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In der Conciergerie

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Seit der Stunde, in der Amélie das geheimnisvolle Medaillon mit dem anrührenden Brief Richards in der Hand gehalten hatte, war die Welt für sie völlig verändert. Immer wieder hämmerte es in ihrem Kopf: »Er lebt! Er ist nicht tot! Er wartet irgendwo auf dich, in dieser großen Stadt!« Aber wie konnte sie ihn finden? Es war so wenig, was sie von Manon erfahren hatte – und sie wollte doch die ganze Wahrheit wissen! Unzählige Fragen brannten in ihrem Herzen, so viele Einzelheiten konnten wichtig sein und sie zu ihm führen!

Am nächsten Tag schien es nicht möglich, ungesehen das Haus zu verlassen, um in die Conciergerie zu fahren – und auch nicht am übernächsten. Fabre war wachsam, er ließ sie keinen Augenblick allein und beobachtete eifersüchtig und mit Argusaugen, wie sie sich verhielt. Amélie fühlte, wie Ungeduld und Verzweiflung in ihr hochstiegen, wenn sie blicklos und ohne zu wissen, was sie las, auf die Zeilen eines Buches starrte, während Fabre, der in seinen Akten blätterte, sie zu durchschauen schien.

Am Abend, als Fabre wie gewohnt zum Theater gefahren war, flüchtete sie sich in die anliegenden Kinderzimmer und schickte das Mädchen hinaus. Die Kleinen waren noch wach und warteten auf ihre Gute-Nacht-Geschichte. Der rotblonde Schopf von Sophie-Benedicte, dem Kind Richards, tauchte neugierig zwischen den Kissen auf.

»Maman? Lesen Sie uns heute selbst vor?« Sie hob lachend ein grob gezeichnetes Bilderbuch mit beweglichen Figuren hoch, das auf ihrer Bettdecke lag. »Schauen Sie, das Bilderbuch der Revolution! Und so werden die Köpfe abgemacht! Ganz wie in echt, nicht wahr?«

Amélie sah entsetzt auf die Papierguillotine, die blasiert gezeichneten Aristokraten die Köpfe abknickte. Rasch nahm sie das Buch Sophie fort.

»Wie schrecklich! Wer hat dir denn das gegeben?«

Sophie zog die kleine Stirn kraus und sah sie trotzig an.

»Das ist ein Geschenk von Papa! Ich finde es sehr lustig! Geben Sie es mir zurück!«

»Das ist nichts für dich. Siehst du nicht, wie grausam das ist?«

Sophie, bereits müde, begann laut zu quengeln.

»Wieso denn? Ich will es aber haben! Das ist mein Buch!«

Der erst ein paar Wochen alte Philippe-François erwachte in seinem Bettchen und schien sie mit den Augen Fabres aufmerksam anzusehen. Aurélie, die schon ihr eigenes Zimmer hatte, kam mit ihrer Puppe im Arm angelaufen, um zu sehen, was es gäbe.

»Hör mit dem Geheule auf!«, fuhr sie die jüngere Schwester an. »Du darfst auch mit meiner Puppe spielen!«

Augenblicklich verstummte Sophie und streckte die Arme nach dem kostbaren Gut, der blondgelockten Porzellanpuppe mit den echten Wimpern und rosa Ballkleid, aus. Noch nie hatte Aurélie ihre Lieblingspuppe aus der Hand gegeben, sie durfte sie nicht einmal anrühren! Achtsam strich sie über die matten Porzellanwangen und den rotbemalten Mund und setzte sie neben ihr Kissen, um sie ganz genau zu betrachten. Aurélie schmiegte sich inzwischen zärtlich in die Arme der Tante.

»Sophie ist doch noch so dumm!« sagte sie altklug, »Ich würde niemals ein Buch mit so hässlichen Bildern ansehen. Hier«, sie nahm eines der alten Märchenbücher, »das mag ich viel lieber!«

Amélie drückte das Mädchen, das ihr beinahe näher stand als ihre eigenen Kinder, gerührt an ihre Brust, öffnete das Buch und begann mit einer Geschichte.

Als die Kleinen nach und nach müde wurden und in tiefen, selbstvergessenen Schlaf sanken, horchte Amélie noch lange auf ihren regelmäßigen, beruhigenden Atem und sah gedankenvoll durch das Fenster in die Dunkelheit hinaus. Ihr war plötzlich eine Idee gekommen, die ihr so einfach schien, dass sie sich wunderte, dass sie nicht gleich daran gedacht hatte! Neue Hoffnung erfüllte sie. Die Pendeluhr schlug mehrmals, ohne dass sie sich entschließen konnte, sich niederzulegen und die Stunden schienen zäh und langsam bis zum Morgen zu vertropfen.

Es war noch dämmrig, als das monotone Klappern der Pferdehufe auf dem unebenen Straßenpflaster ertönte. Amélie, im Fond ihrer Kutsche, hüllte sich fröstelnd in ihren wärmenden Samtumhang und betrachtete die Straßenkehrer, die sich mit gleichgültiger, unausgeschlafener Miene mühten, die Reste und Abfälle der Nacht fort zu räumen. Ein bleiches Licht begann, die Stadt in das besondere, schieferfarbene Pariser-Grau zu tauchen, welches sämtliche Gebäude, Straßen und Dächer mit dem Himmel verschwimmen zu lassen schien. Eine Art Ernüchterung lag über den Mauern, wie am Morgen nach einem großen Fest, von dem man viel erwartet, das aber letztendlich wie ein Feuerwerk verpufft.

Amélie war es, als sähe sie das alles zum ersten Mal, als hätte sie bisher die Augen verschlossen vor der Brutalität, mit der jeden Tag zu neuen Hinrichtungen gerüstet wurde. War nicht das ständige Fallen des Beiles, die Reaktionen der Opfer schon zu einem alltäglichen Schauspiel geworden, an dem die meisten Zuschauer nur noch teilnahmen, wenn es bekannte Namen gab? Die Abgebrühten schlossen sogar Wetten ab, wie der eine oder andere sterben würde und der Tod wurde zur Mutprobe, bei der man sehen konnte, wie es war, wenn die verhassten Aristokraten ihren letzten Seufzer taten.

Amélie versuchte, die trüben Gedanken beiseite zu wischen. Sie wollte die Gelegenheit der frühen Stunde nutzen, eine Zeit, in der Fabre nach seinen nächtlichen Gelagen mit den Theaterleuten gewöhnlich noch schlief. Die Geschäfte waren geschlossen, nur einige Bistros ließen durch den Schein ihrer matten Lampen erkennen, dass man sich hier mit ein paar Gläsern billigem Schnaps das Nachdenken darüber erleichtern konnte, ob mit dem Tode des Königs etwas gewonnen war. Die Kutsche näherte sich nun dem Quai de l’Horloge der Île de la Cité, und die Pferde verlangsamten den Schritt vor dem düsteren, mittelalterlichen Gebäude der Conciergerie, die sich abweisend, mit verdunkelten und vergitterten Fenstern zum grauen Himmel streckte. War es nicht doch noch zu früh? Die wuchtigen Türme des Gefängnisses waren selbst am Morgen von einem doppelten Trupp Soldaten bewacht und das Gelände bis zum Ufer der Seine abgesperrt. Ein wenig beunruhigt wies Amélie den Kutscher Marius an, in einiger Entfernung unter den dichten Kastanienbäumen an der Place Dauphine zu halten und dort auf sie zu warten. Sie stieg aus dem Wagen und verharrte eine Weile am nebligen Seinekai, bevor sie weiterging. Mit diesem Aufgebot an Garden hatte sie nicht gerechnet! Das Gerücht, die Königin sei vom Temple hierher überführt worden, schien sich zu bewahrheiten und erklärte die Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen. Die Soldaten ließen die junge Frau, die ihnen großzügig einen Geldschein in die Tasche stopfte, jedoch grinsend passieren.

Ein verschlafener Portier glotzte misstrauisch aus seinem Wärterhäuschen. Er schien unsicher, die Besucherin zu so früher Stunde durchzulassen. Seit die berühmteste Gefangene von Paris dieses Haus bewohnte, konnte man sich eben keinen Fehler mehr erlauben.

»Der Hauptmann ist noch nicht da«, beschied er ihr, mürrisch über die ungewohnte Störung, »kommen Sie um elf Uhr wieder, da gibt es Rapport.«

»Ich bleibe hier und warte«, beharrte Amélie eigensinnig und setzte sich entschlossen auf das schmale Steinbänkchen vor der Pforte. »Sie sehen doch, ich habe einen Passierschein zu jeder Stunde. Und ich will nicht zur Königin, sondern zu einer guten Freundin. Erst vor ein paar Tagen habe ich sie besucht und heute möchte ich sehen, ob sie eine bessere Zelle bekommen hat. Sie würden es nicht bereuen, wenn Sie mich jetzt gleich durchlassen.«

Sie winkte mit ein paar Scheinen, und der Wärter schielte, jetzt völlig wach geworden, mit gierig auffunkelnden Augen auf das Geld, als wolle er abschätzen, wie viel es sein könnte. Er lockerte seinen Kragen und befühlte seinen Hals. Noch trug er ihn auf den Schultern, aber es gehörte heute wahrlich nicht viel dazu, ihn ganz auf die Schnelle zu verlieren. Zweifelnd schüttelte er den Kopf.

»Madame ... noch vor ein paar Tagen wäre das alles kein Problem gewesen ... aber jetzt! Das Reglement ist strenger geworden — es gibt Gerüchte, man wolle die Königin entführen.«

»Pah!«, Amélie sah ihn verachtungsvoll an. »Sehe ich so aus, als wäre ich dazu in der Lage? Glauben Sie, dass ich sie auf meinen Armen heraustragen könnte! Das ist doch geradezu lächerlich.«

Man sah dem Pförtner an, wie krampfhaft er nachdachte, wie hinter seiner niedrigen Stirn die Gedanken träge hin und her gingen. Er kratzte sich unschlüssig am Kopf. »Sie besuchen also Ihre gute Freundin ...«, wiederholte er schwerfällig, »aber warum so früh?«

»Das kann ich Ihnen leicht erklären«, antwortete Amélie leichthin, »ich habe einen eifersüchtigen Ehemann, der mich zu Hause einsperrt, weil er überall einen Liebhaber vermutet. Jetzt schläft er ... Sie verstehen?« Sie warf dem Pförtner einen schmelzenden Blick unter halb gesenkten Wimpern zu und der sich geschmeichelt fühlende Tölpel lachte komplizenhaft auf.

»Also eher ein ... Freund? Hätte ich mir doch gleich denken können!« Amélie schlug treuherzig die Augen zu ihm auf, seufzte vielsagend und setzte sich wieder auf die harte Steinbank, die Augen bittend auf den Pförtner geheftet, der sich in seiner Loge plötzlich ein wenig unwohl fühlte. Man sollte ihm nicht nachsagen, er habe kein Herz für eine schöne Frau! Obendrein zog ihn das Bündel Assignaten, das sie wie zufällig noch in der Hand hielt, magnetisch an. Er hatte sowieso kaum zu beißen, von dem schmalen Lohn, den man ihm zahlte. Einer der Beschließer, die auf den Gängen postierten, würde sie kurz hineinführen und ehe die Conciergerie richtig zum Leben erwachte, wäre sie schon wieder draußen.

»Warten Sie. Will mal sehen, ob sich etwas machen lässt.«

Er erhob sich und schlurfte zu dem halb eingenickten Soldaten, der am Eingangstor Wache hielt und wechselte ein paar Worte mit ihm. Der sah über die Schulter nach der Wartenden, nickte kurz und trat beiseite, um das Tor aufzusperren.

»Kommen Sie schnell!« Der Pförtner schob sie in den Eingang und riss ihr fast hastig die Geldscheine aus der Hand. »Nicht länger als ein paar Minuten – ich komme sonst in Teufels Küche«, warnte er noch, bevor sich das schwere Eingangstor hinter Amélie schloss, die ohne zu zögern hineingehuscht war.

»Manon Roland«, der Soldat gab Amélies Worte an den Gehilfen des Aufsehers weiter, der gerade den Gang auskehrte. »Die Dame will nur sehen, ob die Gefangene die bevorzugte Unterbringung erhalten hat. Beeil dich, bevor Mercandier kommt!«

Amélie lief, so rasch sie es vermochte, hinter dem jungen Burschen her, dem es ebenfalls so pressierte, dass er manchmal am hinteren Ende eines Ganges verschwand und sie ängstlich stehen blieb, weil sie bei einer Abzweigung nicht wusste, welchen Weg sie einschlagen sollte.

Dann hörte sie seine hallende Stimme von ferne: »Hier entlang, Madame ...«

Es war auch diesmal ein schier kein Ende nehmender Marsch durch verschlungene, dunkle Korridore über Treppen und zu Eisentüren, die aufgeschlossen werden mussten, um den Weg frei zu geben. Schließlich kamen sie in einer der höheren Etagen an, in die das schummerige Licht enger, vergitterter Fenster fiel. Vor einer schweren Holztür hockte auf einem Dreibeinschemel ein seltsames Wesen, ein dunkelhäutiger, buckliger Bewacher, der aus seinen schlitzartig zusammengekniffenen Augen in die hochgehaltene Laterne blinzelte.

»Du, Dimanche?«, rief der Gehilfe überrascht. »Was tust du hier?«

Amélie schrak zurück, als sie näher trat. Sie hatte noch nie etwas Hässlicheres gesehen, als diesen schwarzen Zwerg, der sich erhob und den Besuchern fratzenhaft entgegengrinste.

»Ich mache nur meine Arbeit – wie immer!«, antwortete er lakonisch und zog den Burschen mit einem misstrauischen Seitenblick auf Amélie beiseite. Die beiden flüsterten mit leiser Stimme eine Weile, und aus der Miene des Gehilfen, der sich bald schulterzuckend zurückzog, war unschwer zu erkennen, dass der seltsame Gnom die Zelle Manons bewachte und es nicht so aussah, als wolle er Amélie eintreten lassen. Rasch zog sie ein paar Geldstücke mit verlockendem Klimpern aus dem Beutel, doch der unheimliche Wächter wies sie mit schnarrender Stimme zurück.

»Ich habe Anordnung, niemanden zu Madame Roland zu lassen.« Er rückte den Schemel zur Seite, trat ihr in den Weg und richtete sich trotz seines Buckels so gerade wie möglich vor ihr auf.

»Ich bin eine Freundin der Bürgerin Roland«, stotterte Amélie eingeschüchtert, »und ich habe einen Besuchsschein!«

»Es ist verboten, die Gefangene zu besuchen!«

Fassungslos schüttelte Amélie den Kopf. »Und warum?«

»Stellen Sie keine unnötigen Fragen, Madame d’Églantine«, der Gnom, dessen Augen trotz seines ständigen Grinsens düster flackerten, legte den großen Kopf zur Seite, als sei er zu schwer für seine Schultern, »und verschwinden Sie, bevor wir beide Ärger bekommen!«

»Woher weißt du, wer ich bin?« In Amélies Herzen stieg ein leiser Verdacht auf. »Überhaupt hast du kein Recht, mir den Zugang zu verwehren!«

Unbeeindruckt schüttelte der bizarre Zwerg den Kopf und hinkte mit bedrohlich entschlossener Miene geradewegs auf sie zu.

»Zwingen Sie mich nicht zum Äußersten, Madame! Gehen Sie jetzt!«

»Ich denke nicht daran! Wachmann!« Amélie wich aus und wollte sich hilfesuchend zu dem Burschen wenden, der sie begleitet hatte – doch der schien mitsamt seiner Laterne vom Dunkel der Gänge verschluckt.

»Zu Hilfe ...« Ihre Stimme erstarb. Obwohl ihr vor Angst fast der Atem stockte, zwang sie sich, stehen zu bleiben und dem abstoßenden Buckligen so furchtlos wie möglich ins Gesicht zu sehen. Sein Gesicht unter dem krausen Haaransatz glich einer dämonischen Maske, die sie höhnisch anstarrte. Woher kam dies unheimliche Wesen, das von finsterer Magie umgeben schien?

»Bist du ...«, sie räusperte sich mit zugeschnürter Kehle, »ein Gefängnisspitzel, ich meine, gehörst du zu den berüchtigten ›Moutons‹, die man hier einschleust, um ...«

Der Gnom antwortete nicht, er kam drohend näher und zwang sie dazu, tiefer in den dunklen Gang zurückzuweichen. Amélie kam sich vor wie in einem bösen Albtraum, aus dem sie gerne erwacht wäre. Am ganzen Körper schlotternd, zwang sie sich zu einem letzten Versuch.

»Madame Roland wird vielleicht schon morgen aufs Schafott geführt! Lass mich zu ihr – nur einen kurzen Moment! Ihr letzter Wille.’..« Ihre Stimme blieb heiser in der Kehle stecken.

Der Zwerg schien zu zögern.

Der Schein der rauchenden Pechfackel fiel jetzt seitlich auf sein Gesicht, er beleuchtete die von einem Pfuscher von Chirurgen gewaltsam zu den Ohren gestrafften Wangenpartien, die seinen Mund zu einem künstlichen Dauergrinsen verzerrten. Breite, entzündete Narben umgaben seine weit aufgerissenen, rot geäderten Augen. Dann schüttelte er marionettenhaft den zotteligen Kopf, und seine Stimme nahm einen gepressten, monotonen Klang an.

»Nur über meine Leiche, Madame! Ich habe bei meinen Auftraggebern den Ruf absoluter Verlässlichkeit!«

»Ich muss aber zu ihr!« Amélie presste wütend und enttäuscht die Lippen zusammen. Von wem sollte sie sonst jemals etwas über Richard erfahren – wo ihn finden? Mit dem Mut der Verzweiflung nahm sie einen Anlauf und drängte sich dicht an dem Zwerg vorbei zur Zelle Manons. Mit den Fäusten hämmerte sie wie wild gegen die eisenbeschlagene Tür und versuchte, durch das vergitterte Guckfenster zu spähen, jeden Augenblick gewärtig, dass der grässliche Zwerg sie von hinten packen und zu Boden reißen würde.

»Manon! Manon, hörst du mich?«, schrie sie so laut sie konnte; doch drinnen rührte sich nichts, und ihr Schrei hallte echoartig von den feuchten Wänden wider. Erschöpft, brennende Tränen der Enttäuschung in den Augen ließ sie schließlich ab und lehnte sich kraftlos gegen die rauen Mauersteine. Der Zwerg war ihr nicht gleich gefolgt. Er sah ihrem Tun aus einiger Entfernung verächtlich zu und schien sie mit seiner verzerrten Miene geradezu auszulachen.

»Sie sehen doch, es ist zwecklos!«

Das schadenfrohe Grinsen, mit dem er nun auf sie zu trat, ließ Amélie bis in den letzten Winkel ihrer Seele schaudern. Er kreiste sie ein, die Laterne hochhaltend, die sein Gesicht auf so bizarre Weise erhellte, dass es eher einer Karikatur als einem menschlichen Antlitz glich. Amélie starrte ihm wie hypnotisiert ins Gesicht und spürte, wie kalte Angst nach ihrem Herzen griff.

»Gehen Sie endlich – bevor ich Gewalt anwenden muss ...«

Mit einer unmissverständlich drohenden Geste kam der Zwerg ihr jetzt so nahe, dass sie glaubte, seinen heißen Atem zu spüren. Instinktiv streckte sie den Arm aus und stieß ihn voller Abscheu so heftig zurück, dass er stolpernd nach hinten taumelte und zu Boden fiel.

»Machen Sie das nicht noch einmal – Sie würden es auf ewig bereuen!«, kreischte er wütend und sprang, das wirre, krause Haar zurückwerfend, angriffslustig auf seine kurzen Beine.

Er humpelte direkt auf sie zu, schnitt eine grässliche Fratze, streckte die Zunge heraus und rollte die Augen. Sein schwarzer Schädel glich jetzt einem grinsenden Totenkopf, und Amélie wich in unnennbarem Entsetzen zurück. Dieses Wesen schien vor nichts zurückzuschrecken, und niemand würde sie in diesem düsteren Gefängnis schreien hören, wenn ihr etwas geschah! Die Röcke schürzend, hastete sie mit jagendem Puls, immer wieder über unebene Stellen stolpernd und sich manchmal im Halbdunkeln an den feuchten Wänden entlangtastend, den von glimmenden Pechfackeln spärlich erhellten, langen Gang zurück.

Erst als sie Atem schöpfen musste, blieb sie stehen. Schadenfroh hallte das unheimliche, misstönende Gelächter des Zwergs hinter ihr von den Mauern und brach sich als dumpfes Echo in den finsteren, abzweigenden Gängen, die sich in verwirrender Folge vor ihr auftaten. Welchen Weg sollte sie nehmen? Von der muffigen Kellerluft war ihr schwindlig, und sie erinnerte sich nicht im Geringsten mehr, aus welcher Richtung sie gekommen war. Feuchtigkeit tropfte von den Wänden und schwarze Kellerasseln und dicke Spinnen huschten eilig über die ausgetretenen Steine und verschwanden in Ritzen und Spalten des alten Bauwerks. Ihr schien, als grinse ihr die Fratze des teuflischen Zwerges aus allen Ecken und hinter bemoosten Pfeilern entgegen; als halle das Ächzen und Stöhnen der hier Eingesperrten aus den Zellen. Mühevoll zwang sie sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, während ihre Ohren vom vermeintlich spukhaft anschwellenden Jammern der Gefangenen und den Gebeten der Verurteilten dröhnten.

Sie blieb nicht stehen, versuchte nicht, durch die eisernen Stäbe der vergitterten Zellen zu schauen. In einer Vision, die unerwartet aus den Tiefen der Vergangenheit in ihrem Gedächtnis auftauchte, sah sie sich plötzlich an der schmutzigen Pritsche ihrer fiebernden Mutter in dem kalten, finsteren Kellerloch stehen, in das das Revolutionsgericht sie geworfen hatte, sie hörte wieder ihre Seufzer und den letzten Hauch ihres Atems. Dieses Bild, das sie monatelang bis in ihre Träume verfolgt hatte, verfehlte auch jetzt ihre Wirkung nicht und verstärkte ihre Angst ins Endlose. Schweißgebadet, wie von überall auftauchenden Dämonen verfolgt, hastete sie jetzt blindlings vorwärts; sie stolperte über eine Stufe und prallte schließlich mit den Schultern heftig gegen ein verschlossenes Eisentor. Ihr war, als hielte sie jemand fest, als sich ihr Spitzenärmel an einem rostigen Nagel verfing. Mit einem ratschenden Geräusch gab der Stoff nach, und sie rüttelte in Panik an dem rauen Eisen, als wäre ihr der Henker auf den Fersen.

»Hilfe«, schrie sie gellend, »zu Hilfe! Hört mich denn hier niemand!«

Es war, als sei sie selbst eingesperrt und drohe zu ersticken. Nackte Angst würgte sie, und ihr Herz klopfte so rasend, als wolle es die Brust sprengen. »Maman!«, rief sie hilflos, »Maman!« Schluchzend rutschte sie auf dem glitschig nasskalten Boden aus, schlug mit dem Kopf gegen eine Stufe und verlor das Bewusstsein.

Der Stephansdom ragte hoch und majestätisch gen Himmel, als de Montalembert zusammen mit Graf Axel von Fersen das Dîner bei dem Fürsten von Steinheim verließ. Die umliegenden Häuser duckten sich in den Schatten des Doms, als wenn sie um den Einfall der rachedürstenden, aufgebrachten Franzosen bangten, der Nation, die sich gegen den Absolutismus so einmütig erhoben hatte, und vor dem die Mächtigen der Welt nicht wussten, ob sie es fürchten oder lächerlich finden sollten. Was war von diesem revoltierenden Volk noch zu erwarten, nachdem es seiner Wut gegen die Obrigkeit Luft gemacht und seinen König gemordet hatte? Erst heute war in allen Zeitungen zu lesen gewesen, dass man unerwartet die Königin aus dem Turm des Temple in das strenger bewachte Gefängnis der Conciergerie gebracht hatte! Graf von Fersen war außer sich: Die verehrte und geliebte Frau hinter diesen tristen Mauern! Nun befand sie sich in unmittelbarer Lebensgefahr!

Den ganzen Abend hatte man im Palais Steinheim über die unsichere Lage und die widersprüchlichen Nachrichten aus Paris diskutiert. Mit Tränen in den Augen hatte Fersen die Forderung gestellt, ein starkes Kavalleriecorps nach Paris zu schicken! Die Gelegenheit wäre günstig, keine Armee würde im Augenblick den Weg versperren; man könnte Marie-Antoinette mit Gewalt befreien oder sich zumindest auf Verhandlungen mit dem Konvent auf Basis eines Lösegeldes einlassen! Sein Vorschlag stieß jedoch auf eisige Ablehnung, und nach all den kühlen Diskussionen und blutleeren Vorschlägen war das sonst so ruhige Gemüt Graf von Fersens von heißer Wut erfüllt. Außer sich, erregt und kaum Herr seiner Sinne, machte er seinem Unmut Luft.

»Diese farblosen, feigen Bürokraten! Sie können sich nicht entschließen zu handeln!« Von einem Gefühl machtloser Verzweiflung eingeholt, hielt er inne, sah hilflos zu dem eher schweigsamen und in sich gekehrten Richard hinüber, der ohne ein Wort zu sagen, gedankenversunken neben ihm herschritt. Dann brach es aus ihm heraus: »Wenn wir nichts unternehmen, wird es bald zu spät sein!«

De Montalembert nickte entmutigt und seufzte. »Ja, der Marquis de Bréde wäre der ideale Unterhändler gewesen – er kannte Danton gut aus früheren Zeiten. Aber jetzt ist er tot! Und die Revolutionsaufstände, denen wir nur wenige Monate gegeben haben, nehmen ungeahnte Dimensionen an ...«

»Ich weigere mich aufzugeben – es bleibt uns noch das letzte Mittel, die Entführung! Wir müssen Marie Antoinette aus dem Kerker befreien!«

Von Fersen winkte einer Mietdroschke, die langsam herbeigerollt kam.

»Ich bin dafür, dass wir die Aktion ›Ass-Karte‹ sofort starten! Was mich betrifft, so bin ich zu allem bereit! Und ich bin nicht der Einzige, der so denkt – die Chevaliers du Poignard, die Gutsherren aus der Vendée und der Brétagne warten doch nur darauf loszuschlagen, ihre Treue zu beweisen! Die Befreiung der Königin würde sie beflügeln!«

De Montalembert sah ihn fragend an: »Du hast recht – aber womit sollen wir die richtigen Leute auf unsere Seite bringen? Wo die Mittel hernehmen, jetzt wo unser Geldgeber, der Marquis de Bréde nicht mehr lebt!«

Von Fersen blieb nachdenklich stehen und murmelte: »Es gibt da jemanden, einen gewissen Baron de Batz! Eine etwas mysteriöse Figur, über die viele Gerüchte im Umlauf sind. Kennst du ihn?«

Richard schüttelte den Kopf. »Ich habe diesen Namen noch nie gehört!« »Der verstorbene Marquis de Bréde war eng mit ihm befreundet! Und de Batz soll ein sehr vermögender Mann sein, wagemutig und einem gefährlichen Abenteuer nicht abgeneigt. Wir könnten versuchen, ihn für diese Sache zu gewinnen. Vielleicht kennt ihn die Marquise?«

»Aber wir brauchten auch jemanden, der die Königin überzeugt, der Entführung zuzustimmen!«, gab Richard zu bedenken.

In den Augen von Fersens glühte ein düsteres Feuer. »Das kannst du mir überlassen!« Der Kutscher öffnete jetzt den Schlag seines Gefährts, und von Fersen sprang auf das Trittbrett. »Morgen Abend, im Palais de Bréde werden wir die Marquise einweihen. Sie muss uns mit dem geheimnisvollen Baron bekannt machen!«

De Montalembert nickte halbherzig und hob grüßend die Hand, als die Kutsche langsam davonfuhr. De Batz! Was für ein seltsamer Name! Wie sollte dieser Unbekannte die Summen für eine solch weitgreifende Verschwörung aufbringen?

Amélie und die Botschaft des Medaillons

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