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I Mädchenjahre 1 Valfleur – Sommer 1787

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»Amélie... Amélie!« Die hohe, in der heißen Mittagsglut gedämpft klingende Stimme durchtönte weich die Luft, in der jedes Geräusch verstummt war. Sogar die Vögel hatten vor Hitze ermattet unter den Bäumen die Flügel sinken lassen. Mit raschen Schritten und suchendem Blick eilte eine schmale Gestalt über den Kiesweg, der sich zwischen Büschen und Bäumen durchschlängelte. Das blasse Gesicht der jungen Frau, umrahmt von dichtem, braunem, zu einem Knoten geschlungenen Haar, wandte sich besorgt nach rechts und nach links; ihr Blick versuchte, durch die Brombeersträucher zu dringen, und ging aufmerksam über die blühenden Rosenstöcke und duftenden Jasminsträucher hinweg. In dem dichten Gewirr verfing sich ihr Rock immer wieder an einem der Sträucher; dann befreite sie sich mit kleinen, ärgerlichen Ausrufen vorsichtig von den Hindernissen. Der Park, der das Schloss von Valfleur umgab, war zwar wohl gepflegt, aber in seiner augenscheinlichen Wildnis entsprach er ganz und gar nicht der Mode seiner Zeit, die einer geordneten Sanftheit und symmetrischen Übersichtlichkeit den Vorzug gab.

Erleichtert trat die junge Frau endlich aus den Sträuchern heraus auf die schattige Allee, die an dieser Stelle einen kleinen Teich einfasste. Aus dessen Mitte ergoss sich das Wasser über terrassenförmige Steinschalen kaskadenförmig hinab.

Vom Brunnen aus konnte man am Ende der fächerförmigen, leicht ansteigenden Wege das helle Schlossgebäude erkennen. Die breiten Türme stammten aus dem 14. Jahrhundert und bildeten mit den Anbauten aus anderen Epochen ein reizvolles Ensemble. Errichtet auf der höchsten Erhebung des Anwesens, bot sich dem Auge ein zauberhafter Blick über das malerische Tal. Die pappelgesäumte Allee führte zu den Feldern und in das kleine Dorf, dessen steiler Backsteinkirchturm sich über die wenigen Häuser reckte.

»Amélie... so antworte doch!«, rief die Gouvernante erneut und ließ sich erschöpft von Hitze und Anstrengung auf einem Stein nieder. Dann tauchte sie ihr Taschentuch in das kühle Nass und presste es an die Stirn. Es war wirklich keine einfache Aufgabe, die Kinder des Barons d’Emprenvil zu beaufsichtigen. »Amélie...« Der letzte Ton erstarb in einem Seufzer. Mademoiselle Dernier wusste sehr wohl, dass das widerspenstige Mädchen sich irgendwo hinter einem Strauch versteckt hielt, um sie ein wenig zu necken. Für einige Augenblicke ließ sie versonnen das Handgelenk von dem kühlen, rinnenden Wasser umspielen, ehe sie sich langsam erhob, um zum Schloss zurückzugehen. Es war sinnlos, weiter nach Amélie zu suchen, wahrscheinlich beobachtete sie das kleine Biest und amüsierte sich auf ihre Kosten. Nun gut, man würde sich ohne sie zum Essen setzen – mochte Madame d’Emprenvil das Unmögliche fertigbringen und ihre Tochter zum Gehorsam erziehen.

In der Lauheit des friedlich scheinenden Sommertags war nichts zu spüren von der Missernte, dem Hunger des vergangenen Jahres, der die Bauern revoltieren ließ. Das Land war seit Ludwig XV. hoffnungslos verschuldet, und das veraltete Finanzsystem bot keinerlei Aussicht auf Besserung. Als der Finanzminister Necker bei einer öffentlichen Bilanz offengelegt hatte, dass der Hofstaat des amtierenden Königs Ludwig XVI. jährlich 62 Millionen Livres verschlang, hatten die geknechteten, von Abgaben erdrückten Bürger zum ersten Mal öffentlich protestiert. Seitdem gärte es im Lande, die Preise stiegen, aber die Löhne reichten nicht mehr zum Leben. Die Bauern, denen auch noch das Letzte genommen wurde, schielten auf die Besitztümer der Adeligen, die auf ihre alten Rechte pochten.

Doch an diesem Tag trübte in Valfleur kein Misston die scheinbar friedliche Stille des viel zu trockenen Sommers. Im Schloss, dem Sommersitz des Barons Charles d’Emprenvil, Rat im Parlament von Paris, und seiner Familie ging das Leben seinen Gang wie eh und je.

Amélie beobachtete, wie Mademoiselle Dernier im Schloss verschwand. Dann dehnte und streckte sie sich und klappte das Buch zu, in das sie sich den ganzen Vormittag über vertieft hatte. Es war eines jener erotischen Werke der Zeit, die man im hintersten Winkel der Bibliothek verschämt vor unliebsamen Lesern verbarg. Doch das junge Mädchen, eine Leseratte, brannte darauf, das Leben in all seinen Facetten kennenzulernen, und fühlte sich gerade von dieser Art Lektüre magisch angezogen. Um ganz ungestört zu sein, hatte sie sich an ihrem Lieblingsplatz, einer von blühenden Sträuchern nahezu überwachsenen Lichtung verkrochen. Immer wieder legte sie das Buch beiseite und beobachtete versonnen das Leben der Insekten; eine Ameise, die geschäftig umherkrabbelte, einen Käfer, der sich emsig mit dem Bau einer Höhle abmühte, und die Bienen, die an den süß duftenden Blüten sogen. Ach, wie herrlich war es, im Sommer diese Freiheit zu genießen, statt bei trüben Lehrstunden in der Stube zu sitzen. Das Knurren ihres Magens erinnerte sie an das Mittagessen, das sie gerade dabei war zu versäumen. Sie erhob sich, schüttelte ihr langes, kastanienbraunes Haar, in dem helle Reflexe spielten, zurück und strich das weiße Baumwollkleid glatt. Das Buch verbarg sie unter ihrem Rockbund, dann bog sie die Zweige auseinander, die hinter ihr zusammenschlugen, und trat auf den Kiesweg, der zum Schloss führte.

Amélie gelang es, ungesehen ins Haus zu schlüpfen und das verbotene Buch unauffällig an seinen Platz in der Bibliothek zu stellen. Mit gespielter Gelassenheit, den schnellen Atem mit einer unschuldigen Miene überspielend, trat sie ins Esszimmer, in dem die Familie sich zum Mittagessen versammelt hatte. Man nahm kaum Notiz von ihr, nur Mademoiselle Dernier, die Gouvernante, sah sie überrascht an, während sie dem kleinen Christoph in seinem Babystühlchen einen Löffel Suppe einflößte.

»Wo hast du denn gesteckt, Amélie? Ich habe dich überall gesucht. Du warst wie vom Erdboden verschluckt.«

Das Mädchen lächelte ihr komplizenhaft zu und wandte sich an ihre Mutter. »Entschuldige Mama, ich habe über dem Lesen die Zeit ganz vergessen...«

Laura d’Emprenvil warf ihr einen zerstreuten, missbilligenden Blick zu. »Wie siehst du nur wieder aus! Wie eine zerzauste Straßenkatze. Wo, um Himmels willen, treibst du dich eigentlich immer herum, statt dass du deine Klavierübungen machst oder dich mit anderen nützlichen Dingen beschäftigst...«

»Ja, Mama«, murmelte Amélie.

Während ihre Gedanken in andere Richtungen gingen, floss die leise Stimme ihrer Mutter an ihrem Ohr vorüber: »... nicht einmal kannst du pünktlich zu den Mahlzeiten erscheinen, wo du weißt, dass gerade heute...«

»Ja, Mama«, wiederholte Amélie und begann, hastig die Suppe zu löffeln.

Laura schüttelte den Kopf und tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab. Selbst an diesem heißen Sommertag strahlte sie die perfekte, kühle Schönheit einer Porzellanpuppe aus. Ihr elfenbeinfarbener Teint und die dunklen, unergründlichen Augen unter zart geschwungenen Brauen bildeten einen reizvollen Kontrast zu der roten Haarfülle, die im Nacken zu einem Chignon geschlungen war. Ihr Dekolleté umgab ein Kranz von weißen Seidenrosen, und das weiße Chiffonkleid schmeichelte ihrer zierlichen Figur, der man die vier Kinder nicht ansah.

»Patrick, bitte!«, rügte sie ihren ältesten Sohn, der unter dem Tisch seiner vierzehnjährigen Schwester Isabelle einen Fußtritt verpasste, weil sie ihm den Rest des Kirschsafts weggetrunken hatte. Isabelle schrie leise auf, rieb sich den Knöchel und setzte dann ihre Märtyrerinnenmiene auf. Sie war ein überschlankes Mädchen mit anämischem Teint, blassgrauen Augen und aschblonden Haaren, die ihr bis über den Rücken reichten.

Christoph schrie aus Leibeskräften und spuckte den Pudding aus, weil er lieber nach dem glitzernden Kristall eines Glases greifen wollte. Die Gouvernante, seit einigen Jahren in der Familie d’Emprenvil, nahm ihn aus seinem Stühlchen und versuchte, ihn zu beruhigen. Sie stammte mütterlicherseits aus einer verarmten Landadelfamilie. Zunächst hatte sie die Rolle einer Erzieherin als unabwendbaren Zwang empfunden, doch mit der Zeit gewann sie ihre Aufgabe lieb, sodass sie nunmehr ganz darin aufging. Mademoiselle Dernier war von schlichtem, wenngleich nicht unschönem Äußeren. Sie verzichtete auf jede Art Schnörkel und Schmuck und entsprach mit ihrem blassen Teint, den großen, dunklen Augen und der ausgeprägten Nase eher dem klassizistischen Schönheitsideal.

»Amélie«, begann Laura erneut mit vorwurfsvollem Blick, »du bist alt genug, um zu wissen, was sich gehört, aber du führst dich auf, als seiest du...« Ihr spitzer Aufschrei galt Christoph, der es fertiggebracht hatte, die Saucière umzustoßen, deren Inhalt sich dunkel über die weiße Tischdecke ergoss. Entzückt tunkte er den Zeigefinger hinein und begann, ein hübsches Muster darauf zu malen. Mademoiselle Dernier, deren Kleid ebenfalls ruiniert war, hielt seine kleine Hand fest, und Christoph, seines schönen Spiels beraubt, schrie aus Leibeskräften.

Amélie, die froh war, der gewohnten Strafpredigt entronnen zu sein, widmete sich mit gutem Appetit ihrem Huhn in Zitronensauce. Aus der Küche roch sie schon das Schokoladensoufflé, ihre Lieblingsspeise, die sie keinesfalls versäumen wollte. »Ist Papa nicht da?«, fragte sie mit vollem Mund, als auch schon die Tür aufgerissen wurde und im hereinflutenden Sonnenlicht der Hausherr, Baron d’Emprenvil, eintrat.

Im offenen weißen Hemd, in Reitstiefeln und mit vom Wind zerzausten Haaren, die er ohne Perücke im Nacken zusammengebunden trug, durchquerte er mit wenigen Schritten den Raum. Augenblicklich nahm er der Gouvernante den schreienden Christoph aus den Armen, schwenkte ihn stürmisch in der Luft und drückte ihm schmatzende Küsse auf die roten Bäckchen. »Habt ihr mir noch etwas übrig gelassen?«, fragte er, noch ganz außer Atem, und umarmte seine Frau flüchtig. »Beinahe hätte ich es nicht mehr geschafft!«

Lauras Blick war eine einzige Anklage, doch sie hielt sich zurück. »Du bist spät zum Essen, mein Lieber, ich wollte gerade abräumen lassen.«

»Ich weiß«, seufzte d’Emprenvil mit gespielter Zerknirschung und warf ihr einen zärtlichen Blick zu, »aber es war mir unmöglich, eher zu kommen; ich hoffe, du entschuldigst mich.« Er kitzelte den Kleinen, bis der vor Vergnügen quietschte, setzte ihn dann wieder auf den Schoß der Gouvernante und erkundigte sich mit kumpelhaftem Augenzwinkern bei ihr: »Na, was hat der kleine Quälgeist denn heute wieder angestellt? Ich hoffe, er hat Sie nicht allzu sehr tyrannisiert!« Seine letzten Worte waren schon halb über die Schulter gesprochen; der Braten und die Wahl des Weines erforderten seine ganze Aufmerksamkeit.

Das scheue Lächeln, das Mademoiselle ihm sandte, ging ins Leere. Hastig senkte sie die Augen und beschäftigte sich mit dem Kleinen, in der Hoffnung, dass die Glut, die ihr heiß ins Gesicht gestiegen war und auf ihren Wangen brannte, unauffällig verblassen würde. Doch die Verwirrung, die sie immer verspürte, sobald der Hausherr ihr seine Aufmerksamkeit schenkte, ging in den Fragen und dem Lachen der Kinder unter, die ihren allzu oft abwesenden Vater voll Begeisterung begrüßten. Und wie immer, wenn er wie ein frischer Windstoß hereingeweht wurde, war er bester Laune und wusste allerlei zu erzählen, während er lachend und plaudernd den Speisen und dem Wein zusprach.

»... und stellt euch vor, als ich Jean, dem neuen Gärtnergehilfen, die Sense wegnahm, um ihm zu zeigen, wie man im Rhythmus von oben nach unten mäht, kam doch mit einem Mal dieser aufgeblasene de Platier mit seinem Wagen vorbeigefahren, ein Spitzentuch vor dem Mund wegen der Landluft, mit wackelndem Hut und gekleidet wie zum Hofball. Sein Gesicht verzog sich nicht schlecht, als ich ihm meinen Gruß zurief, so...« Er machte eine drollige Grimasse, worüber die ganze Familie in Lachen ausbrach. Jeder wusste, dass Graf Eugen de Platier, der sich auf seinem Gut Pélissier nicht den kleinen Finger schmutzig machte, es nicht verstand, dass Charles d’Emprenvil, Magistrat des Parlaments von Paris, hin und wieder eine Sense in die Hand nahm und wie ein Knecht seine Wiese mähte.

Die Miene des achtzehnjährigen Patrick blieb angesichts des Lachens der anderen ernst, er betrachtete mit blasiertem Ausdruck die angeschmutzte Hose, das zerknitterte Hemd und die ausladenden Gesten, mit denen der Vater seine Erzählung untermalte. Seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten, und er fühlte sich so unendlich verschieden von ihm, von seiner nachlässigen Kleidung, seinen Manieren und seiner derben Sprache. Wie recht doch de Platier hatte, mit dessen Sohn Auguste er befreundet war, wenn er sich vom Pöbel distanzierte!

»Papa«, Amélie schluckte schnell den letzten Löffel ihres Soufflés hinunter, »reiten wir heute Nachmittag gemeinsam aus?«

»Heute nicht, meine Süße«, sagte d’Emprenvil bedauernd und fuhr sich durch die dichten schwarzen Locken. »In Paris verlangt man nach mir. Im Parlament kann man doch nicht ohne mich tagen.« Er lachte, und seine blauen, eindringlichen Augen zwinkerten ihr schelmisch zu.

Amélie, die ihren Schmollmund aufgesetzt hatte, murrte: »Du hast es mir aber schon so lange versprochen!«

»Reite doch mit Patrick, er kann dich begleiten, nicht wahr, mein Junge?«

»Da wüsste ich aber etwas Besseres«, antwortete Patrick mit einem arroganten Seitenblick auf seine Schwester und fügte dann hastig hinzu: »Ich würde lieber mit dir nach Paris fahren. Ich ersticke hier auf dem Land. Alles ist so gewöhnlich – so langweilig und ordinär! Nimm mich doch mit, nur dies eine Mal! Ich werde dir auch ganz sicher nicht lästig fallen!«

Der Baron blickte seinen Sohn erstaunt an. »Aber Patrick, sei vernünftig, du weißt doch, dass es jetzt nicht geht. Ich fahre schließlich nicht zum Vergnügen nach Paris.«

»Ich auch nicht!« Die Stimme Patricks, die schon einen tiefen, männlichen Klang hatte, drohte in der Erregung zu kippen. »Ich will einfach wissen, was in Paris vor sich geht! Wir verschlafen hier unser Leben und tun, als ob nichts sei, während in Wirklichkeit große Veränderungen bevorstehen und alles drunter und drüber geht. Du meinst wohl, ich sei zu jung und zu dumm... aber nur weil ich Rousseau und Voltaire lese, bin ich keineswegs wirklichkeitsfremd, ich kann ihre Schwächen wohl erkennen...«

»Mein Lieber«, unterbrach der Baron ihn in ernstem Ton.

Wenn man sie beide so dasitzen sah, bemerkte man die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn: das gleiche, fast griechische Profil, der schön geschnittene Mund mit einem ungeduldigen Zug darum und sogar die in die Stirn fallende, widerspenstige Locke, die Patrick in seiner Eitelkeit mit Pasten und Salben in Form zu halten versuchte.

»Ich verstehe dich natürlich. Ein anderes Mal bin ich gerne bereit... aber jetzt ist es zu unsicher, und außerdem werde ich für dich gar keine Zeit haben. Ich brauche Voltaire nicht, um zu wissen, dass unser Staat vor dem Bankrott steht. Und das Schlimme ist, dass der König glaubt, die Adeligen seien in der Lage, alle seine Schulden zu finanzieren. Doch was rede ich... das führt alles zu weit. Ich bin wirklich in Eile, und es muss dir vorerst genügen, dass du einfach nicht mitkommen kannst. Ich werde dir bei meiner Rückkehr alles erklären, aber heute... heute ist es unmöglich.« Er hielt inne, als hätte er bereits zu viel gesagt, doch nach einem Blick in Patricks finstere und unzufriedene Miene fuhr er fort: »Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, Junge! Nur so viel, es geht darum, dass das Parlament gezwungen werden soll, Steueredikte zu genehmigen, die uns alle in den Ruin führen. Das muss ich mit allen Kräften zu verhindern suchen! Ich werde dich ein anderes Mal mitnehmen. Aber mach nicht solch ein Gesicht!« Seine Stimme war laut geworden, ärgerlich, und er schlug mit der Hand auf den Tisch.

Patrick beugte sich vor, seine Augen glommen wütend, und sein Gesicht wurde bleich. »Ein anderes Mal... das muss dir genügen – die Zeiten sind unsicher... ich habe keine Zeit«, äffte er den Vater nach, »das sagst du immer. Aber wieso störe ich dich ständig? Du denkst, nur du allein kannst etwas bewirken, seiest sogar fähig, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen! Glaubst du, ich bin noch ein kleines Kind, das man mit Ausreden abspeist? Warum kann ich dich nicht begleiten, wie Auguste, wenn sein Vater in die Hauptstadt fährt? Meinst du, ich bin zu dumm, die Probleme zu erkennen, die in unserem Lande gären?« Patrick beugte sich vor und stieß mit dem Ellbogen sein Glas Wein um. »Aber vielleicht hast du etwas zu verbergen«, sagte er herausfordernd. »Glaubst du, ich merke nicht, was du in Paris vorhast? Dass du gegen den König opponierst, ist kein Geheimnis für mich! Du sträubst dich doch gegen wichtige Reformen und hetzt andere auf. Du denkst doch nur an deine eigenen Vorteile...«

»Jetzt reicht es aber!«, schrie d’Emprenvil, der mit zornig gerötetem Gesicht aufgesprungen war. »Schweig! Ich verbiete dir, von Sachen zu sprechen, von denen du nicht das Geringste verstehst.« Er tat ein paar Schritte auf seinen Sohn zu, und es sah so aus, als wollte er ihn am Kragen packen. Patrick erhob sich langsam, und Vater und Sohn standen sich Auge in Auge gegenüber wie zwei Feinde, wütend der eine, bleich und voll aufgestauter Gefühle der andere.

Am Tisch war eine lähmende Stille eingetreten, und Laura sah erstaunt auf ihren Sohn, das einstmals so friedfertige Kind. Verwundert fragte sie sich, wie dieser junge Mann, der ihr mit einem Mal wie ein fremdes Wesen aus einer anderen Welt vorkam, sich so verändern konnte, wann er so widerspenstig und laut geworden war.

Der Baron holte tief Luft und fasste sich als Erster, sich zur Ruhe zwingend: »Schluss jetzt, mein Sohn! Diesen Ton kann ich nicht dulden! Eines Tages wirst du meinen Platz im Parlament einnehmen. Aber bis dahin musst du noch viel reifer und erwachsener werden. Jetzt treffe ich noch die Entscheidungen – aber, wenn du willst, werden wir in einer ruhigen Stunde über alles reden, und dann erkläre ich dir meinen Standpunkt. Ich wusste ja nicht, dass du... dass du dich plötzlich für Politik interessierst. Du warst immer so gleichgültig... aber du hast recht, du bist wirklich kein Kind mehr! Ein anderes Mal...«

Patrick unterbrach ihn heftig: »Ein anderes Mal! Ja, das habe ich jetzt schon zu oft gehört. Wann reden wir einmal über mich, über meine Zukunft? Immer weichst du mir aus. Und ein anderes Mal geht es wieder nicht, weil Mama einen Gesellschaftsabend gibt oder du andere wichtige Dinge zu erledigen hast, bei denen ich doch nur störe. Lass mich jetzt mitfahren oder erkläre mir auf der Stelle, warum es nicht geht!«

Der Baron schwankte, gerade an diesem Tag konnte er Patrick nicht gebrauchen, er würde seine Pläne gründlich durchkreuzen. Sollte er sich dieser lächerlichen Auseinandersetzung entziehen, indem er mit Entschlossenheit den Raum verließ, oder war es besser, ihm zu erklären, warum er ihn unmöglich mitnehmen konnte? Er atmete noch einmal tief durch und rückte seinen Stuhl näher an den seines Sohnes, ehe er sich wieder setzte. »Deine Zukunft ist gesichert, das weißt du! Das ist ein ganz anderes Kapitel. Aber hüte dich, noch einmal zu sagen, dass ich irgendjemanden aufhetze! Es ist wahr, dass ich es als Parlamentsmitglied einfach nicht zulassen kann, dass die Steuer- und Finanzgesetze durch Leute bestimmt werden, die darin nur ihren eigenen Vorteil sehen. Das Gleiche gilt für die Handlungsfreiheit der Polizei. Es ist nun einmal so, dass der König sich nicht genügend mit diesen Problemen beschäftigt. Er ist ein guter Mann, aber schwach, schlecht beraten, was weiß ich... Jedenfalls steht er unter dem Einfluss seiner verschwenderischen Frau und zu vieler Höflinge. Eine Besteuerung, die nur die Amtsträger zahlen sollen, wird uns viele Nachteile bringen. Und sie wird das Loch der Staatskasse auch nicht stopfen – aber uns in den Ruin treiben. Ich nehme das Risiko auf mich, eine falsche Entscheidung zu boykottieren, begreifst du das?«

»Du wirst daran auch nichts ändern können«, widersprach Patrick trotzig, »es wird dich nur deinen Kopf kosten, wenn du nicht aufpasst!«

Der Baron sah in das vor Leidenschaft glühende Antlitz seines Sohnes und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn.

Es war sinnlos, Patrick wollte ihn nicht verstehen; er suchte, ganz wie er in seiner Jugend, Auseinandersetzung und Widerspruch; aber gerade dazu war er nicht in der richtigen Stimmung.

Laura, die bisher geschwiegen hatte, meldete sich zu Wort: »Patrick, du gehst wirklich zu weit und zerstörst unsere friedliche Stimmung bei Tisch.«

Der junge Mann sprang auf. »Ja, ich zerstöre die Stimmung, indem ich meine Meinung äußere. Aber einmal werdet ihr sie anhören müssen!« Er stieß den Stuhl zurück, lief hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

»Dieser Hitzkopf«, murmelte d’Emprenvil, froh, dass Patrick nicht weiter darauf bestanden hatte, mitzukommen, »er hätte mir gerade noch gefehlt!«

Isabelle und Amélie, die an ähnliche Szenen gewöhnt waren, hatten die Auseinandersetzung mit Gleichmut beobachtet. Jetzt tuschelten und kicherten sie und versuchten, Christoph den Löffel zu entwenden, mit dem er, in der allgemeinen Aufregung unbeachtet, Linien mit den Resten der Mahlzeit auf dem Tischtuch zog. Mademoiselle Dernier saß betreten und mit gesenkten Augen auf ihrem Platz, und es war ihr wie immer peinlich, Zeuge einer solchen Diskussion geworden zu sein.

»Mon Dieu, Charles«, begann Laura verärgert, »du weißt, wie ich diese Streitereien bei Tisch hasse. Hättest du ihn denn nicht mitnehmen können? Er ist in einem schwierigen Alter, und du solltest dich wirklich mehr um ihn kümmern.«

»Ist das vielleicht meine Schuld? Ich denke nicht daran!«, brauste der Baron auf »Ich habe im Augenblick einfach nicht die Geduld für pubertäre Auseinandersetzungen angesichts der Belastungen, denen ich im Parlament ausgesetzt bin. Er hat doch keine Ahnung, was im Lande wirklich vorgeht!« Er blickte entnervt zur Decke. »Soll ich ihm denn meine Pläne und Ideen darlegen und ihn fragen, ob er sie billigt?« Er sprang auf und ging unruhig hin und her. »Er ist einfach noch zu sehr Kind, als dass ich ihn mit diesen Dingen belasten möchte. Außerdem kann ich ihn nicht ins Vertrauen ziehen, was meine Pläne anbelangt, dafür ist die politische Situation einfach zu heikel.«

»Was hast du denn vor?«, fragte Laura misstrauisch, denn sie kannte das unbesonnene Temperament ihres Mannes. »Was sind denn deine Pläne? Ich bitte dich, Charles, nichts Unvorsichtiges zu tun!«

»Ahhh«, sagte der Baron gereizt, »so ist das hier im Hause, man wird verhört, man findet nie die Ruhe, die man nötig brauchte...« Das Weitere ging in undeutlichem Gemurmel unter, denn er schlug, wie sein Sohn kurz zuvor, unsanft die Tür hinter sich zu.

Laura seufzte, zuckte die Schultern und schenkte sich ein weiteres Glas der eisgekühlten Zitronenlimonade ein. Er war nicht zu ändern. So war es immer, sie kannte ihren Mann aufs Beste, seine Schwächen, die Art, allen Schwierigkeiten kurzerhand aus dem Wege zu gehen. Wenn es für ihn ungemütlich wurde, dann verschwand er einfach, machte sich unsichtbar oder reiste ab, weil er irgendwelche wichtigen Dinge erledigen musste. »Ich glaube, es ist Zeit für Christophs Mittagsschlaf«, wandte sie sich an Mademoiselle Dernier, die den Kleinen mit Schokoladensoufflé fütterte. »Isabelle, du solltest noch ein wenig an deinen mathematischen Aufgaben arbeiten. Es ist wirklich eine dumme Ausrede, wenn du behauptest, nichts zu verstehen. Du hast nur keine Lust.«

Isabelle ließ einen Klagelaut vernehmen. »Und Amélie? Sie braucht wohl nichts zu tun?« Widerstrebend ließ sie sich von der Gouvernante, die den quengeligen Christoph auf dem Arm trug, aus dem Zimmer ziehen.

Laura erhob sich ebenfalls, unschlüssig, wie sie den Nachmittag verbringen sollte. Der Gedanke an Patrick ließ ihr keine Ruhe, und sie beschloss, noch einmal mit ihm zu reden. Als sie sein Zimmer betrat, stand Patrick am Fenster und starrte blicklos in den blühenden Garten. Er wandte sich nicht einmal um, und sein bleiches, schmales Gesicht mit den feinen Zügen und verächtlich nach unten gezogenen Mundwinkeln wirkte hochmütig. Laura blieb eine Weile reglos stehen und betrachtete ihren Sohn, so als ob ihr erst in diesem Augenblick bewusst wurde, wie sehr er in vielen Dingen auch ihr selbst glich. Wie sie war er stets mit äußerster Sorgfalt gekleidet, die Spitzen an den Manschetten tadellos weiß und duftig, sein dunkles Haar straff nach hinten gebürstet und mit einem Samtband zusammengefasst, das farblich mit seinem Rock harmonierte. Er war ein auffallend hübscher Junge, dessen Profil den Statuen jener griechischen Jünglinge glich, die man in ewiger Jugend in Museen bewunderte. Sanft legte sie ihm die Hand auf die Schulter, doch Patrick machte sich unwillig los und warf ihr einen zornigen Blick zu.

»Lass mich bitte allein, Mama«, sagte er, »ihr behandelt mich immer noch wie ein Kind – aber ich bin keins mehr. Und ihr könnt oder wollt nicht verstehen, was mich bewegt.«

»Aber was ist es denn, mein Liebling?«, fragte Laura, die nicht begreifen konnte, was in ihrem Sohn vorging. »Du hast doch alles, was du brauchst, jeder Wunsch wird dir erfüllt, sofern es in meiner Macht steht...«

»Ja, jeder Wunsch... und doch nicht jeder! Valfleur erstickt mich! Diese spießige Idylle, die Ländlichkeit und immer dieselben Leute, derselbe Tagesablauf... ich halte es nicht mehr länger aus. Und wenn ich einmal nach Paris möchte, wenn ich Vater begleiten, mit ihm reden will, dann hat er keine Zeit für mich. Ich bin im Wege, ich störe ihn.«

»Nein, so ist es nicht, nur... du kennst ihn doch...« Sie stockte, wusste nicht, was sie sagen sollte. Erst während der Szene bei Tisch hatte sie erkannt, dass Patrick tatsächlich nicht mehr zu jung für solche Unternehmungen war, wie ihr Gatte es behauptete. »Es kommt alles so plötzlich, mein Lieber, du bist so ungestüm. Solche Dinge müssen sorgfältig geplant werden. Dein Vater und ich, wir werden es uns überlegen und das nächste Mal... schließlich wirst du eines Tages sowieso das Amt deines Vaters übernehmen...«

»Eines Tages! Ich hasse dieses Wort!«, brach es aus Patrick hervor. »Ich will an den Hof, meinetwegen auch in die Armee! All das hier langweilt mich!« Er ging mit aufgeregten Schritten im Zimmer auf und ab und untermalte seine Erklärungen mit großen Gebärden. »Soll ich mich bis dahin mit einem ungewaschenen Pferdeknecht unterhalten, der mir mit verschmiertem Mund und Strohhalmen in den strubbeligen Haaren einen guten Morgen wünscht? Oder mit Monsieur Moreau, dessen Lateinkenntnisse zugegebenermaßen nicht schlecht sind, der aber mit seinen fettigen Haaren und dem speckigen Rock einen solch üblen Geruch verbreitet, dass ich mich unmöglich auf die Konjugation der Verben konzentrieren kann?«

»Patrick!«, rief Laura empört aus, »du gehst zu weit! Niemand verlangt, dass du mit dem Stallknecht oder Hauslehrer Konversation machst. Du hast doch Freunde... Auguste de Platier zum Beispiel.«

»Ja, ja, Auguste, das ist auch der Einzige. Auguste geht es übrigens genauso wie mir.« Eine Pause entstand, in der beide schwiegen. Patrick war wieder ans Fenster getreten und sah hinaus, um sich zu beruhigen. Noch nie war er so aufgeregt gewesen, und im Grunde war ihm sein eigenes Verhalten zuwider.

Laura fasste sich als Erste; sie sah den Widerspenstigen kühl an. »Ich versuche durchaus, dich zu verstehen und mich in deine Lage zu versetzen, aber andererseits solltest auch du dir über gewisse Dinge klar werden, darüber, dass dein Platz hier ist. Das Gut braucht dich, und es wäre so schön, wenn du dich – im Gegensatz zu deinem Vater – um die Verwaltung kümmern würdest. Was könntest du aus Valfleur nicht alles machen! Stattdessen liegt es in der Hand eines Verwalters, der schalten und walten kann, wie er will.«

Patrick antwortete nicht. Im Stillen knirschte er mit den Zähnen: Diese Antwort hatte er erwartet. Doch das, was seine Mutter von ihm erwartete, seit er ein Kind war, war genau das, was er keinesfalls tun wollte. Er starrte in den Park und auf die von Blumenrabatten umsäumte Wiese, ohne die Schönheit der in voller Blüte stehenden Rosen, Lilien und Nelken zu sehen.

Laura, in Erwartung einer Antwort, stand noch eine Weile reglos im Zimmer, bis sie es kopfschüttelnd verließ. Woher kamen diese eigensinnigen Allüren bei Patrick so plötzlich, dachte sie, aber sicherlich war es nur eine vorübergehende Laune, und schon morgen würde er ihr wieder um den Hals fallen und sie um Entschuldigung bitten. Als Kind ertrug er es nie, wenn sie seinetwegen schmollte.

Nachdem Amélie die Reste des Schokoladensoufflés aus der großen Schüssel gekratzt hatte, setzte sie sich zufrieden wie ein sattes Kätzchen auf die Fensterbank des Erkers, einen ihrer Lieblingsplätze. Sie genoss das herrliche Gefühl, den Nachmittag frei und ungezwungen vor sich zu haben. Eine wohlige Müdigkeit und Trägheit überkam sie, und sie blickte versunken auf das Grün der weiß getupften blühenden Büsche, die den Rasen bis hinunter zu dem plätschernden Brunnen säumten. Eine Fliege summte träge gegen das geschlossene Fenster, statt ihren Weg durch die weit geöffneten Flügeltüren in den Garten zu nehmen. Das Klirren des Geschirrs und die leisen Worte des Personals beim Abräumen der Tafel weckten das junge Mädchen aus ihren Träumereien. Höchste Zeit, sich unsichtbar zu machen! Mama würde sicherlich gleich erscheinen, um ihr ein Programm für den Nachmittag vorzulegen. Sie schlich über den kühlen Marmorgang und betrat leise die im Dämmerlicht liegende Bibliothek. Liebevoll ließ sie ihre Blicke über die zahlreichen Schriften und Folianten schweifen, in Leder gebundene Werke, kleine, in bescheidenen Pappkarton gehüllte Bücher, die sie genauso aufmerksam betrachtete wie die goldgeprägten Buchrücken, die nicht verrieten, wer schon alles in ihnen geblättert hatte. Aus einer sorgsam zwischen anderen Büchern versteckten Buchattrappe zog sie ein schön gebundenes und üppig illustriertes Büchlein heraus und verbarg es mit erhitzten Wangen unter ihrer Bluse.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, huschte sie hinaus und rannte über den Kiesweg bis zu einem kleinen Graspfad, der verborgen hinter einem Baum abzweigte. Sie folgte ihm bis zu einer winzigen Lichtung, die halbwegs von einem in voller Blüte stehenden Jasminstrauch beschattet war. Atemlos warf sie sich in das weiche Gras – über sich den blauen, fast wolkenlosen Himmel und um sich das Zwitschern der Vögel und das leise Summen und Zirpen der Insekten. Sie nahm das Büchlein aus ihrer Bluse und betrachtete es lächelnd. Durch Zufall war es ihr beim Stöbern in der Bibliothek in die Hand gefallen. Beim ersten Blättern darin fühlte sie sich zuerst schockiert, doch dann ungemein angezogen von den eigenartigen Illustrationen, die Frauen und Männer in verschiedenen pikanten und unzweideutigen Situationen und Stellungen zeigten. Noch unerhörter waren die Geschichten des Autors, eines gewissen Michel Pierrombeau, die mit schamloser Offenheit das Thema Liebe beleuchteten, so ausführlich, dass Amélie das Buch nach den ersten Worten erschreckt wieder an seinen Platz gelegt hatte. Doch der Gedanke daran hatte sie nicht losgelassen, eine brennende Neugier, mehr von diesen seltsamen Geheimnissen zu erfahren, peinigte sie, und so hatte sie sich vorgenommen, doch noch einmal einen Blick in diese verbotene Welt zu werfen.

Mit klopfendem Herzen schlug sie jetzt unwillkürlich eine Seite auf und machte sich mit einem nervösen Kribbeln im Magen an die Lektüre des freizügigen Werkes, das sicher nicht für ihre Augen bestimmt war. Der Text fesselte sie so, dass sie vor den glühender werdenden Sonnenstrahlen nur noch ein wenig tiefer unter den Strauch kroch, wobei sie ihre Jacke als Polster benutzte, und selbst auf das Sirren der Mücken, die sie umkreisten, nicht achtete. Erst ein tiefes Donnergrollen aus der Ferne schreckte sie hoch. Der Himmel hatte sich bewölkt und hinter der Allee eine bleigraue Färbung angenommen. Amélie reckte die eingeschlafenen Glieder und klopfte sich, wie aus einem Traum erwacht, Gräser und herabgefallene Blüten von ihrer Bluse. Das Buch verstaute sie wieder unter ihrem Rockbund. Ein Blitz, der den Himmel zerriss, und der knapp darauf folgende Donnerschlag ließen sie zusammenzucken. In rascher Folge verdunkelten dicht sich zusammenballende Wolken die Luft, in der die Natur plötzlich den Atem anhielt und in der nicht mehr das geringste Geräusch zu hören war.

Auch als Kind hatte sie sich nie vor einem Gewitter gefürchtet, aber der Gedanke, dass man sie suchen würde, ließ sie an den Heimweg denken. Ohne Eile folgte Amélie dem Pfad bis zum unschuldig plätschernden Brunnen, von dem sich die Allee in beide Richtungen erstreckte. Das junge Mädchen hatte plötzlich Lust, die Stimmung über den Feldern zu erleben. Wenn sie doch nur ihre Malsachen mitgenommen hätte! Seit einiger Zeit aquarellierte sie nicht ohne Talent – ein Freund ihrer Mutter, ein junger Maler, der von Zeit zu Zeit zu ihren Soireen kam, gab ihr Unterricht. Durch die Allee zum Tor war es nicht mehr weit, sie schlüpfte hinaus und lief ein Stück die Landstraße entlang. Genießerisch sog sie den starken Duft der Felder und des Grases ein, der in die schwüle Luft emporstieg. Am düster gefärbten Himmel regte sich noch immer kein Lüftchen, und mit einem Mal wurde ihr das Atmen unerklärlich schwer. Plötzlich ging ein Rauschen durch die Luft, dann ein leichtes Grollen, ehe ein neuer Blitz das Gewölk durchzuckte, dem der Donner auf dem Fuß folgte. Amélie fuhr zusammen. Die Mahnungen und Geschichten ihrer Mutter, welche von unglaublichen Unfällen berichteten, die auf freiem Felde, unter Bäumen und im Wasser geschehen konnten, kamen ihr in den Sinn, und sie ergriff die Flucht. Hufgetrappel hinter ihr ließ sie zurückblicken, und sie war fast erleichtert, als sie in einer Staubwolke ihren Bruder Patrick und seinen Freund Auguste de Platier, den Nachbarssohn, erblickte.

Knapp vor ihr zügelten sie ihre Pferde, die wegen des Gewitters kaum noch zu halten waren und unruhig die Köpfe hin und her warfen. »Hallo, Schwesterlein, was machst du bei diesem Wetter hier draußen? Du willst doch nicht ausreißen?«

Auguste, in Amélies Augen ein eingebildeter Bursche, den sie nicht ausstehen konnte, verzog sein rundliches Gesicht zu einem angedeuteten Lächeln und grüßte zu ihr hinunter. »Es wird gleich losgehen, Mädchen«, schrie er von oben herab, »willst du nicht mit uns kommen? Ich hätte noch Platz auf Dakkar!« Er tätschelte seinem Pferd den Hals und warf Patrick einen fragenden Blick zu.

Amélie trat beiseite und sah ihn spöttisch von unten herauf an. »Nein, danke, Auguste, da ziehe ich doch einen Fußmarsch im Gewitter vor!«

Die Pausbacken des Jungen verfärbten sich eine Spur dunkler, und er wandte sich mit gekränkter Miene ab, um nach Adonis zu rufen, seinem schwarz-weiß gefleckten Jagdhund. Japsend kam er aus dem Gebüsch hervor und stürzte sich zur Begrüßung auf Amélie, die ihm schon manchen Leckerbissen zugesteckt hatte. Ein weiterer Blitz am Horizont tauchte die Landschaft in blendende Helligkeit. Die Pferde scheuten, und Auguste rutschte von seinem Rappen und landete recht unsanft auf dem Boden. Amélie sprang hinzu und hielt das sich aufbäumende Pferd am Zügel fest, während sie herzhaft lachend wartete, bis der ungelenke Reiter sich fluchend aufgerappelt hatte. Mit rot angelaufenem Gesicht klopfte er sich, den Blick gesenkt, die Samthosen ab. Es war ihm jedoch nicht entgangen, dass Amélie ein Gegenstand entglitten war. Er bückte sich schnell und hielt das kleine Büchlein in der Hand, in dem Amélie den Nachmittag über gelesen hatte.

Neugierig warf er einen Blick auf den Einband und las langsam und deutlich vor: »Variationen der Liebe.«

Mit einem Schreckensschrei fuhr Amélie herum, doch Auguste versteckte seinen Fund hinter dem Rücken. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich für diese Art Literatur interessieren, Mademoiselle!«, rief er ihr spöttisch zu. »Ich hielt Sie noch für ein kleines Mädchen.«

Amélie warf die Zügel des Rappen ihrem Bruder zu und versuchte mit aller Kraft, Augustes Arm zu erreichen, mit dem der junge Mann triumphierend das Büchlein in die Höhe hielt. Patrick sah der Szene amüsiert zu und dachte nicht daran, seiner Schwester zu Hilfe zu kommen. Wütend begann Amélie nach dem Widersacher zu treten und mit beiden Fäusten auf ihn einzuhämmern, doch jener streckte den Arm nach ihr aus und zog das zappelnde Mädchen ganz dicht an sich, sodass sie sich kaum rühren konnte. Amélie empfand einen so starken Widerwillen gegen den jungen Mann, der ihr vor Anstrengung ins Gesicht atmete, dass sie blindlings um sich schlug, um sich aus der eisernen Umklammerung zu befreien.

Schließlich hörte sie Patrick unwillig rufen: »Lass sie los, Auguste, du gehst zu weit!«

Ein tiefes Rauschen fuhr in diesem Moment durch die Bäume und der Himmel öffnete weit die Schleusen, begleitet von einer raschen Serie von Blitzen.

Amélie wand sich mit einem Ruck aus dem gelockerten Griff Augustes und flüchtete, wie von Furien gejagt, den Weg entlang, dem großen Tor des Parks zu. Noch aus der Ferne hörte sie durch das Toben des Wetters das Lachen der beiden Burschen. »Das zahle ich dir heim«, sagte Amélie leise zwischen zusammengebissenen Zähnen, »dir und deinem netten Freund!«

War ein Bruder nicht verpflichtet, seine Schwester vor einem solchen Laffen zu schützen, statt sich über sie lustig zu machen?

Während der herabströmende Regen ihre Kleidung durchnässte und ihr die Haare in Strähnen ins Gesicht peitschte, bog sie in das kleine Waldstück ein, um den Weg zum Haus abzukürzen. Mit keuchendem Atem sprang sie über Äste und Baumwurzeln, und als sie die kleine Natursteinmauer erreichte, lehnte sie sich kurz daran und presste die Hand an ihr wild klopfendes Herz. Wie sie diesen eingebildeten Auguste hasste! Sicher würde er überall herumerzählen, was sie las. Die gewaltsame Berührung seines Körpers, als er sie so heftig an sich gedrückt hielt, sein merkwürdiger, glasiger Blick, der Anblick seines rot gefärbten Gesichts, all das flößte ihr selbst noch in der Erinnerung Ekel ein.

Mit einem Mal empfand sie eine Abneigung gegen die pikanten Situationen zwischen Mann und Frau, so wie sie in dem Büchlein beschrieben waren. Wie abscheulich musste es sein, zu küssen, sich einem Mann hinzugeben, wie es dort illustriert war!

Schmutzig, zerkratzt und mit aufgeweichten Kleidern lief sie geradewegs Mademoiselle Dernier in die Arme, die sie schon vermisst hatte.

Kopfschüttelnd, aber erleichtert betrachtete die Gouvernante das zerzauste Wesen, aus dem sie eigentlich eine Dame machen sollte. »Amélie«, sagte sie entrüstet, »wie siehst du nur aus!«

Dann, als schien sie über ihre eigene Stimme erschreckt, blickte sie über die Schulter zurück, ob sie auch niemand gehört hatte, zog Amélie ins Haus und scheuchte sie rasch die Treppe hinauf und in ihr eigenes Zimmer. Keineswegs wünschte sie eine Begegnung mit Madame, die ihr sicherlich die Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht vorgeworfen hätte.

Während sie Amélie half, sich aus ihren triefenden Kleidern zu schälen, sagte sie: »Ich möchte nur wissen, wo du dich wieder herumgetrieben hast. Du bist doch schlimmer als ein Junge. Anstatt in der Nähe des Hauses zu bleiben, verschwindest du einfach! Und ich, die ich für dich verantwortlich bin, mache mir die größten Sorgen. Wenn das deine Mutter wüsste, wäre ich die letzte Zeit in diesem Hause gewesen!«

Amélie setzte bei diesen Worten ihren Schmollmund auf und schwieg. In Wahrheit genoss sie aber das Gefühl der Wärme und der Geborgenheit, das sie nach einem solchen Abenteuer umso stärker empfand. Fröstelnd kuschelte sie sich tiefer in den weichen Morgenrock, »...und du solltest mehr lernen, jeden Tag etwas dazu, dich fürs Leben bilden!«, hörte sie wie in Trance die Worte von Mademoiselle Dernier an ihrem Ohr vorbeiplätschern. »Ich weiß doch, dass du gern liest! Aber doch nicht alles, was dir zufällig in die Finger kommt.«

Wenn du wüsstest, was ich gerade gelesen habe!, dachte Amélie und kicherte leise in sich hinein. Doch im selben Moment durchfuhr sie ein Schreck. Auguste besaß ja noch das Buch... Siedend heiß stieg ihr das Blut in die Wangen, und sie war plötzlich hellwach. Er würde es lesen... er würde es Patrick zeigen... vielleicht gar ihren Eltern! Sie war auf jeden Fall bloßgestellt, erniedrigt, lächerlich gemacht, in ihrer Neugier, alles wissen zu wollen!

»Wenn du einmal heiratest...«, fuhr Mademoiselle Dernier fort, »... dann...«

Amélie fiel ihr ins Wort: »Ich heirate niemals!«

»Nur nicht so voreilig, das hat schon manches Mädchen gesagt.«

»Niemals!«, bekräftigte Amélie. »Sie sagten doch selbst, man solle sich bilden... lieber beschäftige ich mich mit Politik, wie Papa, ich werde reisen... und ich werde frei sein. Vielleicht werde ich sogar Schauspielerin...«

Die Gouvernante schüttelte den Kopf und legte ihr lächelnd den Arm um die Schultern. »Das würden deine Eltern wohl zu verhindern wissen, und es bewahre Gott dich davor, eine solche Kokotte zu werden... Aber als ich in deinem Alter war, fühlte ich genauso, nur hatte ich nicht wie du die Wahl – doch jetzt komm, ich hole dir trockene Sachen, und du kannst hinuntergehen. Man hat dich sicherlich bereits vermisst.«

Amélie zögerte. Sollte sie Mademoiselle Dernier um Rat bitten? Doch im gleichen Moment verwarf sie den Gedanken wieder. Wie sollte sie die Situation erklären?

Ihre Blicke schweiften zu dem schmalen Bücherbord, wo sich die Werke von Corneille, Racine und den griechischen Philosophen reihten. Auf dem Nachttisch duftete eine Schale mit Rosenblättern neben einem aufgeschlagenen Band Gedichte.

Jemand, der das las, würde für verbotene Schundliteratur kaum Verständnis aufbringen.

Amélie und die Sturmzeit von Valfleur

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