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6 Hinter den Mauern der Conciergerie
ОглавлениеDas Herbstgewitter hatte keine anhaltende Kühlung gebracht, die drückende Hitze, ungewöhnlich für die Jahreszeit, kam zurück und trocknete die Felder erneut aus. Die Sonne glühte über der Stadt, als wollte sie die Unruhe und Unzufriedenheit in den staubigen Straßen noch anheizen. In der Conciergerie dagegen, dem ehemaligen Königspalast und nun vom Zahn der Zeit verwitterten Gefängnis von Paris, war davon nichts zu spüren. Die schweren, meterdicken Mauern, nur wenig von Tageslicht erhellt, das nur durch kleine, doppelt vergitterte Fenster fiel, umschlossen feuchte und stinkende Verliese genauso wie die besseren, mit schlichtem Mobiliar ausgestatteten Kammern.
In einer der großräumigen Gewölbezellen im Untergeschoss, in denen viele Gefangene, die irgendeines Delikts verdächtig waren, dicht zusammengepfercht beisammenlagen und auf ihre Vernehmung warteten, befanden sich auch Patrick d’Emprenvil und Auguste de Platier. Tagelang schon auf den harten Pritschen mit schmutzigen Strohsäcken liegend, in verdreckter Kleidung, von den anderen Gefangenen misstrauisch beäugt, erkannte man die beiden kaum wieder. Angstvoll wandten sich ihre bleichen Gesichter bei jedem Geräusch mit einer Mischung aus Furcht und Hoffnung der Zellentür zu. In den ersten Tagen hatte man sie nur flüchtig verhört und versucht, sie zu einem Geständnis zu zwingen. Den angeblichen Chevalier hatten sie nicht wiedergesehen, vermutlich war er freigelassen worden. Nachdem Patrick die Geschichte, dass man Auguste angerempelt habe, wobei der Tisch umgefallen sei, so oft erzählt hatte, dass er selbst daran zweifelte, verlangte er, dass man seinen Vater, Baron d’Emprenvil, Parlamentsrat in Paris, benachrichtige. Nach seinen Ausweispapieren gefragt, die er nicht vorweisen konnte, wurde er schlichtweg ausgelacht. Unter Flüchen stieß man die beiden wieder in die feuchten Gewölbekammern zurück, wo sie von den anderen Mitinsassen – kleinen Gaunern, alten zahnlosen Taschendieben, professionellen Straßenräubern und Mordverdächtigen – mit höhnischen Bemerkungen empfangen wurden.
In den ersten Nächten nahmen die beiden jungen Männer sich vor, nur abwechselnd zu schlafen, aber die Angst vor dem Gesindel ringsherum hielt sie beide wach. Tatsächlich machte sich schon in der ersten Nacht ein verkommen aussehender Geselle an sie heran, um nachzusehen, ob sie etwas Lohnendes am Leibe trugen. Von Angst und Widerwillen gewürgt, wehrten sie den stinkenden Burschen ab, der sich idiotisch grinsend in seine Ecke verzog, wo er nur darauf wartete, dass der Schlaf sie schließlich doch übermannte. Während Auguste jammernd die Aussicht heraufbeschwor, bis zu seinem Lebensende hinter diesen Mauer zu schmachten – wer sollte ihnen auch hier heraushelfen, wo doch niemand auch nur ahnte, wo sie sich befanden! –, blieb Patrick nach außen hin kühl. Er glaubte zuversichtlich, alles würde sich bald aufklären und ihre Entlassung stünde unmittelbar bevor.
Doch keiner von beiden hätte sich das Elend vorstellen können, in dem die Gefangenen hier gehalten wurden. Das riesige Gewölbe war überfüllt mit zerlumpten Jammergestalten, die man irgendwo aufgelesen hatte und die teilweise stöhnend, teilweise apathisch auf stinkendem Stroh ausgestreckt, auf ihnen Prozess warteten. Kleine Straßendiebe teilten sich das Lager genauso wie gedungene Mörder und Adelige, die ein ausschweifendes Leben oder eine Schuldenlast hinter Gitter gebracht hatte. Unzählige waren krank, und die Toten wurden ohne viel Federlesens hinausgeschafft. Drei Tage lang hatten Patrick und Auguste aus Ekel den widerwärtigen Fraß, den man den Insassen vorsetzte, verweigert. Dann siegte der Wille zum Überleben, und trotz des bestialischen Gestanks, der das Atmen zur Qual machte, brachten sie Löffel für Löffel des undefinierbaren Breis hinunter. Das Brot, mit Kleie und anderen Zutaten versetzt, hart und zäh, lag ihnen wie ein Stein im Magen und schien unverdaulich.
Das Schlimmste aber war die Furcht, die sie befiel, wenn es finster wurde und der leise Lichtschein hinter dem Fenstergitter erlosch. Eine Gruppe von verschlagen aussehenden Kerlen, hässlichen Straßendieben und Vagabunden, der Abschaum der Straße, ging auch im Gefängnis seinem Gewerbe nach. Eines Nachts wurden sie Zeugen, wie nicht weit von ihnen zwei Häftlinge einen gut gekleideten Adeligen festhielten und knebelten, während ein Dritter ihn von Kopf bis Fuß abtastete. Als ihr Opfer noch immer erstickte Schreie von sich gab und sich zur Wehr setzte, drückte einer der Diebe ihm so lange die Kehle zu, bis er sich nicht mehr rührte. Am nächsten Tag konnte nur noch sein Tod festgestellt werden. Daraufhin war Auguste in eine schockartige Lethargie versunken. Stundenlang lag er unbeweglich auf dem Rücken und starrte mit flackernden Augen in die Luft; dann sprang er wieder auf und lief unruhig hin und her. Patrick fürchtete allen Ernstes um den Verstand des Freundes.
Auf diese Weise verflossen Tage und Stunden in dem finsteren Verlies, und sie waren beide nahe daran, die Hoffnung aufzugeben, als sich eines Morgens sehr früh die schwere Kerkertür mit dem wohlbekannten schnarrenden Geräusch öffnete und der Wärter die beiden überraschten Burschen unwirsch vom Lager zerrte und ihnen bedeutete, ihm zu folgen. Mit zitternden Knien wankten die beiden, vom langen Hungern geschwächt, durch die feuchten, dumpfen Gänge, das Gespenst einer Verurteilung oder Hinrichtung vor Augen. Obwohl der Morgen erst graute, waren sie wie geblendet von dem hellen, luftigen Raum, in den man sie führte.
Wir sind verloren, hier wird man unser Urteil verlesen, fuhr es Patrick durch den Kopf, und sein Herz hämmerte in wildem Takt. Doch als er aufblickte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Der Mann, der dort auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch des Kommandanten saß, war ihm bekannt, es war ohne Zweifel Camille Desmoulins, der Journalist und Schreiber, der an jenem letzten Abend in Valfleur Gedichte vorgetragen hatte, die Patrick so lächerlich fand. So stark seine Abneigung gegen diesen Mann im Haus seiner Eltern gewesen war, umso glücklicher war er, ihn so unerwartet hier an diesem Ort vorzufinden. Ein vertrautes Gesicht, ein Mensch, der ihn kannte, der wusste, wie er hieß, mit dem er sprechen und dem er alles erklären konnte!
Es kam jedoch nicht dazu. Als Patrick ihn mit dem Aufschrei begrüßte, »Monsieur Desmoulins!«, stand jener nur rasch auf, nickte und warf den beiden einen seiner eigentümlich düsteren Blicke zu und sagte trocken: »Das sind sie!« Und indem er dem Kommandanten einen Beutel über den Schreibtisch schob, sah er ihn vielsagend an, lächelte und verbeugte sich zufrieden. »Ich danke Ihnen, Monsieur Valiard, dass wir diesen bedauerlichen Irrtum so rasch aufklären konnten.« Zu Patrick und August gewandt, sagte er kühl: »Ihr seid frei. Es ist wohl besser, ich bringe euch gleich zum Wagen.«
Die beiden brachten in ihrer Verblüffung kein Wort hervor, sie fürchteten, vielleicht etwas Falsches zu tun, während sie hinter Desmoulins und dem Wachmann durch unzählige Gänge und dumpfe, modrige Räume stolperten, um schließlich, geblendet vom aufgehenden Sonnenlicht, die milde Luft der neu gewonnenen Freiheit tief in die Lungen zu saugen. Desmoulins drängte die beiden ungeduldig vorwärts und in eine wartende Kutsche hinein, deren Schlag sich schnell hinter ihnen schloss. Patrick, schwindlig und halb blind, vernahm den Aufschrei der Freude und des gleichzeitigen Entsetzens, den seine Mutter ausstieß, als sie ihn erblickte.
Laura war tatsächlich zu Tode erschrocken über sein Aussehen, die dürren Glieder in den schmutzstarrenden Kleidern, die gar nicht ihm zu gehören schienen, über den Schatten des Bartes auf den hohlen Wangen und die in den Höhlen liegenden Augen. Weinend schloss sie den Sohn in die Arme, der wie betäubt und von ungeheurer Anstrengung ermüdet, sich erleichtert in die Polster sinken ließ.
Auguste schaute mit wirrem Blick um sich und stammelte wie von Sinnen ein über das andere Mal: »Wir sind frei, frei, wir sind endlich frei!« In seinem Überschwang liefen ihm die Tränen über die schmutzigen Wangen, er packte den Arm des Freundes, drückte ihn, wollte Lauras Hand ergreifen, um sie zu küssen, und schrie den kopfschüttelnd der Kutsche nachblickenden Vorübergehenden zu: »Wir sind frei, frei!«
Desmoulins, sehr zufrieden mit sich und seinem ausgeführten Auftrag, saß in der Ecke der gegenüberliegenden Sitzbank und kritzelte, scheinbar unbeteiligt, Notizen auf ein Stück Papier, während das Gefährt in schnellem Tempo durch die Stadt rollte. Er hatte seine Pflicht erfüllt und nicht die Absicht, sich in genaueren Angaben über die Befreiungsaktion zu ergehen. Es war nicht leicht, aber auch nicht allzu schwer gewesen. Die Stadt war groß, aber in dieser Hinsicht übersichtlich; und bei Landeiern wie diesen Burschen, die noch nie über das Ende ihrer Felder hinweggesehen hatten, konnte man vorausahnen, in welche Fettnäpfchen sie gleich am Anfang tappen würden. Ein bisschen Geld, eine Menge Beziehungen, um es an die richtige Stelle gelangen zu lassen – Madame war in dieser Hinsicht nichts zu viel gewesen. Die Liste der Neueinlieferungen in den Gefängnissen war leicht zu kaufen. Aber in seinem Kopf kreisten jetzt ganz andere Gedanken. Lustvoll stellte er sich vor, auf welche Weise sich die stolze Laura d’Emprenvil für diesen Gefallen erkenntlich zeigen würde. Ihr dankbarer Blick, der ihn von Zeit zu Zeit streifte, ließ ihn ahnen, wie nah er dem Ziel seiner Wünsche schon gekommen war.
In Versailles, dem ehemals unbedeutenden kleinen Ort unweit von Paris, über dem sich seit geraumer Zeit Glanz und Gloria des Königtums entfaltet und ausgebreitet hatte, spürte man wenig von den Sorgen und der Unruhe im Lande. Farbenprächtig und besonnt lag das riesige Schloss inmitten weitläufiger Terrassen, Blumenbeete und sorgsam angelegter Parks. In seinen großen Prunkräumen unterzeichnete der König gerade nach eingehender Beratung mit seinen Vertrauten, dem Herzog von Lauzun und dem neu eingesetzten Finanzminister de Brienne, den Haftbefehl für den Baron d’Emprenvil und den Grafen de Montalembert sowie die Anordnung empfindlicher Strafen für andere Parlamentsmitglieder. Dem gesamten aufrührerischen Parlament wurde eine erneute Verbannung aus Paris nach Troyes in Aussicht gestellt, eine Maßnahme, die sich schon bei Ludwig dem XV. mehrfach bewährt hatte und die die aufständischen Räte einschüchtern sollte. Man würde ganz einfach ein neues Hofparlament errichten, das sein Veto akzeptierte!
Der König blickte missmutig aus dem Fenster, wo ihn das schöne Wetter zur Jagd einlud. Er strafte selten, denn er war eher von gutmütiger Natur; doch in diesem Falle sah er sich gezwungen, ein Exempel zu statuieren. Es war einfach unverschämt und ungehörig, das Dekret, das seinen guten Willen zur Reform und zum Schuldenabbau zeigte, nicht zu akzeptieren. Die Ratifizierung von Staatsmaßnahmen durchzusetzen war nun einmal sein gutes Recht, und er war von seinem Finanzminister gut beraten, sich nicht wie ein Hampelmann durch ein paar revoltierende Räte, welche die Unverschämtheit besaßen, geheime Akten zu stehlen und zu veröffentlichen, einschüchtern zu lassen. Und doch, er fühlte sich nicht recht wohl dabei.
Der altgediente Marschall Bouillé, einer seiner engsten Vertrauten, trat ein, um den Fürsten de la Porte-Mornay einzulassen, der mit ihm das weitere Programm des Tages, den kleinen Jagdausflug, besprechen wollte. Der König seufzte erleichtert und schritt lächelnd auf den Fürsten zu. »Mein Lieber, ich bin untröstlich, heute Abend nicht an dem kleinen Theaterstück teilnehmen zu können, das meine Gattin im Trianon aufführen lässt... aber ich fürchte, wir werden es nicht einrichten können, rechtzeitig zurück zu sein. Lassen Sie mich bei ihr entschuldigen, sollte es so kommen!«
»Die Jagd hat Priorität«, erwiderte Porte-Mornay mit einem angedeuteten Augenzwinkern und sich verbeugend, »Ihre Majestät sollten der geistigen und körperlichen Entspannung den Vorrang geben; die anstrengenden Staatsgeschäfte verlangen einen ausgeruhten König.«
»Ich hoffe, die Königin wird der gleichen Meinung sein«, murmelte der König ein wenig unsicher, denn er liebte nicht nur den Staatsfrieden, sondern auch den der ehelichen Gemeinschaft.