er doch bald zurück, und das Spiel begann von Neuem.

Eines Tages, der Baron war mit de Montalembert auf einem Jagdausflug, kam der Journalist gegen Mittag abgehetzt in Valfleur an. Er hatte an einem Artikel gearbeitet, in dem er voll beißender Ironie die Angst des Königs vor dem rebellischen Parlament schilderte, das ihm buchstäblich auf dem Kopf herumtrampelte; die Satire sollte untermalt werden durch eine von einem Freund angefertigte karikaturistische Zeichnung. Doch trotz aller Mühen fehlte dem Artikel der nötige Feinschliff; Desmoulins hatte entworfen und gestrichen, ohne auch nur im Entferntesten zufrieden zu sein. Lauras Bild mit ihrem spöttischen Lächeln, wenn ihr eine Formulierung nicht gefiel, hatte sich unentwegt vor sein geistiges Auge geschoben, bis er sich schließlich nicht mehr hatte konzentrieren können. Als er nun, von der Kutschfahrt erschöpft, in Valfleur eintraf, beschied man ihm mit etwas mokantem Blick, Madame sei im Garten.

Wahrscheinlich würde er Laura an der Leinwand und umgeben von Farben im Pavillon antreffen. Seit die meisten Freunde ausblieben, die früher Valfleur besucht hatten, fanden in der luftigen, im chinesischen Stil gehaltenen Konstruktion auch keine Dichterlesungen mehr statt. Seither stand der Pavillon ein wenig verlassen unter den blassen Birken, deren Zweige verloren im Winde rauschten. Sie liebte es, an diesem Ort die Ruhe zu genießen, an ihrem neuen Roman zu schreiben oder ein paar Verszeilen zu Papier zu bringen; oder, wie seit Neuestem durch Arombert angeregt, ein wenig zu malen. Nur hier konnte sie den Klagen ihres Mannes über die Eintönigkeit des Landlebens entrinnen, wenn er wieder einmal seine Launen ob der Zögerlichkeit des Königs an ihr ausließ.

Als sie mit einem kurzen Blick Desmoulins aus der Ferne vom Schloss her kommen sah, legte sie seufzend den Pinsel aus der Hand. Ihr blieb doch nichts erspart. Früher hatte sie der Journalist wenig gestört; er kam und ging, wann er wollte, und ward immer gern gesehen. Doch in letzter Zeit brannte die Luft um ihn herum. Seine Blicke verfolgten sie überallhin und klagten sie gewissermaßen der Nichteinhaltung eines Versprechens an, das sie ihm leichtfertig, in der Not ihres Herzens, gegeben hatte. In den letzten Wochen, seit er Patricks Entlassung aus dem Gefängnis bewirkt hatte, war er oft da gewesen und ebenso schnell wieder abgereist. Er schlich im Hause herum, saß mit finsterem Gesicht bei den Mahlzeiten oder grübelte über seinen Schriften. Wann immer er in der Nähe war, spürte sie den glühenden Blick seiner schwarzen Augen, und seine beleidigte Miene schien zu sagen: Hattest du mir nicht etwas in Aussicht gestellt für das, was ich für dich getan habe? Ihre leichtfertig gewährten Küsse schienen ihm noch dazu das Recht zu geben, mehr zu verlangen. Dennoch schob sie den Gedanken, seine Geliebte zu werden, weit von sich.

Ihr Mann, zerstreut und großzügig, war ahnungslos oder tat jedenfalls so. Er duldete den jungen Journalisten, seine radikalen Ideen amüsierten ihn; im Übrigen liebte er es, Menschen um sich zu haben, obwohl er mit dem ungelenken Bücherwurm weder reiten noch jagen noch sonst etwas Praktisches anzufangen wusste. Nur herrlich über Politik diskutieren konnte er mit ihm – auch wenn der Baron bisweilen über die unbeugsame Haltung Desmoulins erschrak, die er dem blassen Jüngling gar nicht zugetraut hätte.

Mit einem Mal hatte Laura das Gefühl, in dem kleinen Raum zu ersticken, und sie trat hinaus, um zerstreut die welken Blüten an den Rosenstöcken am Fenster abzuzupfen, die ihren Duft noch bewahrt hatten. Der Kiesweg knirschte leise, und Desmoulins tauchte wie ein Schatten an ihrer Seite auf. Er umfasste sie leidenschaftlich, und als sie seine Züge sah, in denen sich seine aufgewühlten Emotionen spiegelten, wusste sie, dass jeder Widerstand zwecklos war. Vergeblich machte sie einige schwache Versuche, sich zu wehren, als Desmoulins sie in den Pavillon zog und sie auf das kleine, zierliche Sofa drängte.

»Ich liebe Sie«, stieß er erregt hervor und presste sie ungestüm an sich. »Sie haben es mir versprochen... Die ganze Zeit haben Sie mich hingehalten... Sie rauben mir den Verstand, wenn ich das noch länger aushalten muss.« Immer noch versuchte sie, sich ihm zu entwinden, doch ihre Abwehr erregte ihn umso mehr. Zärtlich liebkoste er ihren Hals, ihre nackten Schultern; und das heisere Timbre seiner Stimme an ihrem Ohr, wenn er ihren Namen in sehnsuchtsvoller Glut immer wieder hervorstieß, ließ sie erzittern. Aus dem Spiel flüchtiger Küsse war mit einem Mal Ernst geworden, und nun musste sie zahlen für die Hoffnungen, die sie erweckt, für die Dienste, die sie gefordert hatte. Doch wo sie bisher nur ein leichtes Kitzeln des Verbotenen, des Abenteuers gespürt hatte, stellte sich plötzlich eine ungeahnte Lust ein. Angesichts der zarten Berührungen und der drängenden Entschlossenheit überlief sie eine Gänsehaut, sie spürte, wie ihre Glieder wohlig erschlafften, dass sie dem Verstand nicht mehr Untertan war. Mit einem halbherzigen Seufzer gab sie den vergeblichen Widerstand auf, schlang die Arme um seinen Hals und sah unter ihren halb geschlossenen Lidern die von Leidenschaft und Feuer verzerrten Züge Desmoulins, die seinem finsteren Gesicht eine eigentümliche Schönheit verliehen. Und so ließ sie sich forttragen von der hervorbrechenden Glut seiner lange unterdrückten Gefühle.

Mit schweren Stürmen, Gewitter und Hagelschlag kündigte sich die Herrschaft des Herbstes an. Die Luft war kühler geworden, und wirbelnde Windböen rissen Blätter und Äste von Bäumen und Sträuchern. Regen strömte vom verfinsterten Himmel in endlosen Sturzbächen herab, Wassermassen, welche die in der langen Hitzeperiode ausgetrocknete Erde kaum aufnehmen konnte. Bäche und Flüsse schwollen an und überfluteten ganze Landstriche. Die Bauern verfluchten die missratene Ernte, den zu trockenen Sommer und das Nass zur falschen Zeit. Wie sollten sie den Winter überstehen? Drohende Wolken standen am Horizont, etwas Unnennbares schien sich zusammenzubrauen, in dem sich Wut und Unzufriedenheit über lange, geduldig ertragene Unbill eines im Grunde heiteren und gelassenen Volkes mischten.

Die Menschen hungerten, während der König ungerührt und schlecht beraten in Versailles seiner Leidenschaft, der Jagd, frönte. Dass Marie Antoinette gerade jetzt Beaumarchais’ skandalösen Barbier von Sevilla aufführte und sich in der Rolle der Rosina, die sie nicht ohne Talent spielte, feiern ließ, wurde in der allgemeinen Stimmung als besonders sarkastisch empfunden. Nichts von dem, was sich um sie herum abspielte, schien in die Welt ihres Trianons zu dringen, in ihr Lustschloss in Versailles; und während es in Paris drunter und drüber ging, Mord, Raub und Plünderung überhand nahmen und die Bürger nicht mehr wagten, auf die Straße zu gehen, flatterte sie wie ein Schmetterling in ihren Gärten und ihrem Palast der Realität davon.

Ludwig XVI. indessen hatte den als unfähig geltenden Finanzminister de Brienne entlassen und zur Freude des Volkes den schmählich verbannten Necker in sein altes Amt eingesetzt. Beruhigt wandte sich der König anderen Beschäftigungen zu und versprach den Bürgern, die auf den Straßen Recht und Ordnung forderten, genügend Soldaten, die er nur zu dem Zweck abkommandierte, der Unruhen Herr zu werden. Da diese Maßnahme wenig fruchtete und die Überfälle sich mehrten, wurde eine eigene Bürgerwehr gegründet, und Stimmen, allen voran die dröhnende Mirabeaus, wurden laut, der König solle in Paris regieren, um die katastrophalen Zustände selbst in Augenschein zu nehmen. Alles hoffte auf die Versammlung der Reichsstände, die endlich dem dritten Stand, den Bürgern, Handwerkern und Bauern, eine Stimme verleihen sollte, eine Stimme, die dem König zurufen sollte: »Auch wir sind ein Teil des Staates und wollen auch als solcher behandelt werden. Freiheit und Gleichheit für alle! Brot und Leben, nicht nur Fron und Steuer!«

D’Emprenvil und de Montalembert beobachteten die Dinge mit nervöser Hochspannung, während sie, in der Verbannung auf dem Land ausharrend, weiter versuchten, ihrem Unmut in Briefen, Eingaben und Bittgesuchen Luft zu machen. Waren sie in ihrer Hitzköpfigkeit auch zu weit gegangen, so hatten sie im Grunde doch nur die ehrliche Absicht gehabt, dem König und gleichzeitig auch dem Volk zu dienen. Gerechtigkeit galt ihnen über alles, und so bedauerten sie es auch nicht, als an dem Rädelsführer der Bauern, dem verschlagenen Antoine, ein Exempel statuiert wurde. Man fand bei ihm den größten Teil der Beute aus dem geplünderten Schloss Pélissier, und nach einem kurzen Prozess musste er diese Tat mit seinem Leben bezahlen. Es war nicht schade um den Trunkenbold und notorischen Schläger, auf der anderen Seite zeitigte sein Schicksal keine abschreckende Wirkung. Im Gegenteil, seine öffentliche Hinrichtung versetzte die Bauern nur noch mehr in Wut. Niemand erließ ihnen die Abgaben, die sie zu zahlen hatten, auch wenn sie Haus und Hof verkaufen mussten, niemand hatte ein Ohr für ihre Not und erkannte, dass ihr Aufbegehren nur ein Hilfeschrei war. Heimatlos zogen viele mit Weib und Kind und dem wenigen Vieh, das sie mit sich führen konnten, umher und beklagten das Regime, das sie ins Elend trieb.

Die Bewohner von Valfleur spürten nur wenig von der wirtschaftlichen Not und den politischen Turbulenzen im Land. Noch immer konnten sie ihr gewohntes Leben, das ihnen als privilegierte Klasse zuzustehen schien, weiterführen wie bisher, und die Ereignisse »draußen« waren etwas, von dem man hörte, von dem man las, vor dem man sich entsetzte und worüber man sich Gedanken machte. Keinesfalls würde man allerdings auf seine Vorrechte verzichten wollen, seinen Landbesitz und die käuflichen Ämter, die einem zustanden und es ermöglichten, dass der junge Patrick d’Emprenvil sich einen Offiziersposten in der Garde du Corps des Königs erkaufen konnte.

Eines Tages, als ob nichts geschehen wäre, tauchte Armand plötzlich wieder in Valfleur auf. In aller Ruhe, einen Grashalm lässig zwischen den Zähnen, schnitt er im Garten Sträucher zu. Als er Amélie am Fenster des Salons bemerkte, winkte er ihr zum Gruß zu und bedeutete ihr mit einem Zeichen, dass er sie sehen wolle. Mit seinem leichtfertigen Charme lächelte er sie herausfordernd an, in der Selbstgewissheit, dass kein Mädchenherz ihm widerstehen könne. Obwohl sie ihn sehnsüchtig vermisst hatte, hob Amélie die Nase ein wenig höher und tat so, als sähe sie ihn nicht. Aber ihr Herz klopfte wie rasend, sie konnte keine Minute mehr ruhig sitzen und verließ schon nach kurzer Zeit unter einem Vorwand das Haus. Als sie atemlos an der kleinen Mauer anlangte, stellte sie zu ihrer Enttäuschung fest, dass er nicht mehr da war. Plötzlich knackten hinter ihr Zweige, und eine warme, feste Hand legte sich über ihre Augen. War das wirklich er, Armand, ihr Traumbild, das jetzt vor ihr stand, braun gebrannt wie ein Pirat, mit herausforderndem Blick, die langen schwarzen Locken mit einer Samtschleife im Nacken gebunden, selbstbewusst und strahlend? Er, von dem sie die ganzen letzten Tage geträumt hatte und vor Sehnsucht fast vergangen war? Sie versank im Blick seiner blauen, leuchtenden Augen und wehrte sich nicht, als er sie in die Arme nahm und sanft küsste.

Seit jenem Morgen war für Amélie eine neue Existenz angebrochen, die in einen glückseligen Nebel der Unwirklichkeit gehüllt war. Ihr einziger Gedanke war, sich am Nachmittag ungesehen aus dem Haus zu stehlen, um sich im Schutz der Büsche an der kleinen Mauer mit Armand zu treffen und die Arme sehnsüchtig um seinen Hals zu werfen. Sie fühlte sich wie in einem unbekannten Rausch, schwebend und entrückt. Nie war ihr die Natur, der Gesang der Vögel, der Duft der erdigen Wiesen und der herbe Geruch der Herbstblätter so erregend erschienen. Alles rings um sie herum hatte sich verwandelt und sprach von ihrer Liebe und Sehnsucht. Armand triumphierte in seinem Stolz, ihr Herz erobert zu haben, er überschüttete sie mit Zärtlichkeiten und versuchte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Seine Arbeit verrichtete er voller Eifer, sodass der Vater sich nicht genug wundern konnte, dass aus seinem leichtfertigen, zu allen Dummheiten aufgelegten Sohn plötzlich eine so tüchtige Hilfe geworden war.

In den Stunden des Zusammenseins riefen sich Amélie und Armand ihre Kindheit ins Gedächtnis zurück, jeder von seiner Warte aus. Armand als Sohn eines armen Gelegenheitsarbeiters, der mit seinen Eltern seit seiner frühesten Kindheit durchs Land gezogen war, während sein Vater sich als Tagelöhner mühsam sein Brot verdienen musste: Das Schicksal hatte ihn weitaus härter angefasst als sie, die verwöhnte Schlossprinzessin, wie er sie, zwar lächelnd, aber doch mit einem bitteren Zug um die Mundwinkel, nannte. Nachdem der Vater endlich in Valfleur als Gärtner sesshaft geworden war, stürzte der zwölfjährige Junge in tiefe Traurigkeit, als seine schöne, angebetete Mutter mit einem anderen Mann verschwand. Betrübt erzählte er Amélie, dass er kurz darauf von zu Hause weggelaufen sei, um sie zu suchen. Als Junge noch hatte er sich daran gewöhnen müssen, sich, von der Hand in den Mund lebend, allein durchs Leben zu schlagen.

Eine Weile war er Page bei einer vornehmen Familie gewesen, wo man ihm auch Manieren beibrachte. Doch nirgendwo hielt es ihn länger. Schließlich trug er sich mit dem Gedanken, ein kleines Geschäft zu eröffnen. Seine vorherige Herrschaft, die einen Narren an dem hübschen Jungen gefressen hatte, gab ihm ein Darlehen, doch es reichte bei Weitem nicht aus, und das Geld floss ihm durch die Finger, noch bevor er einen Laden mieten konnte. Aber eines hatte er gelernt: Wo er auch hinkam, erweckte er Sympathien, und man lieh ihm, wenn er seine Geschichte erzählte, bereitwillig Geld, ja, man drängte es ihm sogar auf. Ein Phänomen, das ihm, wie er sich ausdrückte, erst später richtig zu Bewusstsein kam. Doch dann machte er von diesem verborgenen Talent ausgiebigen Gebrauch; es gelang ihm fast immer, die Leute davon zu überzeugen, dass er ihr Vertrauen wert war und sie ihr Geld gewinnbringend anlegten, wenn sie es in sein jeweiliges Geschäftsvorhaben investierten. Es war ja nicht seine Schuld, dass ein Projekt nach dem anderen misslang, es lag vielmehr an der Zeit, an den anderen, an der schlechten Wirtschaftslage! Und nun hatte er, trotz seiner Jugend und ohne dass er etwas dafür konnte, große Schulden, die er niemals würde zurückzahlen können!

Dies alles berichtete er Amélie in einer freimütigen Ehrlichkeit, sodass sie unendliches Mitleid mit ihm empfand. Der Arme, er hatte im Leben bisher nur Pech und Unglück gehabt! Zuletzt hatte er sich sogar in Paris für eine alte, kranke Gräfin aufgeopfert, die ihn in ihrem Erbe bedenken wollte. Doch dann starb sie eines Nachts ganz unvermittelt, ohne ein Testament hinterlassen zu haben. Es blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als zu seinem alten Vater zurückzukehren! Aber trotz allem war er sicher, dass er eines Tages groß herauskommen wurde, das spürte er im Blut. Die Revolution würde seine Chance sein, denn nun komme es nicht mehr auf die Herkunft, sondern allein auf das Verdienst an!

Amélie schloss den Unglücklichen in die Arme und küsste ihn innig, um ihn für alles Schwere in seinem Leben zu entschädigen. Wie ungetrübt schien ihr dagegen ihre gut behütete Kindheit! So gab es zwischen den beiden immer etwas zu erzählen und zu berichten, während sie sich zärtlich umarmten und liebkosten, und die Zeit verfloss, ohne dass sie irgendetwas anderes wahrnahmen.

Nur wenn das Mädchen ihm in ihrem Überschwang einmal ihre geliebten Bücher mitbrachte oder ihn über die Weltgeschichte befragte und sich herausstellte, dass er völlig ahnungslos war, oder sie ihm gar ein Gedicht vortrug, das ihre Gefühle für ihn ausdrückte, gähnte Armand. Ja, ein paar Mal passierte es sogar, dass er, den Kopf in ihrem Schoß, einschlief. Enttäuscht hielt sie dann inne und sah den dahinziehenden Wolken nach, die ihr keine Antwort gaben. Warum berührten diese Worte, die sie so ins Innere trafen, die ausdrückten, was sie fühlte, wie sie litt, ihren Geliebten so wenig? Vielleicht weil er nie im Leben wie sie die Möglichkeit gehabt hatte, sich mit Literatur zu beschäftigen, entschuldigte sie ihn vor sich selber. Doch wenn er dann aufwachte, weil sie ihn mit einem Grashalm kitzelte, und sie mit einem ungestümen Kuss versöhnte, war ihr das alles ganz gleichgültig.

Dann bemerkte Amélie weder Tag noch Stunde, ebenso wenig wie die Veränderung, die mit Armand vorging. Es kam vor, dass er zur vereinbarten Zeit nicht an der kleinen Mauer war, sie manchmal warten ließ, zu spät oder auch gar nicht erschien. Wenn Amélie ihn dann zur Rede stellte, hatte er stets eine Ausflucht parat: Sein Vater hatte ihn beauftragt, eine wichtige Arbeit zu erledigen oder im Dorf Besorgungen zu machen. Anfangs bekümmerte Amélie dies wenig, und sie glaubte ihm aufs Wort. Kaum bemerkte sie, wie die Zeit verfloss, wenn sie träumend allein im Schatten der Mauer auf der alten Decke saß, die sie heimlich in der Nähe versteckt hielt und durch das Busch- und Blattgewirr in den wolkenlosen Oktoberhimmel starrte, während sie auf raschelnde Schritte lauschte und auf den Moment, da die Sträucher auseinandergebogen wurden.

Wieder einmal war eine Stunde verstrichen, in der Armand sich nicht blicken ließ, wie so oft in letzter Zeit. Die Sonne wanderte, und von der plötzlichen herbstlichen Kühle erschauernd, erhob Amélie sich aus dem Gras, steckte den Gedichtband ein, mit dem sie sich die Zeit vertrieben hatte, und streckte die steif gewordenen Glieder. Was war diesmal wohl wieder der Grund, dass er nicht kommen konnte? In ihrem Herzen empfand sie mit einem Mal eine brennende Enttäuschung. Was fiel ihm denn überhaupt ein, diesem hergelaufenen Gärtnerjungen, sie so einfach zu versetzen, dachte sie mit einem Anflug von Hochmut. Trotzig schüttelte sie die Haare zurück und riss sich die sorgsam eingebundene karierte Schleife heraus, mit der sie sich für ihn geschmückt hatte. Umsonst hatte sie sich schön gemacht, umsonst ihren Körper mit Mamas »Vent Vert« besprüht, umsonst ihre Wangen mit etwas Rouge betupft. Das war die letzte Verabredung, dachte sie wütend und stieß heftig einen Stein zur Seite, als sie sich den kleinen Pfad entlangschlängelte, den sie sich im Laufe der Zeit gebahnt hatte. Ihre Kehle war zugeschnürt, und ihre Augen brannten vor zurückgehaltenen Tränen. Wo war er nur? Was war so wichtig, dass er sie versetzte?

Vom Herbst der Blätter beraubt, gaben die Büsche hin und wieder einen Blick auf die Allee und die Rasenplätze um den kleinen Springbrunnen frei. Amélie spähte hindurch, ob sie den Säumigen irgendwo bei einer wichtigen Arbeit entdecken konnte, aber er blieb unsichtbar. In Gedanken entschuldigte sie ihn immer wieder, vielleicht musste er ja dem alten Vater helfen, dem die Knochen wehtaten, dem Ärmsten! Mitleid mit dem gebrechlichen Alten stieg in ihr hoch, und sie sah Armand vor sich, wie er seinen Vater stützte und ihm die Arbeit abnahm. Sie schämte sich fast ihrer Ungeduld; natürlich hatte er es nicht so leicht wie sie, er musste ja arbeiten und sein Brot verdienen. Wenn sie einen kleinen Umweg durch den Park nahm, könnte sie vielleicht einen unauffälligen Blick auf das kleine Gärtnerhäuschen am Ende der Allee in der Nähe des großen Tores werfen. Vielleicht war er dort, festgehalten durch eine wichtige Beschäftigung, und sie würde sich, ungesehen, leise wieder fortschleichen. Der Gedanke heiterte sie auf, als sie die Allee meidend zwischen den hohen Pappeln hindurch über den Waldboden lief.

Vom alten Spielplatz her ertönte plötzlich Gekicher und dazwischen ein lautes, männliches Lachen. Amélie näherte sich auf Zehenspitzen dem Platz und sah ihre Schwester Isabelle mit wehenden blonden Haaren auf der alten Schaukel sitzen und wild emporfliegen, während ihr weiter Rock sich aufblähte und ihre Beine freigab. Hinter ihr stand, das bekannte, sonnige Lächeln im braunen, makellos geschnittenen Gesicht, mit offenem Hemd über der muskulösen Brust, die schwarzen Locken halb über die Augen fallend, niemand anderer als Armand. Immer wieder gab er der Schaukel einen stärkeren Schubs, bis Isabelle mit kleinen, ängstlichen Schreien um Gnade flehte. Schließlich hielt er die Schaukel mit einem Ruck an, sodass das junge Mädchen rücklings in seine Arme flog. Lachend hob er ihre schmächtige, zarte Gestalt hoch in die Luft und schwenkte sie umher, um sie dann sanft auf den Boden gleiten zu lassen. Isabelle quietschte fröhlich wie ein Kind, griff sich an die Stirn und lehnte sich, schwindlig geworden, gegen Armands Brust, der sie um die Taille fasste und fest an sich gepresst hielt. Dann hob sie ihr Gesicht zu ihm empor, während Armand ihr mit einem seiner unwiderstehlichen Blicke, die Amélie nur für sich allein reserviert zu haben glaubte, tief in die Augen sah und sie noch stärker an sich drückte.

Eine plötzliche Kälte zog Amélies Herz zusammen, ein Schauer und ein Gefühl der Fremdheit überkamen sie, als sähe sie einem eigenartigen Schauspiel zu. In aufflammender Gekränktheit, die den rosigen Schleier vor ihren Augen jäh zerriss, haderte sie mit sich, Armand nicht vom ersten Moment an durchschaut: zu haben. Zuerst hatte der unbedeutende Bursche ihr eine Komödie vorgespielt, um sich ein wenig wichtig zu fühlen, und jetzt sollte auch noch das Küken Isabelle auf seine Schauspielkunst hereinfallen! Amélie kam sich plötzlich sehr viel reifer und vernünftiger vor als die jüngere Schwester, und sie beschloss, diesem unwürdigen Theater und falschen Spiel ein Ende zu bereiten. Es galt, Isabelle vor diesem Schauspieler zu warnen und sein wahres Gesicht aufzudecken, bevor diese denselben Fehler machte und ihn zu lieben begann wie sie selbst. Sie bemerkte nicht, wie ihr plötzlich Tränen übers Gesicht liefen, sie fühlte nur die unbändige Wut, die aus den Tiefen ihres Innern in ihr emporstieg und ihr Herz und Magen zusammenpresste. Übelkeit übermannte sie, und kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, während sie gegen den rasenden Wunsch ankämpfte, sich auf Armand zu stürzen und ihm mit den Fingernägeln sein schönes, verlogenes Gesicht zu zerkratzen. Blindlings lief sie durch die Büsche, ohne die Dornen zu beachten, die sich in ihrem Kleid und in ihren Haaren verfingen, bis sie atemlos innehielt und sich erschöpft in einer hemmungslosen Tränenflut zu Boden fallen ließ.

Amélie und die Sturmzeit von Valfleur

Подняться наверх