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4 Im Palais Royal

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Auguste humpelte mit schmerzverzerrter Miene hinter Patrick her, dessen Gesicht im Sonnenlicht noch blasser erschien. Die beiden jungen Männer hatten ihren geheimen Plan in die Tat umgesetzt und waren noch vor Sonnenaufgang losmarschiert, mit dem Ziel Paris. Ein mürrischer Bauer hatte sie gegen ein stolzes Entgelt auf seinem Karren mitgenommen, und so brachten sie zwischen Käseballen und Speckseiten, Karotten und Sellerie eine recht holprige Fahrt hinter sich.

Nachdem der Bauer sich geweigert hatte, sie weiter als bis in die Vorstadt zu bringen, stand ihnen ein langer Fußmarsch in die Innenstadt bevor. Auguste jammerte bei jedem Schritt. Die neuen Schnallenschuhe, die im Salon so elegant und bequem aussahen, waren zu fürchterlich scheuernden, engen Marterinstrumenten geworden.

Patrick zog verächtlich die Mundwinkel herab und bereute es bereits, sich einen solchen Schwächling aufgehalst zu haben. »Du hältst aber auch gar nichts aus!«, schimpfte er. »Wie kannst du nur solche Schuhe anziehen, mit denen man sich bestenfalls zu einer Opernaufführung fahren lassen kann!«

»Es war keineswegs die Rede davon, dass wir stundenlang zu Fuß marschieren würden!«, erwiderte Auguste und wischte sich mit dem weißseidenen Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn, »Ich dachte, deine Eltern besitzen ein Palais in der Stadt, wir könnten doch...«

Patrick warf Auguste einen wütenden Blick zu, der jenen verstummen ließ. »Mein Vater wäre wirklich begeistert, wenn wir so plötzlich bei ihm auftauchen würden. Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Im Übrigen bin ich nicht hier, um sofort wieder unter die Fittiche meines Vaters zu kriechen. Ich will Paris selbst erobern, als Mann, verstehst du? Und zwar nicht nur die feine Gesellschaft...«

»... die mir allerdings lieber wäre«, ergänzte Auguste ächzend, sich die Ferse reibend, an der sich eine Blase gebildet hatte. »Außerdem habe ich Hunger!«

»Na, dann stell dich doch gleich dort an«, antwortete Patrick spöttisch und deutete auf eine lange Warteschlange vor einem kleinen Bäckerladen. »Es gibt nicht genug Brot in Paris, das solltest du eigentlich wissen.«

Ein undeutlich gemurmelter Fluch kam zur Antwort. »Wo gehen wir eigentlich hin? Ich kann keinen Schritt mehr laufen, vielleicht darf ich das noch erfahren, ehe ich zusammenbreche.«

Patrick musste unwillkürlich über das armselige Bild des sonst so eleganten Freundes lachen, der mit seiner pummeligen Figur, der staubigen Samtjacke, mit den blonden Haaren, deren künstliche Locken sich zu feuchten Strähnen verwandelt hatten, eine recht komische Figur abgab. Schließlich erbarmte er sich seines Freundes und winkte einer klapprigen Droschke, die am Straßenrand auf Kundschaft wartete. Die beiden stiegen ein, und Patrick nannte dem Kutscher das Palais Royal, eine Adresse, die ihm gerade eben eingefallen war.

Auguste zog sich unter Schmerzenslauten den Schuh vom Fuß und betrachtete eingehend die Wunde. »Damit kann ich keinen Schritt mehr machen!«

»Dann musst du eben auf einer Bank sitzen bleiben, bis ich dich am Abend abhole«, sagte Patrick ungerührt und sah aus dem Fenster des staubigen Gefährts, vor dem das Pferd lustlos dahintrottete.

»Das kommt gar nicht infrage«, fuhr Auguste auf, »und wenn ich barfuß laufe, ich lasse dich nicht allein!«

Inzwischen waren die Bauten und das Tor zu den Gärten des Palais Royal aufgetaucht. Auguste, der sich ein Stück Stoff von seinem Hemd abgerissen und damit seinen Schuh ausgepolstert hatte, stieg mit leidender Miene aus der Kutsche. Er hatte kaum einen Blick für die prächtigen Anlagen, die schönen Arkaden, unter denen zahlreiche Läden Käufer anlockten, die Schankstuben, vor denen Kellner Tische und Stühle in die Sonne rückten, während in den gestutzten Bäumen die Vögel zwitscherten und sich an der noch lauen Spätsommerluft erfreuten. Patrick betrachtete mit großen Augen die ausgestellten Waren, die von den Händlern angepriesen wurden. Im Café de Foy diskutierte eine Gruppe Männer lautstark und schwenkte die neuesten Flugblätter. »Calonne verlangt die Versammlung der Notabein! Staatsdefizit von 113 Millionen Livres!« Neugierig trat er heran, um ein wenig zuzuhören, doch das Stöhnen und Ächzen seines Begleiters brachte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen.

Der köstliche Duft frisch gebackener Waffeln stieg beiden in die Nase, und auch der Schritt Augustes belebte sich. Doch als der Bäcker ihnen das knusprige, heiße Gebäck überreichte, erschraken sie gewaltig über den Preis. Drei Sous! Das war eine Unverschämtheit, und wenn es so weiterginge, würde ihr Geld dahinschmelzen wie Butter in der Sonne.

»Ich könnte noch zehn von diesen da essen«, jammerte Auguste, »von einer Waffel wird man ja nicht einmal satt!«

»Am besten, wir kaufen uns einen Vorrat Brot«, überlegte Patrick laut, »es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns doch an einer Bäckerei anzustellen.«

Von dem kleinen Mauervorsprung aus, auf dem sie in der Sonne saßen, konnten sie bequem die Gärten mit ihrem Treiben beobachten. Nicht weit von ihnen hatte sich ein bärtiger Mann aus Steinen einen Sockel errichtet, auf den er hinaufstieg und, an ein unsichtbares Publikum gewandt, eine Ansprache begann. »Ich habe kein Brot mehr für meine Kinder«, klagte er in jammerndem Ton, »Tag und Nacht hab ich geschuftet, sechzehn Stunden fast ohne Pause, in der Tapisserie Réveillon. Einmal, nur einmal habe ich protestiert, als der Chef sagte, ein Arbeiter kann ohne Weiteres von sechzehn Sous satt werden! Da hat man mich hinausgeworfen, und ich habe für meine Familie nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf. Verflucht sei die Königin mit ihrer Bagage! Ihr ist unser Elend doch völlig gleich, sie feiert jeden Tag ein Fest im Trianon und wirft das Geld für ihre Günstlinge und Liebhaber aus dem Fenster.« Er erhob die Stimme, als er fortfuhr. »Und erst der König, dieser Schwächling, der sich beschwatzen lässt von seinen Blutsaugern, dem alten Schwätzer Maurepas und von dieser Hure, der Herzogin Lamballe... diesen Nichtstuern und Tagedieben, deren Kinder satt sind und die das Essen fortwerfen! Sie sollen doch selbst die Steuern bezahlen, sie haben doch den Staat ruiniert mit ihrer Verschwendungssucht!« Seine heisere Stimme trug nicht weit, sie wurde schwächer, bis sie schließlich brach, während ihm Tränen die Wangen hinabliefen. Um sich zu stärken, griff er nach der Flasche Absinth, die er bei sich trug, und nahm einen kräftigen Schluck.

Die beiden jungen Männer betrachteten den Redner voll Erstaunen und fürchteten, er würde sogleich wegen Majestätsbeleidigung festgenommen werden. Doch kaum einer nahm Notiz von ihm, nur ein paar Neugierige hatten sich um ihn geschart und nickten beifällig. Am Ende seiner Kräfte, stieg der Redner von seinem Sockel und wandte sich seinen Zuhörern zu, hielt ihnen seinen Hut entgegen und murmelte: »Ein paar Centimes, Messieurs, ein paar Sous für den größten Hunger.« Patrick, angesichts der jämmerlichen Gestalt von Mitleid ergriffen, warf ihm ein paar Geldstücke in den Hut.

»Bist du vollends verrückt geworden!«, schrie der Freund mit sich überschlagender Stimme. »Du gibst unser letztes Geld einem Bettler? Dann schmeiß doch gleich alles auf die Straße! Die Stadt ist voll von solchen Typen wie dem da.«

»Ich kann eben nicht anders. Er sah mich so wehmütig an. Und vielleicht hat er wirklich Kinder, die hungern.«

Inzwischen hatten sich die Gärten weiter belebt. Elegante Nachtbummler spazierten vorbei. Damen in leicht zerdrückter Abendrobe und Herren in Samt und Seide mit spitzenbesetzten Ärmeln und eleganten Federhüten ließen sich auf eilends bereitgestellten Stühlen nieder und bekamen von den Kellnern sogleich heiße Suppe oder duftende Schokolade serviert. Frauen mit verführerischen Blicken und freizügigen Gewändern lehnten an den Säulen und lächelten die beiden Freunde aufmunternd an. Auguste, dem eine stark geschminkte Rothaarige hinter einem Fächer kokett zublinzelte, wusste noch nicht, dass das Palais Royal als einer der größten Kontakthöfe von Paris galt, ein hervorragender Marktplatz auch für Huren.

Neugierig schlenderten die beiden an Läden vorbei und zwischen den Ständen hindurch und bestaunten die dargebotenen Waren – Schmuckstücke unter Glasvitrinen, Möbel, Statuen und Bilder; ein Spezereienhändler ordnete seine unzähligen Gewürze und Salben, wobei ein schwerer Moschusgeruch sich mit dem der würzigen Kräuter mischte.

Eine dicke Zigeunerin lief hinter den beiden jungen Männern her, um ihnen das Schicksal aus der Hand zu lesen. Aufdringlich zog sie Auguste am Ärmel und grinste ihn mit ihrem fast zahnlosen Mund an: »Ich sehe eine schöne Frau in Eurem Leben«, flüsterte sie, »sie ist noch weit weg... aber Sie können sie herbeiwünschen...

Auguste starrte sie an, zwischen Abscheu und Neugier hin und her gerissen, er streckte bereitwillig den Arm aus, doch im selben Augenblick erhielt er einen unsanften Stoß, sodass er gegen die Zigeunerin prallte. Im nächsten Moment hörte er das Krachen und Klirren eines voll bepackten Tisches, der umgerissen wurde. Der Händler schrie wütend auf, und die Leute drängten schiebend und fluchend weiter. Als Auguste nach seinem Freund Ausschau hielt, sah er zu seinem Schrecken, dass er einen sich heftig wehrenden Mann umklammerte. Durch das Geschrei alarmiert, kamen zwei Gendarmen herbeigelaufen.

»Halten Sie ihn!«, rief Patrick mit vor Anstrengung feuerrotem Kopf, immer noch mit dem Fremden ringend. »Er hat den Tisch absichtlich umgeworfen, ich habe es genau gesehen! Und der Schmuck... er hat ihn ganz einfach in seine Tasche gesteckt!«

Die beiden Gendarmen zerrten die beiden Männer auseinander. »Festnehmen!«, brüllte einer. »Auf die Wache, man wird den Fall untersuchen.«

»Aber der Schmuck, er befindet sich dort, in seiner Westentasche!«, schrie Patrick, während er versuchte, sich aus dem Griff der Gendarmen zu befreien. »Ich habe nichts getan...«

Der Fremde, von Patrick des Diebstahls beschuldigt, richtete sich zu voller Größe auf, klopfte sich mit angewiderter Miene den Staub von seiner Hose aus feinem grauen Stoff und ordnete seine Krawatte. Er war ungewöhnlich elegant gekleidet für einen Morgenspaziergang, und sein schmales Gesicht trug die verwöhnten Züge eines Aristokraten. »Chevalier de Montfort«, stellte er sich mit einer kurzen Verbeugung den Gendarmen vor, so als sei er im Salon eines guten Freundes zu Gast. »Sie sehen, ich habe den Dieb gerade noch erwischt, ein Verrückter offenbar! Der arme Kerl, er redet wirr und bringt alles durcheinander. Man sollte ihn besser in einer Anstalt verwahren!«

Patrick holte tief Luft und schrie voller Empörung: »Das ist nicht wahr! Eine gemeine Lüge, wie jedermann hier bezeugen kann! Er war es, ich habe es genau gesehen.« Er blickte sich erwartungsvoll im Kreis der umstehenden Gaffer um, die Patrick mit seiner zerrissenen Kleidung, den zerzausten Haaren und staubigen Schuhen misstrauisch musterten. Jemand reichte dem Chevalier Stock und Zylinder, die am Boden gelegen hatten, und die Gendarmen blickten zweifelnd von einem zum anderen.

Plötzlich wies der Chevalier lässig mit der Stockspitze auf Auguste. »Und das dort ist sein Komplize, der Rothaarige mit der Zigeunerin.«

»Was? Dieser unverschämte Kerl«, schrie Auguste auf, empört, dass man ihn in einem Atem mit der Zigeunerin nannte, »er hat mich angerempelt, sodass ich...«

»Halt, halt, nicht so voreilig, Bürschchen«, unterbrach ihn der ältere der Gendarmen, »das werden wir alles herausfinden.« Er schien angestrengt nachzudenken und musterte mit zusammengezogenen Brauen abwechselnd die Beschuldigten. Ein Chevalier als Dieb? Kaum denkbar. Ein Hochstapler sah anders aus... Nein, zweifellos, dieser Bursche dort in den schmutzigen Tuchhosen und dem zerrissenen Hemd sowie sein ebenso heruntergekommener Komplize neben ihm, der nicht einmal Schuhe trug, das waren Tagediebe und Gauner, wie sie sich überall herumtrieben und die logen, dass sich die Balken bogen. Doch wenn es tatsächlich der Chevalier gewesen wäre, würde seine Festnahme nur Ärger bringen. »Sie da«, wandte er sich barsch an den Händler, »haben Sie gesehen, wer Ihre Ware umgeworfen und versucht hat, sie zu stehlen?«

Der Angesprochene, der auf dem Boden herumkroch und die verstreut liegenden Schmuckstücke einsammelte, blickte auf. »Ich habe es nicht direkt mitbekommen, aber diesen Burschen da«, er deutete auf Patrick, »den hab ich schon die ganze Zeit hier herumschleichen sehen...«

»Das genügt«, unterbrach ihn der jüngere Gendarm mit einem vielsagenden Blick zu seinem Kollegen, »ein klarer Fall, folgen Sie mir bitte auf die Wache, Monsieur Babeuf, unser Kommissar, wird die Sache genau untersuchen.«

Amélie und die Sturmzeit von Valfleur

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