Читать книгу Amélie und die Botschaft des Medaillons - Nora Berger - Страница 10
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Das Mädchen Sheba
ОглавлениеDas Palais des Anges, eine von einem kleinen Park umsäumte, in italienischem Stil erbaute Villa, hob sich mit einer gewissen Protzigkeit von den anderen, bescheideneren Gebäuden am Boulevard St. Martin ab. Die Besitzerin schien eine Vorliebe für vollfleischige steinerne Putten aller Art zu haben, sie tummelten sich im Garten, saßen auf Vorsprüngen und schienen sich auf Simsen zu necken. Über dem Eingangstor reckte sich bezeichnenderweise ein kleiner, marmorner Amor empor, der mit seiner Armbrust auf die Besucher anzulegen schien. Sein Lächeln war jedoch mehr das eines Faunes, rätselhaft und unergründlich, so als wolle er die Gäste warnen, über die Schwelle zu treten. Efeuranken, dichte Rosenspaliere und üppige rosa und fliederfarbene Rhododendronbüsche verdeckten fast die Zufahrt über eine leichte Anhöhe, an der sich eine breite Treppe beidseitig zum kunstvoll geschnitzten Eingangsportal hinaufbog.
Die breite Tür hinter den Spalieren öffnete sich plötzlich, und Amélie, die schon einen Fuß aus der Kutsche gesetzt hatte, zog sich rasch zurück. Amüsiertes und lautes Lachen drang von drinnen heraus, und zwei junge Männer mit langen Haaren, Gehröcken und bunten Schärpen, Kusshände nach rückwärts sendend, traten mit geröteten Gesichtern ein wenig schwankend auf das Straßenpflaster und sahen sich nach einem Fiaker um. Als sie die wartende Mietsdroschke erblickten, schwenkten sie laut rufend ihre Stöcke und überquerten mit jener schlafwandlerischen Sicherheit, die nur Betrunkene besitzen, die Straße, auf der die mit allen möglichen Gebrauchsgegenständen beladenen Wagen keinerlei Rücksicht darauf nahmen, was sich im Weg befand.
»Fahr weiter!«, rief Amélie dem Kutscher zu, doch dieser, der das ständige, ziellose Umherfahren leid war und sich von den neuen Kunden mehr versprach, blieb ungerührt stehen.
»Zuerst zahlen Sie mir einmal die bisherige Fahrt, Mademoiselle!«
»Mademoiselle?«, rief Amélie entrüstet aus, »ich bin Madame d’Églantine, die Frau des Abgeordneten!«
»Und wenn Sie die Königin von Saba sind – ich will zuerst mein Geld! Sie haben mir diese Adresse genannt – und ich kann mir schon vorstellen, was Sie dort suchen.«
Die bärbeißige Miene des Kutschers ließ kein Einlenken erhoffen. Grinsend starrten die beiden Betrunkenen jetzt durch das Fenster des Wagens, erfreut, eine so hübsche Dame ganz ohne Begleitung darin vorzufinden. Der jüngere der beiden, stutzerhaft nach der neuesten Mode gekleidet, mit hohem Hut, gelben Kniehosen, rot abgesetzter Weste und einem Hemd mit dreifach geknoteter Krawatte, stieß seinen Kumpan in die Seite und rief mit schwerer Zunge: »O lala, die ist ja noch besser, als die Mädels dort drüben!«
Der Mann streckte die Hand aus. »Komm mit uns, meine Schöne ... wir machen eine nette Tour ...«
Amélie, von dem ihr entgegenschlagenden Alkoholdunst angewidert, sprang, so schnell sie es in ihrer voluminösen Robe vermochte, auf der anderen Seite der Kutsche hinaus.
»Was ist, Schätzchen ... wir zahlen auch die Fahrt ...«
Der junge Geck versuchte schwankend, ihren Arm zu packen, wobei ihm der hohe Hut mit roter Quaste in den Straßenschmutz fiel.
»Merde!«, mit einem Fluch bückte er sich und konnte die Kopfbedeckung gerade noch vor einem rücksichtslosen Bauernkarren aus dem Staub retten. Ohne darauf zu achten war Amélie, sich behände durch das Gewirr von Kutschen und Pferden drängend, bereits über die Straße gelaufen.
»Halt! Hiergeblieben! Mein Geld ... Polizei!«, schrie ihr der Kutscher mit geballter Faust nach. »Haltet die Frau ... ich will mein Geld ...«
Auf der anderen Seite der Straße blieb Amélie zunächst unschlüssig stehen, doch nachdem ein in der Nähe promenierender Wachsoldat aufmerksam geworden war, nahm sie kurz entschlossen einige Münzen aus ihrem Portemonnaie und warf sie mit gut Glück in die Richtung des sie verfolgenden Kutschers. Aber noch bevor der Mann sich auch nur danach bücken konnte, waren blitzartig ein paar zerlumpte Straßenjungen zur Stelle, die auch mit dem letzten Liard so schnell verschwanden, wie sie aufgetaucht waren.
Den Wachmann im Rücken lief Amélie jetzt, so schnell sie konnte, an den gaffenden Passanten des Boulevards vorbei durch das offen stehende, schmiedeeiserne Tor, das in den Garten der Villa führte und zog es mit einem kräftigen Ruck hinter sich zu.
Ohne einen Blick auf die betörend duftenden Rosenstöcke zu werfen, hastete sie den Treppenaufgang hinauf und zögerte erst vor dem prächtigen Portal. Eine Gruppe steinerner Putten trug ein silbernes Schild, auf dem der verschnörkelt eingravierte Name des Etablissements zu lesen war: »Palais des Anges«.
Obwohl erst Mittag, sah man hinter den halb geschlossenen Läden bereits Kerzen brennen. Was würde Cécile sagen, wenn sie so ganz ohne Voranmeldung und nachdem sie so lange jeglichen Kontakt vermieden hatte, plötzlich hereinplatzte?
Unsicher blickte sie zum Tor zurück, an dem das rote, ärgerliche Gesicht des Kutschers auftauchte, der sich in Begleitung des Polizisten näherte, um sein restliches Geld einzufordern. Das gab den Ausschlag. Ohne weiter nachzudenken, läutete sie stürmisch an der metallenen Glocke vor dem Portal. Die Tür öffnete sich so schnell und unmittelbar vor ihrer Nase, dass sie dem livrierten Diener, der diskret zurückwich, direkt vor die Füße stolperte. Er schien sich nicht einmal zu wundern, dass sie so eilig Einlass begehrte und verschwand.
Sich aufrappelnd, sah sie hinter ihm in die fragenden Augen zweier dürftig bekleideter, stark geschminkter Damen, die außer einem transparenten Spitzenhöschen und einem, den nackten Busen herausfordernd hochpressenden Mieder, über den sich eine Federboa schlängelte, wenig anhatten. Sie hielten sich eng umschlungen, und die Blonde, bei näherer Betrachtung ein noch sehr kindlich wirkendes Mädchen mit rundlichen Formen, hatte den Kopf zärtlich auf die Schulter der Älteren, einer kräftigen Rothaarigen gelegt. Ihre von netzartigen, schwarzen Seidenstrümpfen umhüllten Beine mit opulenter Rüschenkrause, steckten in spitz zulaufenden, geschnürten Schuhen mit hohen gebogenen Absätzen, in denen sie nur zu trippeln vermochten.
»Und? Was willst du?« Die Frage der Rothaarigen war nicht unfreundlich.
»Ich ...« Sie stockte, als sie mit halbem Blick hinter einem Paravent zwei weitere Frauen erblickte, die sich in höchst unanständiger Weise auf einem roten Samtcanapé räkelten. Eine von ihnen, eine hübsche Dunkle mit zerzaustem Haar, blickte neugierig auf, ohne jedoch die gewagten Zärtlichkeiten, mit denen sie den Hals und die nackten Brüste der auf ihrem Schoß liegenden jungen Frau liebkoste, zu unterbrechen. Entsetzt sah Amélie, wie sie sich niederbeugte und ihre Lippen provokant über die weiße Haut der lasziv daliegenden, unbekleideten Schönen gleiten ließ.
»Oh, ich bitte um Entschuldigung«, hauchte sie, verlegen die Blicke senkend, »ich will nicht stören – aber ich ... möchte eigentlich meine Freundin Cécile ... ich meine natürlich die Gräfin de Platier sprechen«, sie suchte nach einem plausiblem Grund, »weil ich ihr etwas von ihrem Bruder Auguste zu bestellen habe.«
Die beiden Frauen sahen sich bedeutungsvoll an, ohne den Eingang frei zu geben und musterten sie amüsiert. »Hast du das gehört – ihr Bruder Auguste«, prustete die rundliche Kleine los, verdrehte die Augen und rieb ihre üppigen, festen Brüste am Rücken der Freundin. »Nicht jetzt, Rose!«, die Rothaarige stieß sie unsanft beiseite und wandte sich wieder Amélie zu.
»Spar dir deine Ausreden, du Unschuld vom Lande«, sie ließ ihren Blick abschätzend über Amélies Kleid gleiten. »Wenn du hier anfangen willst, darfst du dich sowieso nicht genieren. Komm meinetwegen rein. Aber zieh dich erst mal aus, damit wir sehen, ob du geeignet bist. Ich sag’s dir gleich, wenn du bleiben willst, musst du alles mitmachen. Wir gehen sehr zärtlich miteinander um, das siehst du ja – zum Ausgleich für die groben Kerle!« Sie sah sie vielsagend an. »Und dann gibt es auch welche, die gerne zusehen, wie zwei Frauen es miteinander machen!«, sie zwinkerte ihr zu und riss ihr plötzlich mit einem raschen Griff das Schultertuch und einen Träger ihres Kleides herunter. »Du bist ja wirklich ganz niedlich!«, rief sie anerkennend aus.
»Sind Sie verrückt geworden?« Amélie wich verwirrt zurück und brachte ihre Kleidung in Ordnung. »Ich möchte jetzt endlich die Gräfin de Platier sprechen!«
Die Rothaarige lachte. »Wenn ich mich für dich verwenden soll, musst du schon etwas zahmer sein – hier kannst du nicht die Klosterschwester spielen!«
»Lass sie, Suzanne!« Beinahe eifersüchtig hatte sich die rundliche Blondine herbeigedrängt und schlang die Arme um ihren Hals. »Die tut doch bloß so unschuldig!«
»Komm zu mir, meine Süße!«, kicherte eine betrunkene Dritte mit blonden aufgelösten Haaren, die in einem tiefen Sessel ungeniert die Beine spreizte. »Ich zeig dir, wie das geht!«
Amélie holte tief Luft vor Entrüstung. »Seid doch nicht gleich so ordinär!«, mahnte die Rothaarige mit gespieltem Ernst. »Da bekommt unser Besuch ja einen ganz falschen Eindruck!«
Während von allen Seiten lautes Kichern ertönte, fuhr sie zu Amélie gewandt fort. »Beruhige dich, ma Belle, nimm das nicht so ernst. Wir sind hier doch unter uns. Heb dir deine Prüderie für die Kavaliere auf. Und mit der Gräfin meinst du sicher Madame Cecilia, unsere Chefin! Aber die ist noch gar nicht aufgestanden! Gestern ist es nämlich ziemlich spät, das heißt, eher ganz früh geworden.«
Sie lachte leise und tauschte einen bezeichnenden Blick mit ihrer blonden Freundin, die ungeniert gähnte und dann den Rest aus einem vergessenen Champagnerglas hinunterschüttete. »Willst du was trinken? Dann kommst du vielleicht in Stimmung! Komm, Rose! Zeig du’s ihr mal!«
Rose setzte sich sogleich rittlings auf den Schoß der Rothaarigen und begann, mit dem Zeigefinger langsam und ungeniert ihre Brustwarzen zu umkreisen. Die Rothaarige antwortete mit leisem Stöhnen, und die beiden ließen sich schließlich kichernd, als wäre das alles nur ein dummer Spaß, auf eines der weichen, mit Pelzdecken belegten Sofas fallen, die im Foyer von Paravents halb verdeckt, wie in einem Warteraum standen.
Es klopfte plötzlich hart gegen die Tür, und die Blonde erhob sich aufseufzend, trippelte zum Spion und sah hindurch.
»Die Polizei, Süße. Dachte ich’s mir doch, dass du was ausgefressen hast!«, murmelte sie ungerührt, setzte sich wieder und wippte aufreizend mit den Beinen. »Jean«, rief sie laut, »öffnen!«
Der Diener in korrekter Livree und weißen Handschuhen erschien wie aus dem Nichts.
»Jean, Sie wissen ja Bescheid, was wir in solchen Fällen sagen!«
Er nickte diskret und setzte sich in Bewegung. Solche Szenen schienen nichts Neues für ihn zu sein. Amélie erschrak: Jetzt würde man sie als aufgelesenes Freudenmädchen in irgendein Kommissariat schleppen, wo sie dann vielleicht von Fabre ausgelöst werden musste! Seelenruhig öffnete Jean die Tür, nahm etwas aus einem Portefeuille und drückte es dem Polizisten, der sich vielmals für die Störung entschuldigte, mit einem Augenzwinkern in die Hand. Amélie, seinen neugierigen Blick auffangend, sah diesem merkwürdigen Ritual aus einiger Entfernung verblüfft zu und zog das seidene Tuch in ihrem Ausschnitt höher.
»Danke, Mademoiselle ... sehr freundlich«, sagte sie artig und ein wenig verlegen zu der Rothaarigen, die das Bein in die Höhe reckte und ungeniert ihr Strumpfband festzog. »Ich komme natürlich für die Kosten auf. Aber das ist alles ein Missverständnis! Ich bestehe darauf, die Hausherrin zu sprechen! Sie ist nämlich eine alte Freundin von mir, eine Nachbarin von Schloss Valfleur!«
Die Mädchen stießen sich an und kreischten los.
»Habt ihr das gehört? Eine alte Freundin von ... Schloss Valfleur! Neue Masche, um aufzuschneiden!«
»Ach, lasst sie doch in Ruhe – die ist entweder dumm oder schwer von Begriff«, mischte sich plötzlich eine blutjunge, kaum sechzehnjährige, farbige Schönheit mit schwarzen Haaren und samtenem Teint in die Unterhaltung, die mit halb geschlossenen Augen, Rauchwolken in die Luft paffend, rücklings auf einem Stuhl saß und die Szene in gebührendem Abstand aus einer Erkerecke beobachtet hatte. Mit katzenhaft geschmeidigen Bewegungen schwang sie jetzt ihre langen Beine, kam lasziv herbeigeschlendert und sah Amélie mit verächtlicher Überlegenheit an. »Madame Cecilia schläft um diese Zeit noch. Ist das so schwer zu verstehen?«
Amélie starrte sie erbost an. Dieses unverschämte Ding, eine Art Mischblut und fast noch ein Kind, verdiente für ihren rüden Ton eine Zurechtweisung. Sie suchte wütend nach den passenden Worten, doch dann hielt sie sich mit eisigem Schweigen zurück. Es war besser, hier unnötiges Aufsehen zu vermeiden. Das Mädchen war in der Tat eine seltene exotische Schönheit mit langem schwarzen Haar und eigentümlich blauen Augen, deren Helligkeit in auffallendem Kontrast zu ihrem milchkaffeefarbenen Teint stand. Mit ihrem feingliedrigen Körper glich sie fast den jungen Zigeunerinnen, die manchmal am Place de Greve mit Kastagnetten und Blüten im Haar für ein paar Sous tanzten.
Amélie hob ihre Nase ein wenig höher und bat in trockenem Ton: »Nun, dann ... dann wecken Sie sie bitte – auf meine Verantwortung. Es ist ja schließlich schon beinahe Mittag. Im Übrigen verbitte ich mir diesen legeren Ton!«
»Schon gut, Chérie, reg dich nicht auf – du kannst hier warten. Aber wegen dir wird sie nicht gleich ihre Gewohnheiten ändern.«
Die junge Exotin verzog das Gesicht, warf den anderen bezeichnende Blicke zu und pustete Amélie dreist eine Rauchwolke ins Gesicht, bevor sie mit aufreizend schwingenden Hüften davonstöckelte und sich ungerührt auf eine Récamière warf.
Die anderen Frauen begannen untereinander zu tuscheln und zu kichern, als habe sie einen unwiderstehlichen Witz gemacht. »Schloss Fleur ... wie hieß das noch gleich? Die gibt aber an und tut fein! Alte Freundin – das sagt doch jede! Madame wird sich bedanken! Als wenn wir nicht schon genug wären. Da könnte sie ja jede Hergelaufene nehmen!«
Ein kreischendes Auflachen der anderen antwortete.
Amélie ignorierte die Unverschämtheiten, wandte ihre Blicke aber hilfesuchend zu dem mit unbeweglichem Gesicht wartenden Diener. Gerade als sie den Mund zu einer Beschwerde öffnen wollte, ließ sich eine verärgerte, durch ihre Lautstärke beinahe schrill klingende Stimme hören.
»Sacre Putain! Was ist das hier für ein Krach, zum Donnerwetter! Verdammte Huren – habt ihr denn immer noch nicht genug? Wer ist dieses verfluchte Miststück, das mich gerade dann aufweckt, wenn ich nach einer langen Nacht endlich ein wenig die Augen zumache! Das ist ein distinguiertes Haus und keine Lasterhöhle!«
Der aufgebrachte Ton, der ihr nur allzu bekannt vorkam, entlockte Amélie unwillkürlich ein Lächeln. Das war doch nicht etwa Cécile, die kleine, ein wenig schüchterne, dickliche Cécile, die aus Liebe zu ihrem Hauslehrer Léon nach Paris durchgebrannt war, um ihr eigenes Leben zu führen? Sie versuchte, im halbdunklen Hintergrund des nur matt von Kerzen erhellten, dämmrigen Salons etwas zu erkennen.
»Cécile ...?«, rief sie verhalten und etwas beklommen. Sie kniff die Augen zusammen und machte ein paar Schritte über die Schwelle in den weitläufigen Raum hinein. Eine unglaubliche Anzahl von Stühlen gruppierte sich im Mittelbereich um den riesigen Spieltisch mit einem silbern glänzenden Roulett, auf dem verstreut Karten und Würfel zwischen abgestellten und umgefallenen Gläsern lagen. Dahinter stand im undeutlichen Licht Cécile, oder das, was aus der ehemals unbeholfenen und braven Tochter eines verarmten Landjunkers im Laufe der Jahre geworden war.
Mit um die Schultern wallendem, weizenblond gefärbtem Haar reckte sich die halbnackte junge Frau beim Näherkommen ungeniert nach allen Seiten und hielt geziert ihre gepflegte Hand mit den blutrot lackierten Fingernägeln vor den Mund, um ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken. Sie wirkte, als sei sie nach einer langen Nacht ins Bett gefallen, so wie sie war und auch genau so wieder aufgestanden. Zerdrückte Locken mit kleinen Schmuckperlen und Schleifchen umrahmten unordentlich das ein wenig pausbäckige Gesicht, auf dem Schminke und Puder verflossen waren. Die von falschen Wimpern umsäumten, noch immer etwas naiv blickenden, hellblauen Puppenaugen, blinzelten mit ärgerlichem Misstrauen ins Licht. In ihrer üppigen Fülle, den verschwenderisch zur Schau gestellten Formen, die beinahe das nachlässig geöffnete Korsett sprengten, wirkte sie wie eine leibhaftig gewordene Venus, die fleischgewordene Versuchung. Ihr gewaltiger Busen wogte im offenherzigen Ausschnitt des rosa gerüschten Hauskleids und eine flauschige, rosa Federboa schleifte achtlos am Boden. Ihr noch mädchenhaftes Gesicht, das eine seltsame Mischung aus Unschuld und Laster darstellte, verzog sich beim Anblick Amélies überrascht zu einem breiten Lächeln, dem zwei hübsche Grübchen und regelmäßige, kleine weiße Zähne ein anziehendes Strahlen verliehen.
Mit ungespielter Verzückung breitete Cécile beide Arme aus, und ihre kindhaft hohe Stimme überschlug sich beinahe: »Amélie? Nein, ich träume wohl! Bist du es wirklich, Amélie, meine beste Freundin ... Schätzchen ... ist das wahr? Du bei mir! Endlich hast du einmal den Weg zu mir gefunden! Lass dich umarmen!«
Amélie zögerte mit einem Blick auf die neugierig nähergetretenen Damen.
»Glotzt nicht so dumm!«, fuhr Cécile mit völlig verändertem Ton harsch die neugierigen Frauen an, denen das Gekicher in der Kehle erstarb. »Verschwindet, ihr dummen Gänse, aber ein bisschen schnell. Lasst mich mit meiner teuren, meiner einzigen Freundin allein!«
Sie drückte die verblüffte Amélie an ihre Brust und flötete sanft: »Komm mit mir, meine Süße, und entschuldige den rauen Ton – aber diese Mädels aus der Gosse muss man so anpacken, die verstehen keine andere Sprache! Das musste ich auch noch lernen ... meine Mutter selig würde auf der Stelle in Ohnmacht sinken, wenn sie mich so reden hörte ... du weißt ja, wie sie auf Etikette achtete! Aber ich war nach ihrer Meinung sowieso aus der Art geschlagen!«
Unaufhörlich schwatzend, den Arm um ihre Schultern gelegt, schob sie Amélie weiter in den Salon, in dem neben dem immensen Roulette und separaten Kartentischen ein unbeschreibliches Durcheinander herrschte. Kleidungsstücke, Spielkarten, Würfel, Gläser, Kissen, Wachsreste heruntergebrannte Kerzen, alles war über den Boden verstreut. Auf den mit Weinflecken verzierten Decken des großräumig aufgebauten Buffets lagen neben einem umgekippten Leuchter übrig gebliebene Speisereste auf silbernen Platten, darunter ein ganzer Braten, um den dicke Fliegen summten. Die Luft war stickig und schwül.
Mit einer wegwerfenden Geste zuckte Cécile ohne die geringste Verlegenheit die Achseln: »Wundere dich nicht über die Unordnung ... sieh dich bitte nicht um – morgens geht es bei uns immer ein wenig nachlässig zu! Ich selbst bin auch noch gar nicht hergerichtet ... ich hatte mich nur ein wenig niedergelegt!«
»Ich wollte wirklich nicht stören, aber ...«, begann Amélie betreten, doch Cécile überhörte ihren Einwurf. Herrisch rief sie den Diener an: »Jean, sorg dafür, dass aufgeräumt wird und lass die Essensreste wie immer zur Pont de Change bringen, du weißt ja, der Händler für die Déjeuners – es gibt so viele arme Leute, die sich die Finger danach lecken. Und verlang nicht zu viel dafür. Du kennst ja mein gutes Herz – ich bin großzügig.«
Der Diener nickte stumm, nahm die Platte mit dem Braten und trug sie hinaus. Cécile zog die eingeschüchterte Amélie hinter sich her in ein kleines Separee, in dem ein gutes Dutzend Champagnerflaschen und halbleere Gläser auf Tischen und am Boden herumstanden und ließ sich aufseufzend und schwer auf ein breites Sofa fallen, das fast das ganze Zimmer einnahm.
»Hierher ziehe ich mich immer vor der Unordnung nach einem Fest zurück, Chérie! Aber jetzt brauche ich erst mal einen Schluck, um aufzuwachen!« Sie griff nach einer offenen Champagnerflasche, goss ein Glas voll und stürzte es hinunter. »Möchtest du auch?«, fragte sie Amélie, die angewidert das Gesicht verzog. »Aber ja doch, Schätzchen, ich weiß, was du denkst«, sie lachte glucksend auf. »Keine Sorge, ich werde dir eine schöne, heiße Schokolade bringen lassen.«
Sie stellte das Glas ab und ließ die kleine, silberne Glocke erklingen, die auf einem Tablett stand. »Nun lass dich doch ansehen! Wie schön du bist – unglaublich, so schlank wie eine Porzellanpuppe – und unsereins ...« Sie sah mit schmollend verzogenem Mund an ihren Speckrollen und der überbordenden Fülle Fleisch ihres Körpers herab. »Ich kann machen, was ich will, es wird immer mehr! Aber ich esse eben so gerne! Nun sag, Kind, wie ist es dir ergangen ... aber ich weiß ja das meiste von dir – selbst in einer Stadt wie Paris lässt sich nicht alles geheim halten ...«
Ganz genau wie früher plapperte sie unentwegt, und Amélie kam überhaupt nicht zu Wort. Ernüchtert fragte sie sich, warum sie überhaupt hergekommen war. Cécile war noch die gleiche, oberflächliche Nervensäge wie ehedem geblieben, die wie ein Wasserfall redete und mit der man einfach kein ernsthaftes Wort sprechen konnte.
»Du siehst ja, Kleines, was aus mir geworden ist«, seufzte Cécile schließlich, die Resignierte spielend. »Zuerst mein literarischer Salon, dann ... das andere. Ich brauchte Geld, weißt du? Ich wollte eben nicht wie meine Eltern mein Leben in Armut auf dem Land verplempern. Wir Adeligen haben ja sowieso nichts mehr zu melden – außer dass wir uns den Scharfrichter aussuchen können!« Sie versuchte zu lachen und sah dann verlegen zu Boden. »Und nun habe ich alles, was ich immer wollte – und noch viel mehr. Ein interessantes Leben, alles in allem – und Geld genug. Die Spitzen der Gesellschaft, unsere Konventsmitglieder, Minister; beinahe alle Abgeordneten geben sich bei mir die Tür in die Hand. Ich habe Einfluss, weißt du ... Niemand kennt genau meinen Namen und meine Herkunft – das ist in diesen Zeiten auch besser so. Man nennt mich La Bella Cecilia, die blonde, italienische Venus. Natürlich nur, wenn ich hergerichtet bin, nicht so, wie du mich jetzt siehst – und du weißt, ich spreche ein wenig Italienisch – Amore, Bongiorno, Ti amo – das reicht und kommt gut an, bei den ... ich meine bei den Herren.«
Sie kicherte, als sei sie noch das junge Mädchen von damals, strich an ihrem Körper entlang und machte eine Geste, als wolle sie die Haare hochnehmen und ordnen. »Ein wenig Schminke, ein wenig Illusion ... Aber ich gebe es ehrlich zu: Wenn ich nach dem Ehrenkodex meiner Eltern gehandelt hätte, wäre ich vielleicht als armseliges Häufchen Elend im Hôtel-Dieu geendet, verlassen von Léon, dem gelehrten Schwätzer! Odi et ami – Ich hasse und liebe – war sein Wahlspruch. Aber zu nichts hat er es gebracht, mit all dem Latein und seinen philosophischen Sprüchen! Ach«, Cécile holte kurz Luft, »du weißt ja beileibe nicht alles ... erst kürzlich sind meine Eltern verstorben – Papa konnte nicht verkraften, dass die Adeligen nun so verpönt waren – was haben die Ärmsten alles mitgemacht – dieses kalte, feuchte Appartement, der Überfall und die Sorge um Pélissier, diese alte Ruine; das alles hat ihnen den Tod gebracht. Und erst Auguste, mein geliebter Bruder, um dessen Leben ich Tag für Tag fürchte, seit er sich der Widerstandsbewegung der Royalisten in der Vendée angeschlossen hat ...«
Sie verdrehte theatralisch die Augen zum Himmel und seufzte: »Mon Dieu! Da lobe ich mir das, was ich mir ganz allein – sagen wir – erarbeitet habe ...«
Amélie nickte und versuchte, dem Wortschwall zu folgen, um sie bei Gelegenheit zu unterbrechen. Sollte sie erzählen, dass sie es gewesen war, die Auguste vor dem Scharfrichter gerettet hatte? Doch dann zog sie es vor, sich auf das Wesentliche zu begrenzen.
»Das mit deinen Eltern tut mir leid. Aber ich bin eigentlich gekommen, um dich etwas zu fragen ...«, sie zögerte, und Cécile fiel ein: »Aber alles, mein Liebling, frag nur, sprich dich aus, mir kannst du alles sagen – ich habe meine Erfahrungen gemacht, weißt du, nicht so, wie meine Familie es sich vorgestellt hat, aber auf meine Art ...«
Ein weiterer Redefluss ergoss sich in die Ohren der genervten Amélie, die immerhin noch einen weiteren Vorstoß wagte.
»Cécile, es geht eigentlich nicht darum. Ich bin gekommen, weil ich etwas von dir wissen möchte. Vielleicht kannst du es dir denken – es handelt sich um meinen ersten Mann, Richard de Montalembert ...«
Für einen kurzen Moment schien es, als erblasste die Freundin unter ihrer Puderschicht. Ihre Lippen zitterten, sie verdrehte die Augen, schrie leise auf und verbarg das Gesicht theatralisch in den Händen.
»Oh, schrecklich dieses Geschehen – sprich nicht weiter. Wie musst du gelitten haben, du Ärmste ... es ist so furchtbar! Deine Familie – welches Schicksal! Und ich hörte, du warst selbst im Gefängnis – also, wenn du etwas brauchst, ich bin immer für dich da, ich ...«
»Nein«, Amélie machte hastig einen weiteren Versuch, »es ist nicht so, wie du meinst, Cécile, aber vielleicht kannst du mir helfen – mit deinen Verbindungen und Kontakten! Ich habe etwas Unglaubliches erfahren ...«
»Etwas Unglaubliches?«, unterbrach Cécile, und ein beinahe lauernder Ausdruck trat auf ihre Züge.
»Ja, Cécile! Du kannst dir denken, dass ich mich bereits mit der Tatsache abgefunden habe, dass Richard tot ist – aber als ich Manon Roland in der Conciergerie besuchte, gab sie mir ein Medaillon ...«
Ein weiterer, dramatischer Aufschrei von Seiten Céciles ließ sie erschrocken einhalten: »Ach, mein Gott, die arme Manon! Du kannst dir jedes Wort sparen – ich bedauere sie von Herzen. Doch sie hat schon immer zu viel Fantasie gehabt! Man sollte ihr nicht alles glauben! Und was hat sie nun von ihrer Tugendhaftigkeit, die auch nur bis zu dem Verführer Buzot reichte!« Céciles Stimme bekam einen spitzen, maliziösen Klang. »Ich kannte sie übrigens gut, obwohl sie die Nase ein wenig hoch trug – es ist wirklich schade um sie, aber ich fürchte, man kann ihr jetzt nicht mehr helfen ...«
»Aber hör doch – in diesem Medaillon lag ein Brief – und sie gestand, dass ...«, versuchte Amélie verzweifelt einzuwerfen, doch Céciles anscheinend schwaches Interesse an ihren Worten wurde endgültig abgelenkt, als der Diener erschien.
»Madame, ein Besucher, der immer Zutritt hat – Sie wissen schon«, er beugte sich vor und flüsterte ihr einen Namen ins Ohr, »... er will Sie unbedingt sofort sprechen!«
Cécile fuhr auf: »Oh! Der Chevalier de Rougeville! Unmöglich, so wie ich aussehe – schick mir Nanette ... sie soll schnell ein Bad bereiten und mir beim Ankleiden helfen! Und führ den Chevalier inzwischen in den kleinen Salon nach oben.« Nervös strich sie sich durch die Haare und zupfte an ihren Locken. »Schrecklich, nicht ein paar Stunden habe ich Ruhe. Nicht ein einziges Mal kann ich mich mit meiner Freundin von Frau zu Frau aussprechen. Entschuldige mich, Liebste! Wir werden uns später weiter unser Herz ausschütten, nicht wahr?« Sie tätschelte mit ihrer fett gepolsterten Hand Amélies Arm. »Dann nehme ich mir extra Zeit für dich. Aber jetzt ... es ist wichtig, Chérie! Du verstehst doch! Ein sehr, sehr guter Freund!«
Sie wurde ernst und sagte eindringlich. »Warte auf jeden Fall auf mich, ich habe dir noch unglaublich viel zu erzählen!« Dann fuhr sie im gewohnten Tonfall fort: »Welch ein Glücksfall, dass du gerade heute bei mir erschienen bist! Die Karten haben es mir vorhergesagt. Eine geheimnisvolle Macht hat dich hergezogen! Bleib, ich beschwöre dich! Man wird dir inzwischen ein kleines Déjeuner servieren ... ich beeile mich und dann plaudern wir weiter, von alten Zeiten ... ganz wie früher!«
Sie küsste Amélie schmatzend auf beide Wangen, winkte theatralisch mit der an allen Fingern beringten Hand und warf ihr noch eine Kusshand zu, bevor sie mit wogendem Busen, als groteske Karikatur des jungen Mädchens der Vergangenheit hinter der kleinen Tapetentür verschwand.
Ratlos blieb Amélie zurück. »Eine geheimnisvolle Macht hat dich hergezogen ... so ein Unsinn!«, murmelte sie abschätzig. Ihre Ohren summten vom Geschwätz der ehemaligen Freundin, und ihr wurde bewusst, dass sie im Verlauf der Unterhaltung nicht einmal zu einem einzigen, vollständigen Satz gekommen war – Cécile, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, hatte ihr gar nicht richtig zugehört und wusste ganz sicher nichts von Richard. Zwar hatte sie geglaubt, ein leichtes Flackern der Augenlider in Céciles Blick zu bemerken, als sie seinen Namen erwähnte – doch das war wahrscheinlich Einbildung gewesen. Manon hatte sich eben geirrt, als sie ihr sagte, man könne ihr im Palais des Anges weiterhelfen!
Sie erhob sich, öffnete die Boudoirtür und stieg vorsichtig über das Durcheinander im Salon. Die verbrauchte Luft war durchsetzt von Céciles schwerem Parfum, dem Geruch saurer Essensreste und schalem Champagner. Die Vorstellung eines Déjeuners im Chaos der stickigen Räume mit den liegen gebliebenen Speiseresten verursachte ihr Ekel. Sie hatte nur noch den Wunsch, möglichst schnell hinauszukommen, weg von der schwülen, sich sündig gebenden Atmosphäre des Palais des Anges, den kichernden, halbnackten Mädchen, die auf den Sesseln des Vorraums lümmelten und der schwatzhaften Cécile.
Alles im Haus schien ruhig, selbst von dem livrierten Diener, der sie zuvor eingelassen hatte, war keine Spur zu sehen. Erleichtert öffnete Amélie die Haustür.
Doch auf der Schwelle, ihr gegenüber, stand unvermittelt und wie ein lebendig gewordener Alptraum der schwarzhäutige, verkrüppelte Zwerg aus der Conciergerie. Er hatte . gerade die Hand gehoben, um die Glocke zu läuten und starrte sie nun mit seinem ewigen Grinsen und weit aufgerissenen Augen verblüfft an. Als Amélie, zu Tode erschrocken, einen lauten Schrei ausstieß, machte er mit einem Satz kehrt und sprang, so schnell es seine krummen und verkrüppelten Beine erlaubten, die Treppe hinunter und war im nächsten Augenblick wie ein Schatten in den Büschen des Parks verschwunden.
Amélie verharrte eine Weile reglos vor Angst, während ihr Herz laut gegen ihre Rippen pochte. Hatte sie richtig gesehen? Wie kam dieses Wesen hierher? Der Garten lag wie vorher in unschuldsvollem Frieden, aber einige abgeknickte Zweige in den Sträuchern überzeugten sie von der Wirklichkeit dessen, was sie eben erlebt hatte. Vor ihren Füßen lag ein heller Umschlag, den der Zwerg bei seiner Flucht verloren hatte. Amélie bückte sich, hob ihn auf und drehte ihn unschlüssig in den Händen.
Er trug ein großes, dickes Siegel und ein rot unterstrichenes Wort: »Wichtig!« Große, aufgesetzte Buchstaben verrieten den Adressaten: »Chevalier de Rougeville«. War das nicht der Name jenes Besuchers gewesen, der Cécile so dringend sprechen wollte? Im Begriff, den Brief auf einer Kommode des Vorraums abzulegen, wandte sie sich zurück.
»Madame!« Beim Klang der hellen Stimme fuhr sie so heftig zusammen, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Die Tür klappte mit lautem Geräusch hinter ihr ins Schloss, und sie legte instinktiv die Hand mit dem Umschlag auf den Rücken. »Madame?« Das schwarzhaarige Mischblut mit den hellen, von der dunklen Haut so glasklar abstechenden Augen, die ihr vorhin so frech den Rauch ins Gesicht gepustet hatte, näherte sich mit einem kleinen Tablett, auf dem ein Kännchen, eine Tasse und etwas Gebäck standen. Sie war umgekleidet und trug ein ihr viel zu großes, von einem Gürtel gerafftes rotes Miederkleid mit weißer Bluse. Ohne die koketten Details und die Schminke von vorhin sah sie sehr kindlich aus und ähnelte mehr denn je einem Zigeunermädchen von der Straße. Mit zerknirschter Miene knickste sie und sah beinahe schüchtern zu ihr auf.
»Sie wollen doch nicht schon gehen? Erlauben Sie, dass ich mich für mein schlechtes Benehmen entschuldige. Es war so dumm von mir. Wie sollte ich ahnen, dass Sie ... nicht zu uns gehören. Ich wollte doch bloß den anderen imponieren!«
Amélie warf hochmütig den Kopf zurück, ohne etwas zu entgegnen.
»Ihre heiße Schokolade!« Sie setzte das Tablett auf den Tisch und sah mit einem von unten kommenden, demütigen Blick zu ihr auf, der dem eines treuen Hundes glich. »Madame Cécilia sagte, ich sollte sie Ihnen bringen!«
»Ich möchte nichts«, beeilte sich Amélie zu versichern, »und grüßen Sie Madame Cécilia von mir. Au Revoir.«
Als sie sich mit einer raschen Bewegung zum Ausgang wandte, glitt der fremde Brief zu Boden.
»Oh!« Die junge Mulattin bückte sich blitzschnell. »Sie haben da etwas verloren!«
Amélie setzte zu einer Erwiderung an, doch dann überlegte sie es sich anders. »Danke!« Leicht errötend nahm sie den Umschlag entgegen und steckte ihn in die Seitentasche ihres Kleides.
»Gehen Sie noch nicht! Ich muss mit Ihnen reden!« Das Mädchen ergriff plötzlich ihre Hand und sah Amélie beschwörend an. »Ich habe eine Bitte an Sie!«
Amélie sah überrascht auf. »Eine Bitte?«
Die Mulattin nickte. »Ich möchte, dass Sie mich mitnehmen!«
Nach dem letzten Wort brach sie unvermittelt in verzweifeltes Schluchzen aus. Der Stoff der weißen Bluse war über die mageren Schultern gerutscht und ließ eine tiefe Narbe über dem Schlüsselbein sehen. Trotz ihrer Jugend schien sie sichtlich nicht viel Gutes erlebt zu haben.
Amélie wusste nicht, was sie sagen sollte, doch dann stieß sie hervor. »Und wie käme ausgerechnet ich dazu?«
Die junge Mulattin umklammerte ihre Hand jetzt wie einen Schraubstock. »Weil Sie gut sind!«
»Schlag dir das aus dem Kopf. Das ist ganz unmöglich!«, weigerte sich Amélie entschieden. »Ich hätte gar keine Verwendung für dich!«
»Ich mache alles!«, das Mädchen ließ sich nicht abschütteln. »Nehmen Sie mich mit, geben Sie mir eine Chance! Ich bin nicht das, was Sie von mir denken!«
Bevor Amélie ein weiteres Wort sagen konnte, fuhr sie hastig fort. »Kennen Sie St. Domingo, die Insel in den Antillen? Das ist meine Heimat. Dort herrscht seit Urzeiten der alte Sklavenhandel, obwohl alle nach der neuen Deklaration der Menschenrechte frei geboren sind.«
Amélie versuchte sie zu unterbrechen, doch das Mädchen sprach schneller und wie gehetzt. »Mein Vater ist Weißer. Als mein Onkel, Jean-Baptiste Bellay, als Deputierter von St. Domingo nach Paris geschickt wurde, um vom französischen Konvent die endgültige Abschaffung der Sklaverei zu erbitten, riss ich aus. Ich verließ die Insel, weil ich glaubte, hier in diesem Land auf eigene Faust die versprochene Freiheit und Gleichheit zu finden. Aber dann geriet ich ins Elend. Mein Onkel beschimpfte mich, er wollte nichts von mir wissen, und in meiner Not landete ich im Palais des Anges. Madame Cécilia gab mir wenigstens zu essen.« Sie senkte den Blick, nicht ohne aus den Augenwinkeln die Wirkung zu verfolgen, die sie auf ihr Gegenüber machte. Amélie war bei diesem seltsamen Bericht verstummt. Geschichten wie diese, erfunden von Herumtreiberinnen und Betrügern, gab es unzählige.
»Ich habe nur sehr wenig Geld bei mir – aber verspreche, dir eine gewisse Summe zu schicken!«, sagte sie so ruhig wie möglich und wandte sich jetzt entschlossen zur Tür.
»Ich will kein Geld!« Hartnäckig verstellte die Mulattin ihr den Weg. »Sie verstehen mich falsch. Ich will nur fort, weg aus diesem Leben, den Nächten, in denen mein Körper an wechselnde Männer verkauft wird. Ich bin keine Hure! Lassen Sie mich bei Ihnen bleiben, wenigstens so lange, bis ich eine Stelle gefunden habe! Bitte!«
Sie machte eine hilflose Gebärde und fiel vor ihr auf die Knie.
Amélie sah unschlüssig auf sie herab. Sprach dieses Mädchen die Wahrheit? Der Wechsel in ihrem Verhalten, mit dem sie jetzt die verführte, naive Unschuld spielte, stand ganz im Gegensatz zu ihrem vorherigen ordinären und verächtlichen Auftreten.
»Hier ... mein Talismann«, das Mädchen zerrte an der Kordel um ihren Hals und brachte eine bunte, kleine Tonfigur zum Vorschein, »er sagt mir, dass Sie von einem Geheimnis umgeben sind! Vielleicht kann auch ich Ihnen einmal helfen. Sie können mir vertrauen!«
Ratlos sah Amélie sie an. Irgendwie musste sie der unangenehmen Situation ein Ende machen. Am besten, sie ginge erst einmal auf alles ein. Später würde sie das aufdringliche Mädchen schon wieder loswerden!
»Nun, wenn du unbedingt willst«, sagte sie ruhig, »dann komm mit mir! Aber ich verspreche dir nicht, dass du bleiben kannst. Mein Mann ist sehr streng – er sucht die Dienstboten immer selbst aus.«
Erleichtert bedeckte das Mädchen ihre Hand mit Küssen.
»Ich danke Ihnen so sehr!«
»Und Madame Cécilia?«, fragte Amélie mit einem letzten Versuch. »Wird sie nicht empört sein, wenn du plötzlich verschwunden bist?«
»Sie ist sicher froh, wenn sie mich los ist! Warten Sie einen Augenblick, ich bin sofort wieder da.«
Amélie nickte und als sie im Nebenraum das Knarren einer Schublade und ein kurzes, spitzes Geräusch hörte, spähte sie durch die offene Tür. Das Mädchen, mit dem Rücken zu ihr, nahm gerade etwas aus einer ledernen Mappe. Als sie Amélies Blick bemerkte, sagte sie gelassen über die Schulter sehend: »Denken Sie jetzt nichts Falsches. Ich habe nur meine Papiere geholt. Kommen Sie, wir können gleich gehen – es gibt nichts mehr, was ich noch mitnehmen möchte!«
Als sie gemeinsam die Treppe herabstiegen und in den Park traten, erblickte Amélie zu ihrem Schrecken hinter den Büschen erneut den hässlichen, schwarzen Zwerg, der am Morgen in der Conciergerie vor der Zelle Manons Wache gehalten hatte. Als wäre nichts geschehen, harkte er eifrig die Beete und kehrte das Laub zusammen. Und obwohl Amélie ein ängstlicher Schauer überlief, fand sie seine Erscheinung im Sonnenlicht weit weniger beängstigend, als in der Dunkelheit der Gefängnisgänge. Der Zwerg tat so, als kenne er sie nicht und wich nur ein wenig weiter in das schützende Grün zurück.
»Sie fürchten sich doch nicht etwa vor dieser hässlichen Missgeburt, Madame?«, lachte die junge Mulattin hell auf. »So etwas wie ihn finden Sie doch auf jedem Jahrmarkt. Dieser schwarze, kleine Teufel stammt wie ich von den Antillen. Er heißt Dimanche, weil er an einem Sonntag hier aufgetaucht ist. Keine Sorge, er tut keiner Fliege etwas zu leide!«
»Bist du sicher?«, stieß Amélie mit halb erstickter Stimme hervor. »Er sieht einfach scheußlich aus!«
»Er kann ja nichts dafür, der Ärmste. Die Comprachicos haben ihn als Kind entführt und absichtlich verkrüppelt.« Achselzuckend sah die Mulattin zu dem Zwerg hinüber, der den Kopf gesenkt hielt. »Sie dachten, er brächte auf Jahrmärkten eine Menge Geld ein. Sehen Sie sein Gesicht? Diese Bestien haben es durch eine Operation völlig verzerrt!«
Amélie schauderte, während die Mulattin gleichmütig fortfuhr.
»Madame Cécilia hatte Mitleid mit ihm, und er durfte bei ihr bleiben. Seitdem kümmert er sich um den Garten, macht Zuträgerdienste – eigentlich alles, was man von ihm verlangt!«
»Ich glaubte«, Amélie schluckte, »ihn schon einmal bei einem Besuch in der Conciergerie gesehen zu haben.«
»Das mag gut sein – Dimanche arbeitet auch im Gefängnis –, er überwacht zusätzlich die politischen Insassen und ist sehr gewissenhaft. Niemand kann etwas an ihm vorbeischmuggeln.« Sie spähte über die Straße. »Warten Sie hier, ich lasse die Droschke dann anhalten.«
Sie lief los und drängte sich mit ihrem wehenden, roten Kleid beinahe halsbrecherisch zwischen den vorüberfahrenden Karossen und Karren hindurch. Amélie blieb am Rande des Parks stehen und sah sich unsicher nach allen Seiten um. Büsche und Bäume rauschten leise im aufkommenden Wind und die unsichtbare Anwesenheit des Zwerges, der sich wahrscheinlich ins Gebüsch verzogen hatte, irritierte sie. Sie machte ein paar unschlüssige Schritte den Kiesweg entlang, als seine bucklig verformte Gestalt plötzlich nicht weit von ihr auftauchte. Sie rief ihn an, doch er ergriff wie vordem die Flucht, humpelte bis zum Ende des Weges und erkletterte mit einer Geschicklichkeit, die man seinem verunstalteten Körper gar nicht zugetraut hätte, das verschnörkelte Eisengitter der Umzäunung. Auf der anderen Seite glitt er herab und eilte hinkenden Schrittes über den Boulevard davon.
Man hätte ihn aus der Ferne für ein Kind mit zu großem Kopf und wirrem Haar halten können, das übermütig die Straße entlanghüpfte. Erst wenn er den Kopf drehte, sah man seine scheußlich schwarze, bis zur Unkenntlichkeit von Narben entstellte Fratze mit den aufgerissenen Augen und der schiefen, unförmigen Nase.
Amélie wandte sich von seinem bedrückenden Anblick ab und ging langsam zum Tor zurück, wo sie wartend stehen blieb. Sie fühlte sich plötzlich müde und mutlos, ihre Schläfen pochten, und der aufgewirbelte Straßenstaub kratzte im Hals. Der Verkehr ratterte mit dem üblichen Rhythmus knarrender Räder und schnaubender Pferde an ihr vorüber. Was für ein sinnloser Besuch! Erschöpft lehnte sie sich gegen eine der beiden neckischen Putten, die das Tor säumten. Die Hitze hatte in der flimmernden Sonne zugenommen, ihre Beine schienen wie aus Blei, und die kleine Platzwunde an ihrem Hinterkopf brannte unangenehm. Sie löste die drückenden Nadeln aus dem notdürftig gedrehten, schweren Haarknoten und betastete vorsichtig die verletzte Stelle. Ein dumpfer Schmerz umspannte ihren Nacken. Nur noch ein Wunsch beherrschte sie: sich in kühle Polster zu lehnen, ihre Beine auszustrecken und für eine Weile die Augen zu schließen, anstatt vergeblich einem Phantom nachzujagen. Mit halb geschlossenen Lidern verfolgte sie den Zwerg auf dem sich in einer leichten Rechtskurve krümmenden Boulevard. Er war jetzt neben einem hochgewachsenen Mann in blauer Uniform stehen geblieben und schien mit ihm zu verhandeln. Als der Fremde den Hut abnahm, leuchtete sein dunkelblondes Haar, von einem Sonnenstrahl getroffen, kurz auf. Amélie traf es wie ein Stich ins Herz, sie beugte sich vor und umkrampfte fest den Sockel des steinernen Engels. Plötzlich hellwach schoss ihr das Blut ins Gesicht, während ihr Herz begann, laut zu klopfen. Obwohl sie aus der Entfernung weder Gesichtszüge noch Einzelheiten erkennen konnte, glaubte sie sicher zu sein, dass dieser Mann Richard war!
In diesem Augenblick rollte die Droschke heran, und die helle Stimme der jungen Mulattin riss sie aus ihrer Erschütterung. »Schnell, Madame, kommen Sie! Es war nicht einfach, um diese Zeit einen Kutscher zu finden.« Sie warf ängstliche Blicke zu den abgedunkelten Fenstern der Villa hinauf.
»Da!« Amélie, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, deutete zum anderen Ende der Straße. »Siehst du nicht? Dort hinten – der komische Zwerg von vorhin ...«
»Dimanche?«, fragte das Mädchen gleichgültig. »Was ist mit ihm?«
»Sein Begleiter – der Mann in der blauen Uniform ...«, drängte Amélie mit trockener Kehle und sah sie beschwörend an, »wer ist das?«
Die Mulattin schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ein Mann in blauer Uniform? Ich sehe niemanden.«
Und tatsächlich, der Mann, der Richard so ähnlich sah, war plötzlich wie vom Erdboden verschwunden, als sei er nie da gewesen.
»Ist das wichtig?« Das Mädchen sah sie fragend an. »Ich kenne die Leute nicht, mit denen Dimanche verhandelt. Können wir jetzt losfahren?«
Amélie strich sich über die Stirn, als müsse sie ein Traumbild wegwischen. Der erfolglose Besuch in der Conciergerie, der kleine Unfall – das Bewusstsein, Richard lebe, das alles hatte sie so verwirrt, dass sie ihn nun schon überall zu sehen glaubte! Kein Wunder – ihre Gedanken drehten sich in den letzten Tagen ja nur noch um ihn. Seufzend ließ sie sich in den Fond der Kutsche sinken, die immer noch am Straßenrand wartete. Die Mulattin sprang flink auf den Tritt und nahm wie selbstverständlich ihr gegenüber Platz.
Sie beugte sich noch einmal kurz aus der Kutsche und winkte dem Zwerg, an dem sie vorüberführen, ein flüchtiges Lebewohl zu.
»Wir beide haben uns gut verstanden – wie Geschwister. Dimanche hängt sehr an mir, und er wird der Einzige sein, der traurig ist, wenn ich fort bin!«, berichtete sie eher gleichmütig.
Amélie nickte und beobachtete, wie der Zwerg dem Mädchen verwundert nachblickte und begann, heftig mit den Armen zu fuchteln, als wolle er ihr etwas mitteilen. Als die Kutsche schneller wurde, setzte er sich selbst mit tölpischem Gesichtsausdruck in Bewegung und lief los. Seine kurzen, krummen Beine galoppierten schneller und schneller, so lange, bis er einsah, dass er das Gefährt niemals würde einholen können. Mit hängenden Armen blieb er enttäuscht und verwirrt mitten auf der Straße stehen und sah dem Wagen so lange nach, bis er aus seinem Blickfeld verschwand.
Die Mulattin schenkte der verkrüppelten Gestalt auf der Straße, die sich mitsamt dem Palais des Anges in der Ferne auflöste, nur geringe Aufmerksamkeit und lehnte sich mit zusehender Erleichterung in die Polster zurück.
»Vielleicht solltest du mir zuerst einmal deinen Namen sagen!«, begann Amélie, die sich allmählich wieder gefasst hatte. Sie konnte sich aus der Veränderung im Wesen des Mädchens, von einer frechen Kokotte zu einem vom Schicksal geprüften, kindlich-sanften Wesen, immer noch keinen rechten Reim machen.
»Riquiano, Sheba Maria Riquiano«, antwortete das Mädchen mit einem stolzen Lächeln, das blitzende, regelmäßige Zähne sehen ließ, »aber nennen Sie mich doch einfach Sheba.«
»Warum ist dein Nachname Riquiano? Du sagtest doch, dein Vater hieße Bellay?«, fragte Amélie, immer noch misstrauisch.
»Ich wurde von dem zweiten Mann meiner Mutter adoptiert.« Die Antwort kam schnell. »Aber ich hasste ihn, er hat mich missbraucht. Deswegen bin ich ja fortgelaufen.«
Ihre wasserblauen Augen unter den dichten, schwarzen Wimpern schienen sich leicht zu verdunkeln. »Und ich bin sechzehn Jahre – eigentlich schon siebzehn ...«
»Nun, Sheba, ich sagte ja schon, ich kann dir nicht versprechen, dass du bleiben kannst. Mein Mann ist sehr jähzornig«, wiederholte Amélie der Wahrheit entsprechend. »Es hängt also ganz von ihm ab!«
»Ich werde alles tun, um ihn von meinem guten Willen zu überzeugen.« Sheba konnte das leise Lächeln, das bei diesen Worten um ihren Mund spielte, nur schwer verbergen. Sie schlug sittsam die Augen nieder, die vorher jäh und seltsam belustigt aufgeleuchtet hatten.