Читать книгу Amélie und die Botschaft des Medaillons - Nora Berger - Страница 5
1
Das Medaillon
ОглавлениеDas tiefe Grau des Himmels über Paris begann sich nur langsam zu erhellen; am Horizont erschien ein feiner, rötlicher Streifen, der sich nach und nach verbreiterte, bis er schließlich von den ersten Strahlen der Morgensonne verdrängt wurde. Ihr leuchtender Schein ergoss sich schrittweise auf den großen Platz der Revolution, vormals Place Louis XV genannt, und ließ das Eisen der Guillotine silbrig aufblitzen. Die zuvor noch in unbestimmtem Nebel verschwimmenden Dächer der Stadt, feucht vom nächtlichen Regen, nahmen Farbe an und hoben sich durch den plötzlichen Lichteinfall deutlicher voneinander ab. Unbekümmert wischte die heitere Frische des anbrechenden Tages den Eindruck düsterer Vorahnung beiseite.
»Halt, Schätzchen! So früh schon unterwegs?« Der junge Leutnant der Garde von Paris stellte sich breitbeinig einer jungen Frau mit schwarzer Samtmaske in den Weg, die die Absperrung durchbrochen hatte. Er packte sie grob am Ärmel. »Hier kannst du nicht durch!«
»Nehmen Sie die Hände weg«, Amélie riss sich los, warf den Kopf zurück und sah ihn hochmütig an, »und hören Sie gut zu! Der Sicherheitssausschuss hat einen der Gefangenen begnadigt, der heute Morgen an der Reihe ist. Er ist unschuldig – lassen Sie ihn frei! Hier!« Sie hielt ihm ein leicht zerknittertes Dokument unter die Nase. »Das dürfte wohl genügen!«
»Zu spät, Chérie!« Laporte kniff die Augen zusammen und wischte das Papier mit einem mitleidigen Grinsen beiseite. »Da könnte ja jede kommen! Glaub mir, es ist unmöglich, deinen Schatz jetzt noch zu retten! Pass nur auf dich selbst auf – so, wie du aussiehst«, er ließ seinen Blick von der glitzernden Agraffe in Amélies Haar über ihren pelzbesetzten Umhang gleiten, »könnte der Henker dich leicht mit einer adeligen Dame verwechseln – eine mehr oder weniger spielt in diesen Zeiten gar keine Rolle ...«
»Unverschämter Kerl!« Amélie blitzte ihn vernichtend an. Sie trat zurück, hob den Arm und machte der Kutsche, die in einiger Entfernung wartete, ein Zeichen. Die Pferde preschten rückhaltlos heran, und eine männliche Stimme rief: »Mach den Weg frei, Mann!« Der Leutnant, der mit einem kühnen Sprung den galoppierenden Pferden ausgewichen war, wollte gerade die Waffe ziehen und seiner Empörung Luft machen, als er den Kavalier erkannte, der sich aus dem Fenster der Kutsche gebeugt hatte. Es war niemand anderer als Fabre d’Églantine, der Sekretär des großen Danton, beliebt in ganz Paris als Poet und Autor populärer Theaterstücke und Operetten. Bestürzt und verlegen wich er vor der eleganten und stutzerhaften Erscheinung des Abgeordneten zurück, der jetzt mit lässiger Attitüde die Kutsche verließ und auf ihn zutrat. Er trug noch seinen Abendanzug mit seidenem Hemd und Spitzenkrawatte und in seinen weichen Zügen waren im grellen Licht des Morgens ganz deutlich die Spuren der durchfeierten Nacht zu erkennen.
»Verzeihung, Bürger«, murmelte Leutnant Laporte devot, »ich wusste nicht, dass Ihr persönlich ...«
Fabre ließ ihn nicht ausreden. »Sag, ist der Karren mit dem ersten Schub Gefangener schon angekommen?«, fragte er gleichgültig, einen tiefen Zug aus seinem feinen Zigarillo nehmend.
»Noch nicht«, beeilte sich der Leutnant mit unsicherer Stimme zu antworten, denn er wusste nicht recht, was er von dem unerwartet frühen Erscheinen eines so wichtigen Mitglieds des Sicherheitsausschusses halten sollte, »aber er muss jeden Moment eintreffen. Ist ... ist etwas nicht in Ordnung?«
»Stell keine dummen Fragen!«, fuhr ihn d’Églantine, übernächtigt und schlecht gelaunt an. »Wie ist dein Name?« Er warf sein Zigarillo achtlos in den Rinnstein.
»Laporte, Leutnant Michel Laporte!« Die Antwort kam rasch, aber d’Églantine hörte kaum hin.
»Stehl mir nicht die Zeit, Laporte! Also – der Angeklagte namens Auguste ...«, ein Gähnen unterdrückend sah er auf den Zettel in seiner Hand, »Auguste de Platier! Ein verdienstvoller Patriot, mir persönlich bekannt! Welch bedauernswerter Irrtum. Lass ihn sofort frei, hast du mich verstanden!«
»Aber meine Liste ... das Urteil des Tribunals ...«, stotterte der Leutnant, doch d’Églantine unterbrach ihn ungeduldig. »Bist du schwer von Begriff? Mach einfach einen Haken hinter seinen Namen. Und wenn es Schwierigkeiten gibt – hier ist das Begnadigungsschreiben. Ich selbst, Fabre d’Églantine, habe das angeordnet!« Er wandte sich seiner Begleitung zu, die ihm das Dokument reichte und drückte es Laport herablassend in die Hand.
»Bist du nun zufrieden, Amélie?« Die junge Frau nickte, streifte den Leutnant mit einem triumphierenden Lächeln, bevor sie ihrem Beschützer einen angedeuteten Kuss zuhauchte. »Danke, Fabre! Das werde ich dir nie vergessen!«
Verwirrt betrachtete der Leutnant abwechselnd das Papier in seiner Hand und die maskierte Schöne, die unter ihrem geöffneten Samtumhang ein grünseidenes Ballkleid mit eng geschnürtem Bustier trug, dessen freizügiges, mit cremefarbenen Spitzen besetztes Dekolleté tiefe Einblicke zuließ. Ein wertvolles Perlencollier schimmerte auf ihrer bloßen Haut und lange, kastanienbraune Locken, in die das Sonnenlicht goldene Reflexe zauberte, umrahmten in üppiger Fülle das zarte Gesicht, dem die schwarze Maske etwas ungemein Reizvolles verlieh. Ungeachtet der nüchternen Umgebung legte d’Églantine jetzt zärtlich den Arm um sie, sah ihr tief in die Augen und küsste ihr so galant die Hand, als wäre er immer noch Mitglied der ehemaligen Schauspieltruppe Montansier. Als vollendeter Kavalier geleitete er Amélie dann unter den staunenden Blicken der Garde zur wartenden Kutsche, auf deren Türen statt eines Adelswappen eine gold gerahmte, rotweißblaue Kokarde prangte. Die Pferde galoppierten los, und der Leutnant sah sprachlos dem Gefährt nach, das wie ein Spuk in einer Seitenstraße verschwand.
»Aufstellung!«, brüllte er, als er wie erwachend in die schmunzelnden und amüsierten Gesichter der Soldaten blickte, die ihn nun umringten. »An die Plätze! Das ist kein Spaß hier, verdammt noch mal!« Er stopfte das Papier in seine Jackentasche und marschierte forschen Schrittes über den Platz, der sich trotz der frühen Morgenstunde rasch, aber stetig belebte.
Die Sonne sandte ihre gleißenden Strahlen vom wolkenlosen Himmel, und es war jetzt schon zu spüren, dass der Julitag heiß zu werden versprach. Seit dem Tod Ludwig des XVI stand die Maschine des Arztes Guillotin nicht mehr still, und es schien, als wolle sie immer rastloser ihr blutiges Werk fortführen. Heute war außer den üblichen Verurteilten auch die junge Charlotte Corday dran, die den fanatischen Republikaner Marat, Herausgeber des politischen Hetzblattes »Ami du peuple«, im Bad erstochen hatte! Dieses Schauspiel würde wieder eine Menge Zuschauer anziehen! Nervös schob Laporte seinen dreispitzartigen, federbesetzten Hut in den Nacken und nahm die Liste der Verurteilten zur Hand. Dreizehn Personen sollten heute den letzten Gang gehen! Stirnrunzelnd fuhr er mit dem Finger die Reihenfolge entlang. Hier, da stand es ja, Auguste de Platier! Immer diese Scherereien! Aber was machte das schon, auf einen mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht an. Immerhin hatte nicht jeder das Glück, von einem so hohen Politiker persönlich begnadigt zu werden!
Er wischte sich die schweißbedeckte Stirn und streifte mit einem kurzen Blick prüfend das Blutgerüst. Die Guillotine war noch mit Sackzeug bedeckt, die Kiste mit Sägespänen und der Korb, in den die Köpfe rollen sollten, standen unter den zusammengezimmerten Brettern. Warum musste er sich eigentlich immer um alles kümmern – wo zum Teufel blieb denn Henri Sanson, der Henker? Wie gewöhnlich zu spät – der hatte die Ruhe weg. Wenigstens standen die Trommler schon bereit. Die Truppe mürrischer, unausgeschlafener Soldaten hatte jetzt träge Aufstellung genommen. In ihren Gesichtern las er Überdruss. Sie waren es leid, immer wieder das gleiche Schauspiel aufzuführen. Und wenn es so weiter ginge, würde Paris bald keine Einwohner mehr haben. Die wirtschaftliche Lage war nach dem Tod des Königs auch nicht besser geworden – im Gegenteil. Das Volk blieb arm – nur gierige Aufsteiger bereicherten sich! Wenn man zum Beispiel diesen eleganten Abgeordneten d’Églantine, seine mit Schmuck behängte, schöne Frau betrachtete – da konnten einem schon Zweifel an der so vielgepriesenen Gleichheit kommen!
Aufmerksam horchte Leutnant Laporte jetzt auf. Der erste Wagen mit den bleichen Delinquenten bog rumpelnd um die Ecke und blieb vor dem Schafott stehen. Er musterte die Angekommenen mit zusammengezogenen Brauen und winkte der Garde. »Hol mir einen gewissen Auguste de Platier vom Karren!« Der Soldat nickte und schlurfte, ohne sich groß zu beeilen, davon.
»De Platier!«, schrie er. »Vortreten!«
Ein bärtiger junger Mann von kräftiger Gestalt mit blonden, spärlichen Haaren, die ihm unordentlich auf die Schultern und in die Wangen hingen, stieg zögernd vom Karren. Auf seinen vom Kummer abgestumpften Zügen malte sich ein letzter Rest Hoffnung – auch wenn er sich als adliges Mitglied der Widerstandsbewegung zugunsten des hingerichteten Königs kaum eine Chance ausrechnete.
»Los, hau ab!«, flüsterte Laporte und machte eine unmissverständliche Handbewegung. »Verschwinde, bevor ich hier noch Ärger kriege!« Auguste verstand nicht gleich. Er blieb wie gelähmt stehen und starrte den Leutnant verständnislos an. »Lauf, du Trottel und lass dich nicht noch mal einfangen. Du hast scheinbar gute Freunde unter den Republikanern.«
In diesem Augenblick kam Leben in das bärtige Gesicht des Verurteilten. »Ich ... ich kann wirklich gehen – einfach so?«, murmelte er, immer noch ungläubig.
»Mach kein Aufsehen! Komm mit und misch dich dann unauffällig unters Volk.« Der Leutnant ging mit wichtiger Miene voraus und Auguste folgte ihm unsicheren Schrittes.
Die Aufmerksamkeit des Publikums wurde im gleichen Augenblick durch das Erscheinen Sansons, des Henkers, abgelenkt, der, den mächtigen Säbel an der Seite, vom anderen Ende des Platzes gemächlich und mit breitbeinigen Schritten anmarschiert kam. Ein Aufseufzen ging durch die Menge, Pfiffe ertönten. Sanson war bedrohlich anzusehen mit seinem herkulischen Brustkorb, den die enge Lederweste umspannte und den nackten, muskulösen Armen; doch sein gleichmütiges, grobes Gesicht schien nicht der geringste Zweifel zu trüben. Bedächtig rückte er die rote Mütze zurecht. Nun konnte es losgehen, und er würde heute, so wie immer, nur seine Pflicht erfüllen. Von Ferne zogen plötzlich Wolken auf, ein Gewitter schien sich zusammenzuballen, und über dem gesamten Platz schwebte mit einem Mal eine drohende, unheilverkündende Stimmung.
»He du, ich hab dich bei den Verurteilten gesehen. Bist wohl der Aufseher hier, oder?«
Auguste schreckte zusammen, als er einen unerwarteten Stoß in die Rippen erhielt. Ein junger Jakobiner mit wirrem Haar schöpf grinste ihn freundlich an. »Dann weißt du sicher auch, wann die Corday drankommt?« Sensationslüstern spuckte er aus, und sein Kumpan, ein buckliger Wasserträger und hässlicher Geselle, mischte sich ein.
»Hab gehört, sie war die Geliebte eines feinen Marquis! General der Aufständischen in der Vendée, Rochejaquelein oder so ähnlich ... Er soll sie angestiftet haben, Marat zu erstechen! Um unserem Land den Frieden wiederzugeben! Aber wir wollen keinen Frieden, sondern Kampf ... Kampf um die Rechte des kleinen Mannes ...«
»Wahrscheinlich hat er sie verführt!«, ein stoßweiser, rasselnder Hustenanfall durchzog die Brust des jungen Jakobiners. »Die Hure hat den Tod verdient ...« Er konnte nicht weitersprechen, so sehr erschütterte ihn der erstickende Husten.
Auguste, blass geworden, hatte bei dem Namen seines Freundes Henri de la Rochejaquelein aufgehorcht und rückte unauffällig ein Stück beiseite. »Weiß nicht, was das ist, aber seit ich dieses verflixte Hemd trage, das ich beim Nachlassverkauf auf dem Markt St. Roch ersteigert hab, fühl ich mich komisch«, würgte der Jakobiner, nach Atem ringend, hervor und spuckte noch einmal bekräftigend aus.
»Zum Teufel damit – wer weiß, woran der gestorben ist!«
»Na, na«, beruhigte ihn der Freund und klopfte ihm auf den Rücken, während sein warzenbedecktes Gesicht sich mitleidig verzog. »Hier, nimm einen Schluck. Das ist bester Branntwein – der bringt dich wieder auf die Beine.« Der Jakobiner setzte an und trank gierig.
»Willst du auch?«, er hielt Auguste hustend die Flasche hin, der ablehnend den Kopf schüttelte.
»Danke«, murmelte er ausweichend, »übrigens – hat man diesen. ... General Rochejaquelein bereits gefasst?«
»Keine Ahnung – aber du scheinst ihn wohl zu kennen? Bist wohl auch einer von denen, he?« Misstrauisch sah der Jakobiner ihn an und packte ihn wie zum Spaß am Kragen.
»Blödsinn«, antwortete Auguste so gleichgültig wie möglich, während sein Herz wie bei einem Trommelwirbel zu rasen begann. Von plötzlicher Panik ergriffen riss er sich los, sprang auf und rannte wie von allen Hunden gehetzt davon. Mit brüllendem Gelächter sahen die beiden ihm nach.
»Hab ich mir doch gleich gedacht, dass der Kerl Dreck am Stecken hat!« Der Bucklige klatschte sich vergnügt auf die Schenkel. »Übrigens – ich glaube, die Corday nehmen sie sich zuletzt vor, was denkst du?«
»Die schau ich mir jedenfalls ganz genau an! Komm, wir sichern uns erst mal einen guten Platz!« Erwartungsvoll ließen sich die beiden mit der Branntweinflasche direkt am Fuß des Gerüstes, in unmittelbarer Nähe der Guillotine nieder.
Müde, aber dennoch beschwingt kehrte Amélie in ihr Palais in die Rue des Capucines zurück, während ihr Mann sich zur Ruhe begab, um wie üblich erst am Nachmittag an den Sitzungen des Konvents teilzunehmen. Wenigstens war es ihr gelungen, Fabre dazu zu bewegen, Auguste de Platier, ihren Jugendfreund zu begnadigen! Die sprunghaften Launen ihres Mannes waren sprichwörtlich, und sie konnte sich nie sicher sein, ob er sich nun ihren Bitten fügte oder sie zornig abwies. Diesmal hatte sie listig die Hochstimmung nach der Aufführung seines neuen Theaterstückes »L’Apothicaire« ausgenutzt, nach dessen fabulösem Erfolg und der darauffolgenden Feier er ihr den kleinen Gefallen nicht abschlagen konnte.
Viele ihrer Freunde waren mittlerweile vom Revolutionsgericht und dem unerbittlichen Robespierre verurteilt worden – und nicht immer war es möglich, einen Gnadenakt für sie zu erwirken. Das Rad der Vernichtung drehte sich in Paris immer schneller, jeder war verdächtig. Sogar der Innenminister Roland konnte sich in der letzten Woche seiner Verhaftung nur durch Flucht entziehen. Seine Frau Manon hatte man gefasst und in die Conciergerie gesperrt. Amélie war zutiefst besorgt um ihre beste Freundin, obwohl sie hoffte, dass Fabre die Macht besaß, etwas für sie zu tun. Doch er setzte ein verschlossenes Gesicht auf und wich aus, wenn sie auf die Situation der Freundin zu sprechen kam. Und obwohl sie heute Morgen todmüde war, fühlte sie doch tief in ihrem Innern eine seltsame, rastlose Unruhe. Sie musste Manon sehen, ihr Mut machen und vor allem versuchen, Näheres über den Grund ihrer Verhaftung zu erfahren. Vielleicht steckte ja sogar Robespierre selbst dahinter, denn alle jakobinischen Frauenclubs waren geschlossen worden, weil er der Meinung war, Frauen dürften sich nicht in die Politik der Männer einmischen! Manon, die in ihren Salons das Feuer der Revolution geschürt hatte, wie keine andere vor ihr, war von diesem plötzlichen Sinneswandel ihres ehemaligen Freundes und Bewunderers wohl genauso überrascht wie alle Gesinnungsgenossen!
Mit leichter Nervosität erhob sich Amélie, trat zum Fenster und zog die dunkelroten, goldbestickten Samtportièren beiseite. Sie waren neu – ebenso wie die mahagonifarbenen Möbel und fast die gesamte Einrichtung des Hauses. Überall fanden sich Zeichen von Reichtum und Wohlstand, wie die kostbare Bilderkollektion im Salon, unzählige silberne Liebhaberstücke, ziselierte Tabatièren und kleine, wertvolle Bibelots auf goldenen Konsolen. Lediglich das alte Portal mit den steinernen Masken von Schmerz und Freude erinnerte noch an das ehemalige Palais de Montalembert, an die Zeit, in der Amélie mit einem anderen Mann hier glücklich gewesen war. Ihr selbst war nichts anderes übriggeblieben, als jeden Gedanken daran zu verdrängen und die schmerzliche Erinnerung, so gut es ging, aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.
Prüfend trat sie vor den schweren goldgerahmten Spiegel über dem Kamin, der ihr eine junge Frau in der Blüte ihrer Schönheit zeigte, mit gefühlvollen, leicht umschatteten dunklen Augen unter langen Wimpern, einem zarten, ausdrucksvollen Gesicht mit schmaler Nase und weichem Schmollmund. Nichts in ihren Zügen wies auf die Spur der dunklen Vergangenheit hin, die sie vergessen musste, um zu überleben. Ein paar widerspenstige Locken ihrer kastanienbraunen, aus der Stirn frisierten Haarfülle feststeckend, drehte und wendete sie sich und ordnete die grüne Satinschleife, die ihre Taille betonte. Nun, sie würde sich für den Weg in die Conciergerie keinesfalls schlicht kleiden, das war sicher! Stolz betrachtete sie das schimmernde Perlencollier, ein Geschenk Fabres nach dem letzten Streit, einem von unzähligen, die er bei der geringsten Gelegenheit vom Zaun brach und nach dem Aufwallen seines überschäumenden Temperaments sofort wieder bereute. Obwohl sie seine plötzlichen Stimmungsumschwünge immer noch fürchtete, hatte sie gelernt, ihn so zu nehmen, wie er nun einmal war. Und manchmal schien es ihr, als habe sie damit den Freibeuter, den Abenteurer in ihm endgültig gezähmt. Schon längst nicht mehr fragte sie danach, mit welcher Schauspielerin er eine Affäre hatte, in welch dunklen Gegenden von Paris er sich herumtrieb, wenn er plötzlich verschwand – und wo das Geld herkam, das er dann besaß. Es war, als lebe sie ein neues Leben, ohne nach dem Morgen zu fragen, als sei die alte, sentimentale Amélie, das unbeschwerte, heitere Wesen, das in Valfleur romantischen Träumereien nachgehangen und sich in den Grafen de Montalembert verliebt hatte, mit dem Revolutionsumschwung selbst gestorben. Im republikanischen Paris gab es nur die eine Art zu überleben: mit den Wölfen zu heulen. Und für sie hieß das ganz einfach: mit einem Mann wie Fabre d’Églantine, der sich in schillernden Rollenspielen gefiel, der Poet und eiskalter Politiker zugleich war, auszukommen.
Und es fiel ihr, obwohl sie einmal geglaubt hatte, ihn zu hassen, jetzt nicht mehr allzu schwer. Ein Gefühl war in ihr gekeimt, das sie noch vor nicht allzu langer Zeit für Liebe hielt, damals, als sie sein Kind erwartete, und er ihr gelobte, sich zu ändern und auf Gut Valfleur mit ihr ein neues Leben anzufangen. Doch daraus war nie etwas geworden, denn Fabre wurde schon nach kurzer Zeit wieder in den Strudel von Macht und Vergnügungen in Paris gezogen. Aber in ihrem Herzen war eine unselige Schwäche für den Treulosen zurückgeblieben, etwas, das der Liebe ähnelte, wenn sie erschauernd in seine Arme sank oder unter seinem Blick und seinen Küssen schmolz. Das ständige Schwanken zwischen heißblütiger Leidenschaft und kühler Gleichgültigkeit verwirrte sie nicht nur, sondern übte auch eine besondere Anziehungskraft auf sie aus. Tatsächlich war er ein Liebhaber, wie sie ihn sich nicht einmal in den kühnsten Träumen vorgestellt hatte und nicht selten war sie nach einer stürmischen Nacht überzeugt, seine große Liebe zu sein. Doch all das dauerte nur bis zum nächsten Morgen, an dem sie ernüchtert zurückblieb, wenn Fabre wieder sein wahres Gesicht zeigte.
Sie ließ sich auf das mit gelbem Brokat bespannte Ruhebett sinken und lehnte den Kopf gegen das weiche Kissen. Die Anspannung wich, sie spürte, wie Müdigkeit sie überkam und sank bald in einen leichten Schlaf.
Erst als es verhalten gegen die Zimmertür klopfte, erwachte sie.
»Madame, Ihre Schokolade!«
Knicksend trat die Zofe ein und stellte das Tablett mit den Tassen und einer kleinen, silbernen Kanne auf ein Tischchen.
Amélie erinnerte sich an ihr Vorhaben, am Nachmittag Manon zu besuchen und sprang auf. »Gib dem Kutscher Bescheid. Ich fahre aus«, teilte sie der Zofe mit. »Und richte mir rasch einen Korb mit guten Lebensmitteln her – ich habe einen dringenden Besuch im Gefängnis zu machen! Eine Flasche Wein – dazu ein paar Leckerbissen, wie die Schachtel Pralinés, die ich neulich beim Chocolatier Sidot erstanden habe.« Sie nippte nur an dem belebenden Getränk, stellte die Tasse zurück und ordnete mit einem Handgriff Frisur und Kleidung.
»Madame«, die Zofe erschien nach einer Weile erneut, »Aurélie bittet darum, Sie begleiten zu dürfen! Sie hätten ihr heute eine Ausfahrt versprochen!«
Amélie lächelte nachsichtig. Die Kleine war doch zu anhänglich! Seit ihre Schwester Isabelle bei der Geburt Aurélies ums Leben gekommen war, vertrat sie Mutterstelle an ihr. Das Mädchen hatte sich mit Leib und Seele der Tante angeschlossen und war mit ihren leuchtenden blauen Augen und hellblonden Löckchen ein ernstes und sanftes Wesen von beinahe engelhafter Schönheit – ganz im Gegensatz zu ihrer Halbschwester Sophie-Benedicte, die mit dunklen Feuerblicken unter dem rötlichen Haarschopf manchmal ein rechter Wildfang sein konnte. Mit zärtlicher Liebe hingen beide Kinder jedoch an »Bébé«, ihrem erst kürzlich geborenen Bruder, Philippe-François, dem einzigen Kind d’Églantines und Amélies.
»Meinetwegen! Wenn sie glaubt, dass es ihr im Gefängnis der düsteren Conciergerie gefällt!« Amélie trat in ihr Boudoir, stäubte ein wenig Puder über ihre blassen Wangen und legte nur einen Schal über die Schultern.
Als das Kindermädchen wenig später mit der strahlenden Aurélie erschien, fiel ihr die Kleine sogleich stürmisch, um den Hals. Die Kutsche war bereits in den Hof gefahren und Amélie stieg, das unablässig plappernde Mädchen an der Hand, in den Fond des Wagens.
»Zur Conciergerie!«, befahl sie ohne zu zögern.
Der Kutscher wandte sich um, und seine Blicke streiften leicht erstaunt ihre aufwändige Garderobe und das hübsch herausgeputzte Kind. »Zur Conciergerie ...«, wiederholte er langsam und wie fragend, »ganz wie Madame wünschen!« Er ließ die Pferde in leichtem Trab angehen und schlug den Weg über die Pont Neuf ein. Dort herrschte Gedränge, denn die Läden hatten schon geöffnet, und eine Menge Neugieriger wartete bereits auf die Abfahrt der Mörderin Charlotte Corday zur Hinrichtungsstätte.
Die Kutsche hielt jetzt am Hof vor dem mächtigen Gefängnis der Conciergerie, deren Türme einen düsteren Schatten über die Seine warfen. Zögernd stieg Aurélie über das Trittbrett herab, fest die Hand der Tante fassend. Am liebsten wäre sie wieder zurück in die Kutsche gekrochen, als ihr der muffige, von feuchten, undefinierbaren Dünsten durchzogene Geruch der kalten Mauern entgegenschlug. Amélie nahm den Korb, zog ihr Seidentuch enger um die Schultern und versuchte, die Schwäche zu bekämpfen, die sie beim Anblick des tristen Gebäudes umfing. Doch sie fasste sich schnell, schob die vergangenen Ereignisse beiseite, die wie bleiche Gespenster aus den dumpfen Gängen emporsteigen wollten und nickte Aurélie, die sich verschüchtert an sie drängte, ermunternd zu.
Der Wachmann an einem kleinen wackligen Pult sah der elegant gekleideten Dame mit einem misstrauischen Blick entgegen. Amélie hielt ihm gelassen den vorbereiteten Besuchsschein unter die Nase.
»Ich möchte zu Madame Roland«, sagte sie mit gleichgültig klingender Stimme.
Er nahm das Papier und blickte mürrisch darauf. Doch sofort änderte sich sein Verhalten zu schmeichelhafter Freundlichkeit, und er dienerte ergeben. »Madame d’Églantine ... welche Ehre! Sicher kommen Sie im Auftrag Ihres Mannes! He, Jacques!« Er winkte einem Burschen, der mit schläfriger Miene als Wachtposten im Gang stand und in den Zähnen stocherte. »Begleite doch Madame d’Églantine in die Zelle der Bürgerin Roland!«
Amélie zog hochmütig die Augenbrauen hoch und sagte sehr von oben herab. »Ich hoffe doch, Madame Roland ist in einer ordentlichen Kammer untergebracht und bekommt Verpflegung aus einem öffentlichen Wirtshaus!«
Der Wachmann sah sie mit schief gelegtem Kopf an und verzog den Mund zu einem schmierigen Lächeln, während er sich scheinbar ratlos am Kopf kratzte. »Ich wüsste nicht ... die Order war anders!«
»Dann gebe ich Ihnen eine neue.« Amélie nestelte in ihrem Portemonnaie und zog einige Assignatenscheine hervor. »Im Auftrag meines Mannes sozusagen! Und jetzt bringen Sie mich zu ihr!«
»Ganz zu Diensten, Madame d’Églantine!« Mit einem Grinsen ließ er die Assignaten blitzschnell in seiner Hosentasche verschwinden. »Jacques, du Tölpel, bist du taub? Was stehst du hier noch rum! Zelle 95!«, fuhr er den Burschen an, der Amélie mit aufgerissenen Augen immer noch verwundert anglotzte.
Seit er in diesen dunklen Mauern Dienst machte, war ihm jedenfalls noch nie eine so schöne Frau begegnet und noch nie hatte sich eine so herrisch, so anspruchsvoll aufgeführt. Die meisten weinten, flehten, bettelten – diese forderte ganz einfach und bekam, was sie wollte.
Achtsam den Schmutzpfützen ausweichend, die sich zwischen den meterdicken Gewölbemauern gebildet hatten, folgte Amélie dem Burschen durch enge, verschlungene Gänge und Treppen, die hinauf und hinunter führten. Ratten huschten aufgeschreckt über ihre Füße, und ihr spitzes Fiepen hallte hohl von den kahlen Wänden. Die Pechfackel, die ihr Begleiter voran trug, warf flackernde Schatten auf die klotzigen Quadersteine an Decke und Boden. Die kleine Aurélie war völlig verstummt und klammerte sich tapfer an den Rock der Tante und an ihre Hand, die ihr wie ein Rettungsanker in der schummrigen Finsternis vorkam. Doch sie wagte nicht zu klagen, denn das, was sie weit mehr fürchtete als den unheimlichen Kerker, war die Aussicht, nie mehr zu solchen Abenteuern mitgenommen zu werden. Rasselnd klirrte der dicke Schlüsselbund, als der Bursche endlich ein vergittertes Portal aufschloss, hinter dem sich noch einmal eine schwere Eisentür befand.
»Oh, Himmel!«, flüsterte Amélie, sich bekreuzigend. Dann holte sie tief Luft und zwang sich, einige Schritte voran zu tun. Kein Schimmer Tageslicht drang in das dunkle, fensterlose Gelass, in dem nur schwach eine einzige Kerze flackerte.
Manon Roland saß an einem wackligen Tisch und beschrieb, völlig in ihre Tätigkeit vertieft, im diffusen Schein des billigen Talglichtes mit einer Feder Bogen um Bogen eines einfachen Papiers.
Amélie rief leise ihren Namen: »Manon!«
Die Angesprochene sah überrascht auf und erhob sich von ihrem Sitz. »Amélie – welche Überraschung!« Sie fiel ihr um den Hals und herzte auch die Kleine, die schüchtern zu ihr aufsah. »Und du, mein süßer Engel! Ihr beide seid wie Erscheinungen aus einer anderen Welt! Oh, Amélie – ich wusste, du denkst an mich, du lässt mich nicht im Stich. Was bringst du mir Neues? Bin ich frei?«
Amélie drückte Manon gerührt an die Brust. »Nein, noch nicht«, antwortete sie ausweichend. »Es ist ja nicht einmal klar, weswegen du angeklagt bist. Aber du wirst ein besseres Zimmer bekommen, gute Kost ... Ich konnte bisher nur das Nötigste für dich tun!« Sie warf einen eisigen Blick auf den Burschen hinter ihr, der sie immer noch mit neugierigen Augen anstarrte und deutete ihm die Tür. Er senkte den Kopf und verschwand mit klapperndem Schlüsselbund, der ihm Autorität verleihen sollte, in einer dunklen Ecke. Dann hielt sie Manon den Korb mit den Leckerbissen entgegen, die sie ihr mitgebracht hatte. »Ich habe alles selbst ausgesucht. Es soll dir doch an nichts fehlen, bis man dich freilässt!«
Tränen liefen plötzlich über die selbst im Gefängnis roten und blühenden Wangen Manons und sie sah mit ihren langen, schwarzgelockten Haaren, die ihr über den Rücken fielen, unendlich rührend und hilflos aus. Niemand hätte ihr je die blutigen Parolen zugetraut, die sie selbst nach den Septembermorden für die Feinde der Republik gefunden hatte.
»Werde ich jemals wieder frei sein? Alle Girondisten sind aus der Stadt geflohen! Roland, mein Mann, wurde gewarnt, er versteckt sich ... Dennoch, ich gebe nicht auf – ich habe ein gutes Gewissen! Da, nimm«, sie drückte Amélie eine kleine silberne Kapsel in die Hand, »hier ist das Gift, das ich mir für den letzten Augenblick aufbewahrt habe. Nimm es, ich brauche es nicht! Wenn, dann will ich wie eine Heldin dem Tod entgegengehen! Ich fühle mich unschuldig ...«
»Komm zu dir«, Amélie versuchte, die Aufgeregte zu beruhigen, »denk nicht an den Tod. Wir werden schon einen Ausweg finden!«
Es war, als hörte ihr Manon nicht zu. Exaltiert, die Augen nach oben gerichtet, in die Fantasien einer besseren Welt verloren, rief sie voller Pathos aus: »Es lebe die Republik! Niemand kann meine Überzeugung töten, dass sich die Wahrheit durchsetzen wird. Hat Robespierre von meiner Verhaftung erfahren? Ich bin sicher, er wird seine ehemalige Vertraute nicht im Stich lassen. Und noch etwas ...« Manon eilte zu dem kleinen Tisch und drückte Amélie einen Brief in die Hand. »Ich flehe dich an, beste Freundin, lass ihn irgendwie Buzot zukommen. Auch er musste fliehen – aber meine Liebe zu ihm wird ewig sein.«
Amélie nahm erstaunt den Brief entgegen. »Buzot?«, murmelte sie leise, »deine Liebe zu ihm ...?«
Sie hatte niemals daran gedacht, dass Manon außer ihren Verehrern, zu denen auch Robespierre gehörte, einen wirklichen Geliebten haben könnte – und dass gerade er es war, dieser blasse Schönling und schwafelnde Nichtssager, der jeder den Hof machte!
»Sorg dich nicht, meine Liebe«, sagte sie hastig zu Manon, »er wird ihn bekommen. Doch du musst sehen, dass du bei Kräften bleibst, bis du das Gefängnis verlassen kannst! Wärter!«, rief sie über die Schulter. »Ist die neue Kammer für die Bürgerin Roland schon bereit? Dieses stinkende Loch hier ist ihrer nicht würdig.«
»Ich will sehen«, stotterte der Bursche verlegen aus seiner Ecke lugend, »spätestens morgen früh ...«
Amélie streifte ihn mit einem verächtlichen Blick, bevor sie sich wieder Manon zuwandte.
»Hast du schon davon gehört? Diese Charlotte Corday – man wird sie heute aburteilen, unter die Guillotine bringen! Eine Menge Volk hat sich in der Stadt versammelt ...«
»Recht so!«, unterbrach Manon sie mit heiß aufglühenden Augen, in denen die ganze Leidenschaft aufflammte, die sie der Revolution entgegenbrachte. »Mörderin! Niederträchtiges, königstreues Weib! Nicht, dass ich Marat so gewogen war – doch diese Schlampe verdient den Tod!«
»Aber, Manon!«, versuchte Amélie kopfschüttelnd den Ausbruch und die Erregung der Gefangenen zu durchbrechen. »Ein so sanft scheinendes Wesen ... ich habe sie gesehen!«
»Auch ich würde dem Vaterland jedes Opfer bringen ... man muss bereit sein, ohne Angst zu sterben!«
Amélie senkte den Kopf, während die Freundin sich in weitere Tiraden hineinsteigerte, Marats Dienste für die neue Republik lobte und seinen gewaltsamen Tod beklagte. Es würde keinen Sinn haben, ihr zu widersprechen. Zu lange hatte sie nur für den Umsturz des Staates gelebt, in ihrem Salon die Begeisterung für die neue Ordnung geweckt und die Konversation der Gäste in die radikalste Richtung gelenkt. Aber würden ihre damaligen Schützlinge jetzt auch nur einen Finger für sie rühren? Amélie kannte lediglich die Meinung Fabres, der jetzt die »Roland« plötzlich als ein hysterisches, geschwätziges Weibstück abtat, das sich wichtig machte und der man beizeiten den Mund stopfen müsse; während er bei früheren Dîners an ihren Lippen gehangen, ihr geschmeichelt hatte und zusammen mit allen anderen fanatischen Revolutionären in ihrem gastlichen Haus ein und aus gegangen war.
Der Bursche in der Ecke scharrte nun ungeduldig mit den Füßen: »Madame ... ich muss Sie bitten ... die Besuchszeit ist um!«
»Ja, ja«, fuhr ihn Amélie ungehalten an, »schweig doch, du Tölpel, ich gehe ja gleich!« Sie ergriff die Hand der Freundin: »Manon, du musst dich beruhigen! Ich komme wieder, so bald es möglich ist. Du wirst eine andere Zelle mit Tageslicht erhalten, ich sorge dafür!«
Manon blickte sie an, als erwache sie aus einer anderen Welt und müsse sich besinnen, wo sie sich befände. Ihre Augen verschatteten sich. »Ich danke dir, liebste Freundin!« Sie fiel Amélie um den Hals und küsste sie. »Gott weiß, was weiter mit mir geschehen wird ... ich habe dunkle Vorahnungen!« Sie zögerte leicht.
»Und es gibt da etwas, was ich dir sagen muss ... ich kann nicht länger warten! Es ist gefährlich, wenn ich es weiter mit mir herumtrage – man könnte es beschlagnahmen ...«
»Wovon sprichst du?«, fragte Amélie verwundert und sah zu, wie Manon umständlich ein winziges Miniaturmedaillon aus einer kleinen, eingenähten Tasche unter ihrer Achselhöhle herausfingerte.
»Ein Geheimnis, das du erst später erfahren solltest – ich offenbare es dir nur, weil ich fürchte, ich könnte sterben –, und dann wirst du vielleicht nie die Wahrheit erfahren!«
»Die Wahrheit? Was meinst du damit?« Amélie sah sie verständnislos an.
Manon machte eine inhaltsschwere Pause, auf der flachen Hand das kleine, fein ziselierte Schmuckstück haltend. »Versteh mich nicht falsch! Denk immer daran, ich durfte nichts verraten – ich habe ihm mein Wort gegeben!«
»Ihm?«, Amélie musterte flüchtig die verschlungene Gravierung und sah unruhig zu dem Wärter in der Ecke hinüber. »Mach es nicht so geheimnisvoll – ich muss gehen, der Kerl schaut mich schon ganz böse an.«
»Warte«, Manon legte flüsternd die Hand auf ihren Arm, »komm näher. Vielleicht ist das alles ein Schock für dich. Du musst mir auf jeden Fall versprechen, nichts Übereiltes zu unternehmen. Schwöre es!«
Amélie neigte sich ihr zu. »Also gut ... ich schwöre«, hauchte sie leise.
Wieder entstand eine Stille, in der es schien, als wüsste Manon nicht, wie sie beginnen sollte. Ihre Augen flackerten, und ihr Mund zuckte. »Ich habe ihm damals geloben müssen, es dir nur dann zu übergeben, wenn die Girondisten eine stabile Regierung errichtet haben und die Zeit des Terrors vorbei ist. Aber nun, da die Gironde in Gefahr, ich selbst im Kerker bin ... jetzt kann ich dieses Gelübde nicht mehr erfüllen.«
»Wem hast du das gelobt – ich meine, wer hat das von dir verlangt?« Amélie fühlte ein seltsames Kribbeln, eine eigenartige Unruhe in ihr aufsteigen. »Nun sprich doch endlich!«
Manon sah ihr fest in die Augen, schloss die Finger um das Medaillon und ließ es unauffällig in Amélies Hand gleiten. »Nimm das. Bewahre es gut auf. Sieh es dir erst an, wenn du allein bist. Nur so viel ... er lebt! Er hat sich eine Weile in Paris versteckt, bevor er sich ins Ausland retten konnte und nun ...«
Draußen ertönten Schritte, die laut auf dem Steinboden widerhallten. Der Bursche in der Ecke sprang auf: »Madame ... ich werde einen Verweis erhalten! Bitte gehen Sie!«
Im selben Augenblick war der Wärter eingetreten und sah mit zusammengekniffenen Augen misstrauisch um sich. »Die Besuchszeit ist zu Ende, Madame, und ich schließe die Zelle. Ich muss Sie bitten, sofort zu gehen, oder die Nacht hier zu verbringen!«
Der Bursche unterdrückte ein hämisches, schadenfrohes Lächeln. Jetzt war es der feinen Dame endlich einmal gesagt, die ihn so hochnäsig von oben herab behandelte! Amélie, das kühle Silber des Medaillons in der Hand fühlend, erhob sich wie betäubt von Manons Worten. »Ich verstehe nicht ganz ...«, murmelte sie verwirrt, doch der Wärter, entschlossen sie hinauszugeleiten, ließ den Satz in ihrem Mund stocken.
»Wenn mir etwas zustoßen sollte – geh zum Palais des Anges! Dort erfährst du mehr!«, wisperte Manon fast unhörbar hinter ihrem Rücken. Der Wärter trat näher, und die Freundin brach ab. Unauffällig legte sie den Finger auf den Mund, verabschiedete sich rasch und kehrte zu ihrem wackligen Pult zurück.
»Ich komme wieder«, rief ihr Amélie noch zu und folgte dann den schlurfenden Schritten der beiden Männer, die mit den Schlüsselbunden rasselten wie mit Ketten. Die kleine Aurélie, die bisher mucksmäuschenstill der Unterhaltung gefolgt war, presste sich ängstlich gegen sie. Das Medaillon brannte plötzlich in Amélies Handgrube wie Feuer, und sie schob es zusammen mit der verräterrischen Giftkapsel und dem Brief an Buzot unter ihr Mieder. An der Tür erschauerte sie unter dem misstrauischen Blick eines Sergeanten, der instinktiv etwas zu ahnen schien.
»Haben Sie etwas mitgenommen, Madame? Die Überbringung geheimer Nachrichten ist verboten, und ich muss Sie leider kontrollieren. Die Inhaftierte unterliegt strengster Sicherheitsüberwachung!«
Amélies Herz tat einen raschen Schlag, doch dann fasste sie sich. »Ich habe nichts! Hier, überzeugen Sie sich selbst!«
Lächelnd breitete sie die Arme aus, hob sie dann graziös wie eine Tänzerin über den Kopf und zog spielerisch eine dicke, glänzende Locke aus ihrem Haar. Dabei löste sich wie zufällig das Schultertuch, das nun im tiefen Ausschnitt des Kleides offenherzig ihren üppigen, weißen Busen freigab. Sie drehte und streckte sich unter den glotzenden Blicken der Männer, die sie wie gebannt anstarrten und lenkte ihre Blicke ab, indem sie umständlich ein weiteres, beengendes Häkchen öffnete und eine Stoffrose von ihrem Mieder nestelte.
Lächelnd reichte sie die Rose dem verblüfften Sergeanten und sagte schmeichelnd und mit verlockendem Blick: »Halten Sie das bitte! Aber ich möchte meinem Mann nicht erzählen, dass Sie mich in unanständiger Weise durchsucht haben. Er kann äußerst unangenehm werden – er ist nämlich sehr eifersüchtig. Ein Kavalier Ihres Kalibers sollte das wissen!«
Sie trat ganz dicht an ihn heran, warf mit einem verführerischen Augenaufschlag den Kopf in den Nacken und streifte sanft seinen Arm. Der Sergeant, linkisch die Rose in der Hand haltend, räusperte sich mehrere Male mit hochrot angelaufenem Gesicht.
»Verstehe ... natürlich, Madame. Ich persönlich glaube, ähh ... auch nicht, dass Sie irgendetwas Unerlaubtes mit sich führen. Doch die Pflicht gebietet, vielmehr die Satzungen ...« Jetzt blieben ihm gänzlich die Worte weg, und Amélie musste fast über seine steigende Verlegenheit lachen.
Sie zog das Tuch wieder über die Schultern, und ihre Stimme wurde sachlich. »Und vergessen Sie nicht – ein besseres Zimmer für die Bürgerin Roland ... und gute Verpflegung!« Dabei glitt sie, Aurélies Hand fest umklammernd, an den Wachen vorbei und ging entschlossen davon.
Der Sergeant nickte nur stumm und sah, immer noch die Rose in der Hand, völlig außer Fassung hinter ihr her: »Donnerwetter ...«, brach es aus ihm heraus, »das ist ein Weib! Ein Teufelsbraten!«
Das glucksende Lachen des Gehilfen brachte ihn wieder zur Besinnung. Er sah ihn böse an und versetzte ihm eine derbe Kopfnuss: »Steh da nicht rum, Dummkopf. Geh lieber an deine Arbeit!«
Mit schmerzverzerrter Miene schlich der Bursche wie ein geprügelter Hund davon und spuckte verächtlich aus. Freiheit, Gleichheit, pah! Was hatte er schon davon? Nichts als Ärger!
Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, stand Amélie wenig später am Kai der Seine und blickte auf den dunkel rauschenden Fluss, dessen kleine Wellen sich glitzernd in der Sonne kräuselten. Sie tastete nach der Giftkapsel in seiner Metallhülse und nach dem silbernen Anhänger, den ihr Manon übergeben hatte. Das Miniaturmedaillon lag nun kühl und unschuldig auf ihrer Handfläche. Die geschliffenen Steine des kunstvoll ziselierten Silberdeckels funkelten farbig im hellen Licht des Tages. Ihr Herz klopfte unruhig, und sie hatte fast Angst, es zu öffnen.
Die kleine Aurélie, unbeachtet an ihrer Seite, brach plötzlich in heftiges Schluchzen aus. Bis dahin war sie vernünftig gewesen und hatte keine Angst gezeigt, doch nun, als sie die Tante so blass und schweigsam am Flussufer stehen sah, hielt sie es nicht länger aus. Sie zupfte heftig an ihrem Ärmel.
»Tante Amélie ... ich will nach Hause! Die bösen Männer – und die arme Madame Roland. Alles war so traurig – so dunkel und kalt. Wird man sie alle töten – ich meine ... alle die dort drinnen sind?« Sie deutete auf die dunklen Türme der Conciergerie.
»Ach, Aurélie – du musst dich nicht fürchten! Das ... das sieht nur so aus! Sie werden sicher die Freiheit wieder erhalten. Aber erst müssen sie dem Gericht Rede und Antwort stehen.« Sie hob das Kind auf den Arm und drückte es gegen ihre Brust. »Ich dachte, du bist schon ein großes, vernünftiges Mädchen? Und du wolltest doch unbedingt mitgehen, nicht wahr? Hast du nicht versprochen, tapfer zu sein?«
Aurélie nickte, wischte die Tränen ab und schlang die Arme um den Hals der Tante. »Ab jetzt will ich es bestimmt sein!«, murmelte sie fast unhörbar in den Stoff des Kleides.
Amélie gab ihr einen Kuss und ließ sie wieder zu Boden sinken. Dann begann sie, hastig und mit zitternden Fingern an dem silbernen Schmuckstück zu nesteln, dessen Verschluss sich all ihren Bemühungen hartnäckig widersetzte. Schließlich glitt es ihr aus der Hand, fiel auf das harte Pflaster und öffnete sich ganz von selbst. Amélie starrte wie vom Blitz getroffen auf das am Boden liegende, fein gezeichnete Miniaturporträt im Innern des Medaillons. Es zeigte ihr bis ins Kleinste bekannte, ja immer noch geliebte Züge – das Antlitz Richard de Montalemberts, mit seinen blauen, Vertrauen erweckenden Augen, der hohen Stirn und dem ironischen Zug um den Mund. Das Kind hob den in der Sonne glitzernden Anhänger eilfertig auf.
»Sehen Sie doch, Tante Amélie«, rief sie, »eine Botschaft im Innern!«
Triumphierend reichte sie der totenblass gewordenen Amélie ein winziges, kunstreich fast auf zwei Zentimeter zusammengefaltetes, dünnes Papier, das herausgerutscht war und das sie fast übersehen hätte.
»Wer ist denn der Mann auf dem Bild?«, die Kleine, abgelenkt von den vorherigen, trüben Eindrücken, tanzte jetzt aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Ein Geheimnis, nicht wahr?«
Amélie erfasste ein plötzlicher Schwindel, und sie musste sich gegen das Brückengeländer lehnen. Ein paar junge Gecken, auf ihre Spazierstöcke gestützt, flüsterten grinsend miteinander und deuteten auf die schöne, allzu elegant gekleidete Frau, die mit ihrem Kind so allein und scheinbar verwirrt an der Seinemauer stand.
»Gaufres? Waffeln? Ein paar Waffeln gefällig? Heiß, knusprig und mit guter Butter!« Eine zahnlose Alte drängte sich mit ihrem Karren heran, aus dem der köstliche Duft von Gebackenem entstieg. »Na, willst du nicht eine, mein hübsches Kind? Ganz frisch!« Verlockend hielt die Alte Aurélie eine knusprige, goldgelbe Waffel unter die Nase. »Oder lieber ein frisches Croissant?«
»Darf ich?«, begehrlich sah Aurélie zu ihrer Tante auf, die abwesend nickte und nur versunken auf das Medaillon in ihrer Hand starrte, das vor ihren Augen zu verschwimmen begann.
»Nur zwei Sous«, die Alte drückte der Kleinen das warme, in schmuddeliges Zeitungspapier gewickelte Gebäck in die Hand und streckte ihre Finger mit den schwarzumrandeten Nägeln nach der Bezahlung aus, »und zwei Stück nur drei Sous, Gnädigste!«
In diesem Moment riss sich Amélie gewaltsam aus ihrer Betäubung. »Danke!«, wehrte sie hastig das Angebot ab. »Aber wir haben schon gegessen!« Sie drückte der Alten ein Geldstück in die Hand, nahm der Kleinen mit einer Gebärde des Abscheus die Waffel weg und ließ sie in den Rinnstein fallen.
»Oh, nein!«, schrie Aurélie zornig auf, als sie das zuckrige Stück in den schmutzigen Abwässern davonschwimmen sah. »Tante Amélie! Was tun Sie da?«
Grummelnd entfernte sich die Waffelverkäuferin, mit einem scheelen Auge den Vorgang verfolgend. »Feines Pack«, murmelte sie erbost, »ist wohl nicht gut genug für euch!« Doch schon an der nächsten Ecke wartete ein neuer hungriger Kunde, der bereit war, mit ihr um den Preis zu feilschen.
»Komm«, rief Amélie, in deren Kopf sich alles drehte und die nur mühsam Haltung bewahrte.
»Aber ich hab doch so Hunger ...«, quäkte Aurélie enttäuscht.
Die laut maulende und protestierende Kleine bei der Hand nehmend, zwang sich Amélie zu einer Erklärung. »Hör gut zu, mein Schätzchen! Niemals darfst du etwas essen, das auf der Straße verkauft wird. Davon wirst du krank!« Das Kind konnte ja wirklich nicht ahnen, dass die Straßenhändler abgekratzte Wagenschmiere zur Herstellung ihres Gebäcks verwandten, Reste von den Böden der Bäckereien schabten und Sägemehl hinzufügten! Die Kleine schmollte, und Amélie zog sie fast gewaltsam in den Wagen und gab dem Kutscher den Befehl, sofort loszufahren.
Gedankenverloren starrte sie auf das geliebte Antlitz, das winzige Porträt ihres verschollenen Mannes, den sie seit Langem tot glaubte, umgekommen bei den grausamen Septembermorden in den Gefängnissen. Ihr Herz klopfte wie rasend. Vorsichtig versuchte sie, das dünne Papier mit bebenden Fingern auseinanderzufalten – doch es war wie zugeklebt und die Zeilen, die darauf standen, verwischt und ineinander gelaufen. Was hatte Manon noch gesagt? »Er Lebt im Ausland ...« Sie hielt sich die schmerzende Stirn. Richard de Montalembert, der Mann, den sie liebte und an dessen Tod sie fast zerbrochen war, lebte? Ihr Vater hatte ihr doch damals selbst mitgeteilt, dass Richard exekutiert worden war! Sie versuchte, sich den genauen Wortlaut Manons ins Gedächtnis zu rufen. Geh ins Palais des Anges, hatte sie gesagt, dort erfährst du mehr! Was sollte das bedeuten?
Zugleich mit einem heißen Gefühl der Hoffnung schoss auch der Gram über Richards Tod in ihr hoch, die Erinnerung an alles, was sie damals ausgestanden und erlitten hatte. Es war, als sei eine Wunde, die sie vernarbt glaubte, ganz neu aufgebrochen. Sie schluchzte in ihr Taschentuch, von Schmerz überwältigt. Aurélie, die glaubte, sie weine wegen der Waffel, strich ihr mitfühlend über den Arm: »Tante, nicht böse sein – es tut mir leid ... aber sie roch doch so gut!«
Amélie zwang sich zu einem Lächeln. Das unschuldige Kind! Es dachte noch, dass man wegen einer Waffel Tränen vergießen konnte! »Ich verspreche dir, dass die Köchin dir eine backen wird! Vielleicht darfst du ihr sogar dabei helfen!«
Aurélie nickte mit leuchtenden Augen und hatte den Vorfall bald vergessen.
Amélie zog sich nach der Heimkehr sofort in ihr Boudoir zurück. Ihre Hände zitterten so, dass sie selbst mit einem Messer das zusammengezwängte Stück Papier kaum öffnen konnte und unachtsam einige Risse hineinschnitt. Dann lag es endlich, in vielen einzelnen Stücken wie ein Puzzle vor ihr, und sie versuchte, die Fetzen mit der minimalen, kaum erkennbaren Schrift zusammenzusetzen und zu entziffern.
»Amélie«, las sie, »meine geliebte Frau! Wenn du diesen Brief erhältst, bin ich vielleicht weit fort! Doch du sollst wissen, dass ich immer an dich denke, wo du dich auch aufhältst. Es ist mir dank der Hilfe deines Vaters und einem mitleidigen Beamten gelungen, meinem Todesurteil zu entgehen und unter falschem Namen ins Ausland zu fliehen. Verzeih mir, dass ich dich glauben machen musste, ich sei tot – aber ich tat es, um dein Leben zu retten, deines und auch das meine. Vergiss mich nicht! Eines Tages, wenn dieses Schreckensregime vorüber ist, kehre ich zu dir zurück, und wir werden, so Gott will, uns nie wieder trennen! Unsere Liebe wird uns helfen, diese Zeit zu überstehen. Ich habe es Manon, unserer vertrauten Freundin überlassen, den Zeitpunkt zu wählen, wann sie dir diesen Brief übergeben wird. Such mich nicht – glaub mir, erst dann, wenn für uns beide und für unser Kind keinerlei Gefahr mehr besteht, werden wir wieder zusammen sein. Es würde zu weit führen, dir auf leblosem Papier die Gründe meines Verhaltens zu schildern. Vertrau mir! Die Zeit wird kommen, in der wir wieder vereint sind. In ewiger Liebe, Dein Richard.«
Ganz unten, fast unlesbar, stand noch ein letzter Satz, der doppelt unterstrichen war. »Was auch geschieht – sprich mit niemandem über diesen Brief!«
Amélie ließ fassungslos das Papier sinken. Leise stöhnte sie auf, nahm die Miniatur und hob sie ganz nah an ihre Augen, um die winzig ausgemalten, ihr so vertrauten Züge genau zu erkennen. Er schien ihr wie aus einer anderen Welt, einem früheren Leben zu stammen, in dem die einstmals so unbeschwerten Träume und Illusionen noch Platz hatten. War er nicht ihre romantische erste Liebe gewesen? Und schmerzlich wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn immer noch liebte, ihn, den Mann ihres Lebens, den Gefährten, den sie sich einst selbst gewählt hatte! Für einen Augenblick schien ihr, als nähme das Gesicht Richards einen spöttischen Ausdruck an und als stünde in seinen Augen die stumme Frage: »Hast du mich etwa schon vergessen?«
Sie schüttelte beinahe stürmisch den Kopf, führte mit behutsamer Geste das pastellfarbene Porträt an die Lippen und küsste es sanft und innig. Dann las sie den Brief ein weiteres Mal und die wichtigsten Worte kristallisierten sich wie ein Signal für sie heraus. »... wenn dieses Schreckensregime vorüber ist, kehre ich zu dir zurück ...« Sie flüsterte den Satz leise vor sich hin. Doch wann würde das sein? Wenn Richard lebte, warum war er nicht gleich zu ihr gekommen – warum hatte er sie die ganze Zeit im Glauben gelassen, man habe ihn ermordet? Wie konnte er nur so grausam sein und zusehen, wie sie durch diese Hölle der Trauer und des Alleinseins ging, ja mehr noch, dass sie einen anderen heiratete?
Sie zerknitterte in heftiger Wut die Fetzen des Briefes und knüllte sie zu einem Papierball zusammen. Tränen rannen über ihre Wangen und tropften auf das blau schimmernde Knäuel, dessen Tinte sich verwischte, bis es unbemerkt zu Boden fiel. »Ich liebte dich doch über alles!«, flüsterte sie mit erstickter Stimme dem Porträt zu. Doch war Richard nicht inzwischen zu einem blassen Schatten geworden, zu einer Traumgestalt in den Wolken der idealen Liebe, etwas nahezu Überirdischen? Und war die Erinnerung an ihn nicht in jenen Augenblicken ausgelöscht, in denen Fabre sie mit einem lockenden Glitzern in den eisblauen Augen ansah, wenn er sie streichelte und mit seinen Zärtlichkeiten in einen besinnungslosen Strudel der Leidenschaft riss? Behutsam drückte sie das Schmuckstück an sich, klappte den Deckel zu und legte es vorsichtig in eine Schublade. Morgen, in aller Frühe schon, würde sie in die Conciergerie fahren, um von Manon weitere Einzelheiten zu erfahren! Für Augenblicke tauchte sie ungewollt hinab in die Erinnerungen einer vergangenen Zeit, an die allzu kurze Ehe mit Richard, die von tiefer Liebe gekrönt war. Ein beinahe glückliches Lächeln stahl sich wie ein flüchtiger Sonnenstrahl auf ihre Lippen. War ihr Richard nicht damals wie ein Fels in der Brandung des Lebens erschienen? Niemals hatte sie begreifen können, dass er so schnell an den Stromschnellen des Lebens zerschellte!
Das heftige Zuschlagen der Tür ließ sie zusammenzucken, und sie hob den Kopf. Sie kannte dieses Geräusch nur allzu gut. Der Schein eines Leuchters blendete sie. Der eitle Fabre, im eleganten Abendanzug, den ihm anhaftenden Duft von Vétiver und Sandelholz verbreitend, blieb an der Schwelle des halbdunklen Zimmers stehen.
»Amélie?« Seine Stimme klang metallisch und gereizt. »Was soll das, dass du hier im Dunklen sitzt? Du weißt doch, dass Danton heute Abend ein Dîner gibt, bei dem du dabei sein solltest! Er will uns seine zukünftige Frau vorstellen, bevor er sie in aller Stille in Arcis sur l’Aube heiratet!« Er lachte kurz und trocken auf. »Diese Louise ... ein wahres Gänschen. Du solltest sie sehen! So farblos, jung und unscheinbar! Er beginnt allmählich, Dummheiten zu machen.«
»Ich, ich ...«, Amélie wischte mit ihrem Ärmel hastig über die Augen, bemühte sich, ihr Haar zu ordnen und sich aufrecht hinzusetzen. Ihr Herz schlug in unregelmäßigem Rhythmus. »Ich fühlte mich nicht gut, noch müde von gestern. Vielleicht werde ich auch krank ...«, stotterte sie ungeschickt und mit trockener Kehle.
Fabre, der versuchte, die Kerzen eines weiteren Leuchters zu entzünden, schüttelte unwillig den Kopf und warf den Span in den Kamin. »Dann nimm dich zusammen! Du weißt, es ist wichtig, die Wiederwahl Dantons in den Konvent steht bevor.« Er drehte sich um: »Aber was ... ich sehe, du bist ja nicht einmal umgekleidet!« Näher tretend, blickte er ihr im Schein der Kerzen prüfend ins Gesicht und stellte den Leuchter mit einem harten Geräusch auf den Tisch.
Amélie fuhr zusammen und sah zu ihm auf. Zweifellos schien er schlecht gelaunt, und sie konnte die gefürchtete Zornesfalte auf seiner Stirn gut erkennen. Er war schon für den Abend gekleidet, die Spitzen an seiner Seidenkrawatte und den Handgelenken duftig und frisch; der weinrote Rock mit den Brillantknöpfen ohne die geringste Knitterfalte und seine blonden Haare, die ihm ohne Schleife bis auf die Schultern fielen, sorgfältig gelockt. Seinem forschenden Blick schien nichts zu entgehen.
»Du weinst?« Er bückte sich nach dem zerknüllten Papier am Boden. »Geheimnisse? Aber doch nicht vor mir, bei allem, was ich für dich tue!«
Amélie sprang auf, um ihm das winzige Papierknäuel aus der Hand zu reißen. Sein Arm schnellte zurück, und er verbarg den Fund hinter dem Rücken. Der kühle Blick der hellen, glasklaren Augen, die in schnell erwachter Wut das Gletscherblau eines Eisbergs annehmen konnten, jagte Amélie dumpfe Angst ein.
»Sieh einmal an! Nur nicht so exaltiert, Chérie! Ein Liebesbrief vielleicht? Madame sind traurig – verwirrt? Dann wollen wir doch auch sehen, warum.« Er lachte in hässlichem Stakkato auf, während er mit den Fingerspitzen das Papier vorsichtig auseinanderfaltete, das in verschiedene Einzelteile zerfiel. Ungeduldig legte er die Stücke prüfend auf den Tisch. Sein blasses, fast mädchenhaftes Gesicht verfärbte sich, während er mit Mühe ein paar einzelne Worte entzifferte. »Dachte ich’s mir doch, dass du das irgendwann erfahren würdest. Trotzdem – außerordentlich informativ! Der gute de Montalembert war also doch nicht so dumm, wie ich dachte. Und wo hast du das her? Du hast doch einen Besuch im Gefängnis gemacht!« Seine Stimme nahm einen sarkastischen, harten Ton an, und seine Brauen zogen sich stärker zusammen. Kalt und fragend sah er sie an.
Amélie versuchte unbeteiligt zu wirken. »Ich weiß nicht, was du meinst ...« Dann richtete sie sich auf und sah ihrem Mann entschlossen ins Gesicht: »Warum hat man mir gesagt, Richard sei tot?«
Fabre zuckte die Schultern und machte mit halb zusammengekniffenen Augen einen Schritt auf sie zu: »Das ist doch jetzt unwichtig – es ist alles schon zu lange her. Sag mir lieber, woher du diesen Brief hast!«
Amélie schwieg beharrlich, und Fabre stieß einen heftigen Fluch aus: »Putain! Miststück! Du weißt es sehr gut. Aber es wird dir nichts nützen. Ich werde es schon noch erfahren. Im Grunde ist es doch ganz gleich, ob de Montalembert tot ist oder lebt. Du wirst ihn jedenfalls nie wieder sehen. Vergiss endlich die Vergangenheit, ich rate es dir!« Seine Miene verzerrte sich in einem aufkommenden Wutanfall, und er streifte seine Spitzenärmel zurück, als wolle er sie schlagen. Aber er hielt ein, und ein mokantes Lächeln verzog seinen Mund, als Amélie erschrocken zurückwich. »Keine Angst, Chérie! Du solltest schön sein heute Abend, und ich möchte dir wirklich nicht den Teint verderben. Was würde Georges von mir denken!«
Er klingelte ungestüm, und der Diener trat ein. »Meinen Apéritif, du Langweiler. Ich zahle dich nicht, damit du hier die Zeit verschläfst. Und zünde gefälligst die Lampen an – beweg dich!«
Zu Amélie sagte er, halb über die Schulter gewandt: »Ich gebe dir zehn Minuten ... und keine Sekunde mehr. Ich würde sagen, das zartgelbe Chiffonkleid mit dem bestickten Schal wäre heute passend.« Mit der einen Hand stürzte er den Süßwein hinunter, den der Diener ihm nun mit verdoppeltem Diensteifer auf einem Tablett reichte, mit der anderen packte er Amélie grob um die Taille und zog sie fest an sich: »Keine Mätzchen, meine Süße – und denk daran, dein lieber Richard kümmert sich einen Dreck um dich. Er hat nur versucht, seine eigene Haut in Sicherheit zu bringen. Das kannst du mir glauben. Ich habe seine Akte gelesen. Früher oder später landet er ja doch unter der Guillotine. Aber nun komm – lass uns keine Zeit mit solchen Lappalien verschwenden ...«
Er beugte sich zu ihr, bog sie gewaltsam in seinen Armen und versuchte, sie zu küssen. Amélies Lippen zitterten unter seiner Berührung, und sie warf verachtungsvoll den Kopf zurück, um ihm auszuweichen. Doch ihr Widerstand reizte Fabre, er packte sie und riss den Ausschnitt ihres Kleides mit einem harten Griff von ihren Schultern, um ihren Busen zu entblößen.
»Du bist schön, wenn du traurig bist!«, stieß er mit rauer Stimme hervor, während seine Blicke ihre nackten Brüste streiften, die sich vor Erregung hoben und senkten. Fabres Atem ging schneller, seine Augen verschleierten sich leicht, und er ließ seine Hände langsam über ihre samtige, im Halbdunkel hell leuchtende Haut gleiten, sanft ihre Brustwarzen liebkosend.
Amélie erschauerte gegen ihren Willen und schloss halb die Augen, während Fabre sie an sich zog und seine Lippen heiß auf ihren Mund presste. In diesem Augenblick schien es Amélie, als flamme ein Feuer in ihr hoch, dem sie hilflos ausgeliefert war. Ihr Körper brannte plötzlich vor Begierde, ihr Verstand, jegliche Gegenwehr war wie ausgelöscht. Sie überließ sich Fabres heißem Atem, seinen wilden Küssen und aufpeitschenden Berührungen. Er hob sie hoch und trug sie zum kleinen Canapé in der Erkerecke.
»Danton wird sich noch etwas gedulden müssen«, murmelte er mit halb erstickter Stimme, hastig an den Knöpfen und Haken ihres Kleides nestelnd.
Brutal riss er schließlich den Stoff mit einem hässlichen Geräusch entzwei und raffte ungeduldig ihre Röcke empor. Amélie ließ alles geschehen, wie betäubt von der Lust, die sie erfüllte und mit der sie es gegen ihren Willen nicht erwarten konnte, von ihm genommen zu werden. Ihre vorherige Wut und Verzweiflung mischte sich jetzt mit einem Gefühl hilfloser Hingabe, einem Ausgeliefertsein an ihre eigene Leidenschaft, die sich nun aller Kontrolle entzog. Sie hob sich ihm entgegen, zärtliche Laute ausstoßend und streichelte seinen Körper in schamloser Gier. Es war, als sei sie nicht mehr sie selbst, als habe eine fremde Macht Gewalt über sie. Auch Fabre handelte wie im Rausch, in einem Fieber, mit dem er keuchend von ihr Besitz ergriff. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, sich auszuziehen, sondern knöpfte nur seine Hose auf, um mit einem rücksichtslosen Ruck in sie einzudringen. Amélie stöhnte auf, es war ihr, als müsse sie das Bewusstsein verlieren. Von heißen Wellen getragen, ließ sie sich treiben ins Niemandsland des Begehrens, in dem sie nur ihren Körper spürte und ihre sich immer weiter steigernde Erregung, die sich nach einer Weile in krampfhaften, wilden Zuckungen, dem höchsten Gipfel der Lust, entlud. Heftig atmend, warf sie sich halb benommen zurück, ohne auf Fabre zu achten, der sie mit einem wilden Ausdruck zu beobachten schien, bevor auch er, gleichfalls erschöpft, mit einem erstickten Aufschrei über ihr zusammensank. In einer zärtlichen Aufwallung legte er flüchtig seine Wange an die ihre, und sie spürte, wie er etwas sagen wollte, sich aber zurückhielt.
Er erhob sich abrupt, ordnete mit einem mechanischen Lächeln seine Kleider und band seine Spitzenkrawatte, als sei nichts vorgefallen. Amélie, die Mühe hatte, zu sich zu kommen, richtete sich halb auf und sah ihn an.
»Gar nicht schlecht, meine Süße! Eine nette Vorspeise«, sagte er, zynisch auf sie herabsehend, »aber bilde dir nicht ein, dass ich wegen dieses kleinen Zwischenspiels zu spät kommen möchte. Los, beeil dich, zieh dir etwas an – wir haben nur noch ein paar Minuten!«
Mit diesen Worten drehte er sich um, und Amélie, beschämt und ernüchtert, presste wütend die Lippen zusammen. Sie spürte den unwiderstehlichen Wunsch in sich aufsteigen, ihm die hübsche, weichliche Fratze unter den glänzenden Locken mit den Nägeln zu zerkratzen, die kunstvoll gebundene Halsbinde abzureißen und ihm alle Wahrheiten ins Gesicht zu schreien, die in ihrem Inneren seit Langem darauf warteten, gesagt zu werden. Doch sie beherrschte sich. Jetzt noch nicht ... jetzt hatte es keinen Sinn. Aber eines Tages – da würde sie sich rächen! Dann sollte er ihr für alle Demütigungen, die er ihr jemals angetan hatte, büßen!
Das Restaurant, in dem sich die befreundeten Abgeordneten regelmäßig zusammenfanden, lag etwas außerhalb am linken Seineufer; es führte auf der einen Seite in protziger Front zu einem belaubten Boulevard und duckte sich auf der anderen an die eng gedrängten Gässchen des Armeleuteviertels. In einem der Séparés, dem Hinterzimmer des »Panache d’Or«, ging es hoch her. Auf rustikal geschnitzten Konsolen türmten sich silbern geschnörkelte Austernplatten mit bizarren Meeresfrüchten, großen Krabben, Fischen und diverse Bratenplatten. An breiten, langen Tischen saßen die Verbündeten, Vergniaud und Chénier, Saint Just und Madame Thorin, sowie Hérault de Séchelles, der in Begleitung seiner Geliebten, Suzanne de Morancy, der durchgegangenen Frau eines Provinzadvokaten, erschienen war. Auch die anderen Mitglieder des Konvents erwärmten sich mit ihren Frauen schon an den ersten Gläsern guten Weines.
Als Amélie, das verweinte Gesicht sorgsam gepudert und die Augen mit kaltem Wasser gekühlt, mit Fabre das Lokal betrat, war man schon bei der Vorspeise, einer fein getrüffelten Gänseleberpastete, angelangt. Danton, an der Seite der zarten, unscheinbaren Louise, die bewundernd und ein wenig ängstlich zu ihm aufsah, hob sein Glas.
»Zu mir, mein Freund«, rief er mit dröhnender Stimme, »Platz für unseren Dichter! Fabre, du gehörst an meine Seite!«
Der Angesprochene nickte geschmeichelt und begrüßte Danton mit einem brüderlichen Kuss auf beide Wangen. Etwas unbeholfen bemühte sich der massige Mann, eine riesige Tartine mit einem Stück Pastete beiseitelegend, sich zu erheben und Amélie die Hand zu küssen. Einen kurzen Moment schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass die Verfechter der Gleichheit und Tugend auch nicht gerade bei Wasser und Brot ihre Reden ausarbeiteten, in denen sie den Verzicht auf die Privilegien forderten.
Sie zwang sich zu einem liebenswürdigen Lächeln und ließ ihre Blicke über die Gäste gleiten, die ihr bewundernd und freundlich zunickten. Es war unschwer zu erkennen, dass viele der Abgeordneten keineswegs ihre Gemahlinnen dabeihatten. Die Tafel zierte das bunte Bild hübscher Frauen – eine Spur zu grell herausgeputzt, ein wenig zu laut schwatzend, lachend und vor allem weder mit ihren Reizen noch mit ihren Zärtlichkeiten geizend, die sie immer wieder ihren sich vorläufig noch seriös gebenden Begleitern zuteilwerden ließen. Schauspielerinnen, Sängerinnen und kleine Kokotten mit zwielichtigem Ruf waren zum Souper geladen, und Amélie fand sich in einer Gesellschaft wieder, die so gemischt war, wie es der Revolution geziemte.
Unaufmerksam und mechanisch antwortete sie mit künstlich aufgesetztem Lächeln auf alle Fragen, und die Konversation verlief stockend und zerstreut. Innerlich fühlte sie eine ungeheuere Leere, einen Abgrund, der sich auftat und durch den vage Blitze der Erinnerung zuckten; an Kerker und Tod, die Vernichtung ihrer Familie und ihre entsetzliche Schmach bei der Plünderung des Palais de Montalembert. Ihr Hass gegen den Pöbel, der es jetzt wagte, mit ihr gemeinsam an einem Tisch zu sitzen und von Freiheit und Gleichheit zu sprechen, wuchs plötzlich zu einem unüberwindlichen Abscheu gegen das Schreckensregime, in dem Fabre eine der Schlüsselpositionen einnahm.
Nach unzähligen schlaflosen Nächten hatte sie es endlich geschafft, die Erinnerung zurückzudrängen, den Schleier des Vergessens über alles zu breiten, dem Leben wieder einen Platz einzuräumen – und jetzt stand auf einmal die schmerzliche, ihr Herz vor Sehnsucht zerreißende Vision des tot geglaubten Richards vor ihr, seine vertrauten Züge, sein Brief, seine Nachricht, dass er lebe!
»Amélie!«, Fabres scharfe Stimme mit dem bekannt unheilvollen Unterton verhieß nichts Gutes. »Deine Nachbarin möchte wissen, wo man diesen entzückenden Schal kaufen kann, den du um die Schultern trägst!« Indem er so tat, als hebe er ihre Serviette auf, stieß er sie grob unter dem Tisch an und zischte ihr zwischen den Zähnen zu. »Antworte gefälligst!«
Amélie, die bis dahin blicklos auf den gefüllten Teller gestarrt hatte, den der Garçon ihr serviert hatte, wandte gehorsam den Kopf zu ihrer Nachbarin Suzanne de Morancy, einer dunkeläugigen, grazilen Dame, die es liebte, in Knabentracht zu erscheinen. Die junge Frau lächelte ihr unbefangen und mit heiterer Miene entgegen. Ihr langes, in heller, offener Flut glatt nach hinten gekämmtes Haar war nach Herrenart nur mit einer Schleife zusammengefasst, und sie trug eine Spitzenkrawatte sowie eine dunkelsamtene Weste mit den passenden, engen Kniehosen.
»Ich, ich ...«, stammelte Amélie, in Gedanken wie von weit her, »den Schal ... ja er ist ein Geschenk meiner ehemaligen Gouvernante, Mademoiselle Dernier. Sie hat ihn damals selbst bestickt.«
Madame de Morancy nickte, und Amélie glaubte, in ihren Augen eine Art Mitleid zu lesen. »Ein wunderschönes Stück. Aber ... fühlen Sie sich nicht gut?«, fragte sie plötzlich teilnehmend, sie forschend ansehend. »Sie sehen so blass aus!«
»Nein, nein«, wehrte Amélie ab, »nur eine kleine Unpässlichkeit ... ich habe Kopfschmerzen.«
Sie stocherte in der Gänseleberpastete und zwang sich, ein paar Bissen in den Mund zu schieben. Dann winkte sie dem Kellner abzuräumen. Geschickt mit der Gabel agierend, schob sie bei dem folgenden Dutzend Austern den Inhalt unauffällig unter die Schalen. Gleich darauf stand eilfertig der nächste Gang vor ihr. Eine prächtige Dorade in Weißweinsauce – im Grunde ein Gericht, welches sie besonders schätzte, aber in diesem Augenblick glaubte sie, jeder Bissen müsse ihr im Hals stecken bleiben.
»Eine verdammt gute Küche hier«, die Stimme Dantons dröhnte leutselig über den Tisch, als er sein Glas ergriff, »nicht so wie bei diesem Hundsfott von Koch, Gabin, in seinem vornehmen Laden Beauvillier, bei dem man die Krümel auf den Platten zählen kann und am Ende hungrig aufsteht.«
Er langte mit der Hand nach den Austern und kippte der Einfachheit halber die Silberplatte um, wobei der Rest der Meeresfrüchte in buntem Durcheinander auf seinen Teller purzelte.
»Ach, merde! Warum soll es uns nicht gut gehen ... es war doch schon immer so: Der Sieger teilt nach der Schlacht die Beute, oder etwa nicht?«
Er sah zustimmend in die Runde, und sein rotes, feistes Gesicht glühte vom Genuss des Weines und des guten Essens.
»Brüder, Freunde! Revolution hin oder her – jahrelang haben sich die Adeligen auf unsere Kosten vollgefressen und jetzt – sollen wir etwa nun hungern, um eines Tages tugendsam ins Grab zu sinken? Das überlassen wir schon unserem Sittenwächter Robespierre. Sagt, hat der eigentlich schon jemals eine Frau gehabt? Die Tugend, die ich jede Nacht mit meiner Louise ausübe, ist doch die schönste der Welt.« Er drückte einen schmatzenden Kuss auf die Wange der errötenden Louise, die schüchtern zu ihm aufblickte.
Fabre lächelte spöttisch, seine Augen funkelten und glitten über die Gesellschaft. »Es scheint zweifellos Frauen zu geben, die sich gerade durch Robespierres, sagen wir einmal ... vornehme Zurückhaltung verrückt machen lassen!«
Danton brach in brüllendes Gelächter aus. »Dieser Wassertrinker und Schwafler ... dieser ...«
Fabre stieß ihn in die Seite, beugte sich näher zu ihm, und seine leise Stimme bekam einen warnenden Unterton. »Genug, Georges! Sei vorsichtig, lass unseren Tugendapostel doch machen, was er will. Wir haben ihm schon genügend zugesetzt! Unter uns sind einige seiner Freunde!«
»Zum Teufel mit diesen sogenannten Freunden! Gegen mich wird er niemals ankommen!« Danton schüttelte seinen massigen Kopf, rülpste provozierend zur Bestätigung und schlürfte hörbar und genussvoll die Austern aus den Schalen. Vom Wein angeregt begann er laut zu räsonieren. »Die Revolution muss endlich ein Ende haben! So wie es aussieht, war das Volk unter der Monarchie ja fast besser dran. Dieses unaufhörliche Blutbad unter der Guillotine – was erreichen wir eigentlich damit? Alles ist schlimmer als zuvor.«
Eine peinliche Stille trat ein. Einer der wichtigsten Männer des Konvents, der Volksheld der Massen, wagte es, am Sinn, an den Zielen der Revolution zu zweifeln! Der kleine blasse Chodieu sprang empört auf.
»Das ist doch nicht dein Ernst, Bürger! Wir halten dir zugute, dass du etwas zu viel von dem starken Wein erwischt hast!«
Danton, der den Komödianten spielte, setzte den Teller mit leeren Austernschalen mit einem lauten Klirren nieder, ein brüllendes Lachen über die betretenen Mienen um ihn herum erschütterte seinen unförmigen Körper, bevor er wieder ernst wurde.
»Keineswegs! Aber ihr versteht doch wohl einen kleinen Spaß! Was sitzt ihr da und setzt eure Tugendmaske auf, wenn ich die Wahrheit sage? Lasst es euch schmecken, ich bitte euch.« Er schlug sich amüsiert auf die Schenkel: »Ja, was glaubt ihr denn? Wenn ich mich zur Menge geselle, bin ich genau so ein Sansculotte wie jeder andere! Es fällt mir nicht schwer, meinen Hintern den Vorübergehenden zu zeigen! So!«
Er sprang auf und nestelte an seiner Hose. Fabre drückte ihn verlegen auf seinen Platz zurück. Manchmal übertrieb er wirklich.
»Georges, sei vernünftig, lass das doch! Wie kannst du so etwas sagen! Das wissen wir doch alle, dass du der beste Patriot bist, der gewandteste Redner, der beliebteste Volksheld! Und niemand, auch wenn er noch so schlau ist, kann gegen dich aufkommen. Du bist die Stütze der Revolution, der Grundpfeiler von der ersten Stunde an. Nicht wahr?«
Er wandte sich mit lauter Stimme an die verstummt Dasitzenden, die nicht wussten, was sie von diesem Ausbruch halten sollten. »Danton! Was hast du alles für das Volk getan! Du bist ihr Held, unser Vorbild! Wer sollte dir irgendetwas missgönnen, irgendetwas missverstehen, was du sagst! Ist es nicht so?« Er sah sich um und ergriff pathetisch sein Glas. »Hoch lebe Danton! Wir trinken auf unseren Volkshelden. Es lebe der Retter der Republik! Hoch!«
Alle fielen mit ein, erhoben ihr Glas und prosteten ihm lächelnd zu. Der Bann war gebrochen, Stimmengemurmel sowie lautes, zustimmendes Klatschen antwortete, und die Kellner begannen erleichtert, ein köstliches Filet Mignon mit zarten Zuckererbsen zu servieren.
Amélie hatte gar nicht richtig zugehört. In ihrem Kopf drehte sich alles wie mit einem Rad, es summte und dröhnte nur das eine Wort: Richard! Er lebte! Aber wo – unter welchen Umständen? Was war wirklich geschehen? Und was wusste Fabre davon? Wie durch einen Nebel nahm sie die Tischgäste wahr, dumpf drangen das Stimmengewirr, das kreischende Lachen angetrunkener Frauen in ihr Bewusstsein. Wieder war es die verhaltene Stimme Fabres, die sie aus ihrer Versunkenheit riss.
»Amélie! Was soll das? Warum sitzt du da wie versteinert? Ich kann mir schon denken, was in dir vorgeht. Richard, nicht wahr? Aber ich schwöre, das werde ich dir austreiben. Du wirst ihn niemals wieder sehen, merk dir das. Und jetzt iss ... nimm die Gabel, steck sie in den Mund, sonst helfe ich dir dabei!«
Amélie bemühte sich, neugierige Blicke der Umsitzenden fühlend, in hilfloser Wut zu tun, was er sagte. Sie bewegte die Kiefer und schluckte, und es war ihr, als habe sie ein Stück Gummisohle zwischen den Zähnen, das sie nicht hinunterbrachte. Doch plötzlich war es genug. Sie sprang abrupt auf und lief hinaus, gerade noch rechtzeitig, um sich draußen in einer Ecke bei der verdutzten Garderobenfrau zu übergeben.
Als sie den von Rauchschwaden durchtränkten Raum einigermaßen gefasst wieder betrat, nahm kaum jemand Notiz von ihr, am wenigsten Fabre, ihr Mann. Ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr in dichtem Pfeifenqualm schlug ihr entgegen, nachdem man zum unerschöpflichen Lieblingsthema, der Politik, übergegangen war. Einer nach dem anderen ereiferte sich mit Leidenschaft, und man hätte glauben können, einer Konventssitzung beizuwohnen. Nebenbei waren die Kellner bemüht, das Dessert stilvoll zu präsentieren, ein zartschmelzendes Omelette Surprise mit frischen Früchten, das gerade über einem kleinen Ofen flambiert wurde. Bunte Flaschen verschiedener Liköre und Weinbrände standen schon auf den Tabletts bereit.
Die hübsche Suzanne de Morancy sah ihr fragend entgegen, als sie ihren Platz einnahm und legte freundschaftlich den Arm um ihre Schultern: »Kann ich irgendetwas für Sie tun, meine Liebe?«
Amélie schüttelte den Kopf: »Migräne«, erwiderte sie mühsam. »Sie wissen, so etwas ist abscheulich. Man sollte besser in einem verdunkelten Zimmer ruhen. Aber mein Mann wollte absolut, dass ich heute dabei bin. Wir werden anscheinend noch eine Verlobung erleben.«
Wie auf ein Stichwort sprang Danton, dem die Haare in wirren Locken ins weingerötete Gesicht hingen, in diesem Moment auf und ergriff das Glas Champagner, welches der hinter seinem Rücken stehende Diener ihm reichte: »Freunde!«, rief er mit Donnerstimme, »Bürger! Vielleicht könnt ihr euch denken, warum wir heute zusammen sind. Ein ganz besonderer Anlass! Komm, Louise!«
Er zog das errötende junge Mädchen hoch und presste die schmale Gestalt an sich. Es konnte in diesem Augenblick keinen größeren Gegensatz geben, als den wuchtigen, vor Kraft strotzenden Danton und das zarte, blutjunge, schüchterne Kind, das kaum sechzehn Jahre zählte. »Ich bin so glücklich, dass ich Louise gefunden habe – und deshalb will ich keine andere als sie zu meiner Frau machen!«
Die Kleine nickte und sah mit anbetenden Augen zu ihm auf. Es fehlte nicht viel, so wäre sie in Tränen ausgebrochen.
»Trinkt mit mir, Freunde – auf unser Glück! Möge es lange währen!« Er ergriff das Glas und schüttete den Inhalt mit einem Zug hinunter. Louise nippte wie ein Vögelchen und zupfte scheu an ihrer Bluse.
»Eine Landpomeranze!«, flüsterte Fabre seiner Frau spottlustig zu, ohne sie anzusehen und ohne zu bemerken, wie schlecht sie sich fühlte. »Naiv, schlecht gekleidet, unscheinbar ... da kommt alles zusammen. Ich fürchte, der Gute leidet an völliger Geschmacksverirrung – oder er ist blind vor Liebe.«
Laut zu Danton gewandt, sprach er pathetisch, ihm zutrinkend: »Mögest du mit diesem Elfenkinde das Glück der Götter erleben!«
Trunken, mit verschwommenem Blick schlang Danton die Arme um Louise und küsste sie wild auf den Mund. Beifall und Gejohle der Gäste antwortete, der Champagner floss, und die Schrecken des Terrorregimes waren in den äußersten Hintergrund des Bewusstseins gedrängt.
Einer der Diener beugte sich zu Danton hinab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ein verspätetes Paar war zu so fortgeschrittener Stunde noch eingetroffen. Großherzig winkte der Gastgeber, man solle die beiden sofort einlassen und fürstlich bewirten. Der Advokat Jean François Delacroix, in Statur und Wesensart seinem Freund Danton in vielem ähnlich, betrat den Raum, in seiner Begleitung eine auffallende Frau, die sofort alle Blicke auf sich zog. Einer nach dem anderen verlor den Faden der Unterhaltung und wandte sich neugierig dem ungleichen Paar zu. Man tuschelte und lachte leise. Die elegante Dame war von dem Aufsehen, das sie erregte, nicht beeindruckt. Sie tänzelte in ihrem atlasroten, mit Marabufedern besetzten Cape herein, löste die glitzernde Spange und ließ es nachlässig von ihren nackten Schultern gleiten. Eilfertig fing einer der Kellner den Umhang auf, blieb aber wie angewurzelt stehen und starrte auf das, was sich seinen Augen nicht jeden Tag darbot. Das Dekolleté des roten Kleides der Schönen war selbst für die freizügige Zeit ein wenig zu gewagt – es bestand einzig und allein aus zwei glänzenden, von schmalen Bändern gehaltenen Schalen, die die Brüste bedeckten. Eine große feuerfarbene Feder enthüllte mehr, als sie bedeckte, die Taille von der Hüfte aufwärts, während der Rücken nackt und milchweiß im Licht der Kerzen aufleuchtete.
Mit frechen Blicken sich in Szene setzend, reckte sie die Arme, zog die Hutnadel aus dem luftigen, ebenfalls mit roten Federn besetzten Gebilde auf ihrem Kopf und warf es schwungvoll beiseite. Die mahagoniroten Haare flammten jetzt offen in wilden Locken um die Schultern und das hell gepuderte Gesicht, in dem der breite Mund blutrot geschminkt, einen unübersehbaren Mittelpunkt bildete, schien hochmütig. Verhaltene »Ohs« und »Ahs« erklangen aus der Männerwelt, und die Damen wisperten kichernd, während sie die außergewöhnliche Robe begutachteten.
»Die Schauspielerin Simone Aubray«, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand an den Tischen, »die stadtbekannte Hure! Die Aubray aus dem Théâtre Molière!«
Amélie zuckte bei dem Namen zusammen. Dieser Frau war sie doch schon einmal begegnet! Wie ein Blitz schoss es durch ihr Gedächtnis. Damals, die Situation im Parfumladen Meister Grauberts im Palais Royal, als sie ihren Vater in Begleitung dieser Kokotte antraf! An jenem Tag war alles ins Rollen gekommen, und das Schicksal hatte seinen Lauf genommen!
D’Églantine winkte dem Paar einen kurzen Gruß zu, und Simone schien ihm ein besonderes Lächeln und einen langen Blick zu schenken. Fabre wandte sich jedoch wie unbeteiligt ab, obwohl die Schauspielerin ihm vertrauter war, als er es Amélie gegenüber zugegeben hätte. Schließlich sollte sie in seinem neuen Theaterstück eine tragende Rolle spielen, und obwohl Delacroix ausgesprochen eifersüchtig war, konnte ihn niemals etwas von einer neuen Eroberung abhalten.
»Die Geliebte von Delacroix, wer hätte das gedacht? Na ja, die tut es doch mit jedem, das ist bekannt ... ein offenes Haus, in der Rue Chapotin ...«, flüsterte es hinter ihr hämisch und verstohlen.
»Lass uns gehen, Fabre, ich bitte dich!« Amélie fühlte den Boden unter ihren Füßen wanken, und ihre Lippen zitterten. »Ich habe dir doch erzählt, dass die Aubray einst die Geliebte meines Vaters war ...«
Fabre seufzte demonstrativ: »Was zum Teufel gehen mich die alten Geschichten an! Wenn dein Vater sich mit ihr amüsiert hat – wen interessiert’s?«
»Aber ... sie hasst mich, weil ...«
»Hör endlich auf, längst vergangene Dinge aus der Schublade zu holen. Das ist aus und vorbei – es zählt nur das Jetzt. Und deiner Launen wegen werde ich meine Freunde und auch die Dantons nicht vor den Kopf stoßen.«
Er sprang auf und küsste der vorbeitänzelnden Aubray, die ihn mit einem seltsamen Blick des Einverständnisses streifte, galant die Hand.
»Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?«
Triumphierend sah die Schauspielerin Amélie, die sie vom ersten Augenblick an erkannt hatte, voll ins Gesicht und nickte ihr nur herablassend zu.
»Ich glaube, wir haben uns schon einmal irgendwo gesehen. Ich kannte Ihren Vater sehr gut.« Sie warf ihre rote Mähne zurück und umarmte Danton überschwänglich. »Ich bin untröstlich, mon ami – nun sind Sie vergeben! Und ich hatte mir solche Hoffnungen gemacht ...«, flötete sie mit einem falschen Lächeln, und alles lachte wie über einen guten Witz.
Sie nahm mit Delacroix an der Tafel Platz, Amélie genau gegenüber, die glaubte, unter den frechen, herausfordernden Blicken der Kurtisane in den Boden zu versinken. Konnte sie nicht endlich Ruhe finden, vor den Menschen, die mit zum Untergang ihrer Familie beigetragen hatten und die nun von der neuen, republikanischen Gesellschaft hofiert und beachtet wurden!
»Auf die Republik«, ertönte die Stimme von Delacroix, der das Glas hob, »und auf das Glück unseres Volkshelden!«
»Ein Lied«, erschallte es, »ein Lied ... die Marseillaise! Allons enfants de la Patrie ...«
Aber noch schien es zu früh für derartige Kundgebungen. Auf einen Wink Dantons hin erhob sich d’Églantine, schob seine Spitzenärmel mit gezierter Geste ein wenig zurück, ließ sich die Laute reichen und begann, die Saiten zu zupfen.
Alles wurde ruhig und blickte auf ihn. Mit seiner melodischen, sanft tönenden Stimme begann er ein Volkslied zu intonieren. Die blauen Augen Fabres bekamen einen schmachtenden Glanz und spiegelten die tiefe, beseelte Empfindsamkeit des sensiblen Künstlers, in dessen Zügen sich je nach Chanson Trauer, Glück und Sehnsucht zeigten.
Die Frauen seufzten und begleiteten jedes Lied mit stürmischem Applaus, und der Sänger lächelte geschmeichelt. Amélie spürte die Faszination des anderen Fabres, die verführerische Erotik des Troubadours, dem keine Frau wirklich widerstehen konnte. Sie sah den Schauspieler, der in jede Rolle einen Teil seines Wesens legte; aber dann, wenn die Maske fiel, ein völlig anderer war. In diesem Augenblick liebte sie ihn, den sanften Sänger, dessen Worte jetzt so zart die Seele streichelten wie seine Hände ihre Haut. Dann vergaß sie, dass er in solchen Momenten nur berücken wollte, um seinen Willen durchzusetzen, dass hinter seinen Küssen, seiner Umarmung immer eine dunkle Begierde stand, die niemals satt wurde, auch wenn sie sich erfüllte, ein Liebeshunger, der nur verführen wollte aber niemals besitzen. Wie melancholisch und sehnsuchtsvoll klang nun sein Lied, seine Stimme, in der hoffnungslose Liebe zitterte und bei dem er jetzt nur sie ernst und schmachtend ansah: »Je vous aime ... vous êtes la tourmente, de mon âme violente ...« Amélies Lippen bebten, und sie fühlte, wie ihr Herz sich für diesen anderen, den zärtlichen und zugleich schwermütigen Fabre erwärmte, wie es ungeduldig schlug und wie sie sich danach sehnte, diese Worte ganz nah an ihrem Ohr zu hören und sich in seinen Armen zu verlieren.
Sie schrak zusammen, als Fabre mit der Hand heftig auf die Saiten schlug, die einen schrillen Missklang erzeugten; er brach sein Lied ab, so als müsse er die wehmütige Stimmung einfach beiseitewischen. Mit heftigem Griff stimmte er eine Spur zu laut die mitreißenden Klänge der ersehnten Marseillaise an, und alle sangen im Chor aus voller Kehle mit. Man war so gerührt, dass am Ende wahre Tränen flössen und einige der Abgeordneten in ihrer Begeisterung für die nationale Sache einander in die Arme fielen und sich im Dusel allgemeiner Weinseligkeit zu allen neuen Errungenschaften beglückwünschten.
Da erst legte Fabre die Laute beiseite und, weich gestimmt vom Wein und einer sentimentalen Laune, die so typisch für seine Stimmungsumschwünge war, sah er Amélie tief in die Augen, ergriff ihre Hand und murmelte mit gebrochener Stimme: »Entschuldige, Liebste, ich weiß nicht, wie du es mit mir aushältst ... ich bin manchmal schrecklich. Es ist wie ein Dämon, der mich überkommt. Aber glaub mir, ich liebe nur dich. Ich könnte es nicht ertragen, dass Richard immer noch dein Herz besitzt! Du hast ihn doch schon vergessen, nicht wahr?«
Seine Stimme war drängend und der Ausdruck seiner jetzt meerblau schimmernden Augen fast flehend.
»Sag es, er ... er ist doch nur noch ein Schatten in deinem Herzen! Sag es mir, Amélie, jetzt!«
Amélie, noch im Bann seiner bezwingenden Stimme, die ihr im Lied seine Liebe gestanden hatte, seiner zärtlich flackernden Augen, empfand den Druck seiner Lippen, die sich verlangend auf ihre nackten Schultern pressten, wie glühende Male. Unwillkürlich spürte sie die wohlbekannten Schauer, gegen die sie machtlos war, ihren Körper durchrieseln.
»Ja, Fabre, ja ...«, es kam über ihre Lippen, ohne dass sie es wollte, und er ließ sie mit einem erleichterten und triumphierenden Lächeln los und stürzte das frisch eingeschenkte Glas Champagner mit einem Satz hinunter.