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Rettet die Königin!

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Als Amélie die Augen aufschlug, sah sie geradewegs in das braune, zerfurchte Gesicht des Sergeanten, der sich besorgt über sie beugte.

»Madame ... Sie sollten doch wirklich keine solchen Dummheiten machen und auf eigene Faust Erkundungsgänge unternehmen!«

Amélie wusste nicht, was sie antworten sollte. Ihr Kopf schmerzte, und sie ertastete eine leichte Beule unter ihren dichten, halb aufgelösten Haaren. Noch leicht betäubt glitten ihre Blicke über die dunklen, im flackernden Licht vor Nässe glänzenden Quadern des Vorraums, über die von rußenden Lampen erhellten Steinfliesen, die unter den Schritten des auf- und abgehenden Wachmanns hallten.

»Ich ... ich ...«, begann sie und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Die engen, düsteren Gänge des Gefängnisses, die modrige Luft, der verunstaltete Zwerg vor der Zelle Manons, mit dem sie plötzlich allein war, weil der Schließer mitsamt seiner Laterne verschwunden war! Die Gespenster der Vergangenheit, die unerwartet aus allen Ecken des Dunkels aufzutauchen schienen; ein blitzartiger Rückblick in die Zeit vor einem Jahr, als sie ihre Mutter in der schrecklichen Zelle leiden sah – all das war zu viel für sie gewesen, und es hatte längst verheilte Wunden wieder aufgerissen.

»Ich ... ich wollte nur ... Madame Roland besuchen, wie es mir gestern versprochen war. Sie sollte eine andere Unterkunft erhalten. Ich habe dafür bezahlt und außerdem eine schriftliche Besuchserlaubnis! Dieser grässliche Zwerg ... er hat verhindert, dass ich die Zelle betrete!«

»Welcher Zwerg?« Der Wachmann tat verwundert. »Sie haben geträumt, Gnädigste! Aber es ist wahr – man hat Madame Roland tatsächlich in eine bessere Zelle verlegt – ich habe mich selbst davon überzeugt!« Die Stimme des Sergeanten klang begütigend. »Glauben Sie mir! Dort bereitet sich die Angeklagte in Ruhe auf ihren Prozess vor. Sie möchte vorläufig niemanden empfangen.«

Erregt und mit schwindelndem Kopf richtete sich Amélie auf und rief empört aus: »Das ist nicht wahr! Ich muss zu ihr ... mit ihr sprechen! Es ist ungeheuer wichtig!«

Man konnte unschwer erkennen, wie Mitleid und Bedauern in der Brust des Soldaten miteinander stritten, doch er zog es vor zu schweigen.

Flehend sah Amélie bei einem letzten Versuch zu ihm auf: »Ein paar Worte nur – wenige Minuten – ich bitte Sie!«

Der Sergeant wand sich voller Unbehagen und stotterte verlegen: »Unmöglich. Im Augenblick ... ist es nicht ratsam. Die Wahrheit ist: Madame Rolands Gesundheit ist sehr in Anspruch genommen. Ein Nervenzusammenbruch. Wir mussten einen Arzt holen. Vor der Verhandlung wäre es nicht gut ... Sie verstehen, ein besonderer Befehl! Maßnahmen für sie selbst und zu ihrer eigenen Sicherheit ...«

»Das sind doch Ausflüchte! Ich bestehe darauf, sie zu sehen!«, schrie Amélie jetzt wütend. »Mein Mann ist Fabre d’Églantine, Mitglied des Sicherheitsausschusses, und ich werde ihm melden, wie man mich hier behandelt!«

Betretenes Schweigen und ausweichende Blicke bei der Nennung dieses Namens antworteten ihr und bestätigten ihre Ahnung, dass es vielleicht Fabre selbst gewesen war, der mit eigener Order ihren Besuch verhindert hatte! Die Zusammenhänge fügten sich plötzlich zu einem Bild. Fabre war die ganze Zeit über bekannt gewesen, dass Richard noch lebte, und er wollte um keinen Preis, dass sie mehr darüber erfuhr! Nur so hatte er sich seelenruhig Richards Vermögen bemächtigen und auch ihren, Amélies Besitz, eiskalt in die eigene Tasche stecken können. Fabre hatte sie nicht nur belogen, sondern auch versucht, alle verdächtigen Spuren zu verwischen! Sie begriff mit einem Mal sein ganzes durchtriebenes Spiel, dessen Ränke sie nur dunkel geahnt hatte.

»Dieser Schuft!«, murmelte sie kaum hörbar vor sich hin, während sie aufstand und ihre Kleidung ordnete. Wütend stieß sie den hilfreich dargebotenen Arm des Sergeanten von sich: »Ich möchte gehen. Lassen Sie mich bitte sofort hinaus, und – ich schwöre, Sie hören noch von mir!«

Der Sergeant verzog keine Miene. »Ganz wie Sie wünschen, Madame!«

Er gab dem Schließer, der mit den Schlüsseln rasselte, ein Zeichen und das große Eisentor öffnete sich vor Amélie mit einem abscheulichen Quietschen. Ihr schien, als ließe dieser Ton ihre Nerven bis zum Äußersten vibrieren und erst, als sie das dahinter liegende Portal durchschritt, wich der dumpfe Druck, der bis dahin auf ihrer Brust gelastet hatte.

Das Sonnenlicht, das nun höher durch die Kastanien fiel, blendete sie im ersten Moment, doch sogleich zog sie erleichtert den Hauch der mit Düften erfüllten Sommerbrise, der ihr nach der verpesteten Kerkerluft berauschend rein vorkam, tief in die Lungen. Nur zu gut erinnerte sie sich noch, wie schrecklich es war, Tag und Nacht in eine stinkende Zelle gesperrt zu sein!

»Madame?«, die Stimme des Portiers, der sich devot und mit sichtlich schlechtem Gewissen näherte, riss sie aus ihren Gedanken. »Sie ... haben doch ... äh ... nicht etwa gemeldet, dass ich es war, der Sie eingelassen hat? Ich könnte große Schwierigkeiten bekommen!«

»Nein, nein, es kam alles ganz anders. Niemand hat danach gefragt«, beschwichtigte Amélie den verstörten Mann, der hastig und verhalten weitersprach, sich nach allen Seiten umsehend.

»Ich sollte es Ihnen nicht verraten ... aber Ihr Gatte, der Abgeordnete d’Églantine war eben persönlich hier. Er fragte, ob mir eine elegante Dame aufgefallen sei – ich sagte, ich habe niemanden gesehen! Ich hoffe, es war ganz in Ihrem Sinne!«

Er wischte die Schweißperlen auf seiner Stirn kurzerhand mit dem Ärmel seiner Uniform ab und drängte sich dicht zu ihr, als warte er noch auf etwas. Vor dem unangenehmen Geruch, den er ausströmte, zurückweichend, trat Amélie so rasch auf die Straße zum Quai de l’Horloge, dass sie beinahe mit einem Trupp zerlumpter Wasserträger zusammenstieß, der mit seinen scheppernden Eimern auf einem Holzkarren des Weges kam, um seine nasse, schwere Last wie üblich aus der Seine in die obersten Stockwerke der Mietshäuser zu schleppen.

»Na, meine Schöne!«, mit einem anzüglichen Pfiff blieb einer von ihnen stehen und sah ihr nach, wie sie beherzt ihre Röcke hob und versuchte, auf Zehenspitzen mit den hinderlich gespitzten Absätzen ihrer Satinschuhe von einem der schmierigen und unebenen Pflastersteine zum anderen zu balancieren.

Amélie sah sich nicht um. Welche Ausrede sollte sie bloß für Fabre finden, der sie bereits gesucht hatte! Die Zeit war vergangen, und sie hatte rein gar nichts erreicht! Unzählige Kutschen drängten sich bereits in einem unübersehbaren Stau über die Pont Neuf auf die Île de la Cité, dem anderen Ufer zu. Bei jedem Schritt musste sie Acht geben, denn hinter ihr und vor ihr trieben die Kutscher mit dem Ruf »Gare! Gare!« ihre Gespanne rücksichtslos voran und manchmal rollte ein Wagenrad nur wenige Zentimeter an ihr vorüber. Doch es gab keinen anderen Weg vom Quai zur Place Dauphine, dort, wo sie in aller Vorsicht ausgestiegen war.

Auch der Platz, der am frühen Morgen bis auf die zerlumpten, in jeder Ecke schlafenden Obdachlosen so menschenleer und friedlich schien, hatte sich inzwischen ungemein belebt. Kleine Handelstreibende, die auf der vollbesetzten Pont au Change keinen Platz mehr fanden, wichen hierher aus und boten so ziemlich alles an, was man sich nur vorstellen konnte: Eiswasser, heißen Tee, zweifelhaftes Gebäck, übrig gebliebene Reste des Dîners von der Tafel der reichen Leute, Kleidung und Hüte aus Nachlässen. Dazwischen tummelten sich Gaukler, die unzählige Bälle auf einmal durch die Luft wirbeln ließen, während Milchmädchen und durchziehende Eisenwarenhändler lauthals zu den Häusern hinaufschrien, um ihre Ware anzupreisen. Bettler, die offene Hand ausgestreckt, umschlichen mit hungrigem und demütigem Blick das Getriebe und musterten die Vorbeigehenden. An einem Brunnen zankten und balgten sich ein paar schmutzige Gören um einen Apfel, während die Boutiquen ihre Auslage ins Freie stellten.

Amélie schenkte dem malerischen Bild, das sich ihren Augen darbot, wenig Aufmerksamkeit. Sie suchte verzweifelt nach dem Kutscher Marius auf seinem leichten Gespann, dem vertrauten, kleinen Cabriolet, das ihr allein zur Verfügung stand. Doch in der Ecke unter den dichten Kastanienbäumen, wo er auf sie warten sollte, hockte nur ein Bettler mit einer Augenbinde, seine Mütze vor sich im Staub. Amélie warf eine Münze hinein und blieb ratlos stehen. Was nun? Der Gedanke, in einer Mietsdroschke nach Hause zurückzukehren, machte ihr Angst – dort würde Fabre auf sie warten und sie zur Rede stellen. In seiner Wut konnte er maßlos sein, und sie fürchtete sich im Voraus vor einem Streit, einer jener schrecklichen Szenen, die er ihr manchmal wegen weit nichtiger Anlässe bereitete. Mit bangem Herzen schlenderte sie weiter an den Ständen vorbei, während ihr das Geschrei der Händler in den Ohren hallte. Ein zerlumpter Junge, um dessen Hals eine primitive Apfelreibe hing, auf der er saftige, rote Apfel zerkleinerte, die er dann mit einem Tuch auspresste, näherte sich und bot ihr aus einer Schale das trübe Getränk an.

»Frisch gepresst, Madame, reiner Apfelsaft.«

Amélies Kehle war trocken, und ein simples Hungergefühl krampfte beim Anblick der frischen Früchte ihr Inneres zusammen.

»Nein, danke«, winkte sie dann doch mit einem misstrauischen Blick auf das Tuch undefinierbarer Farbe, durch das er das Fruchtmark filterte, ab. Immer wieder sah sie sich um, ob das leichte Cabriolet mit Marius nicht doch erschiene. Schließlich blieb sie unschlüssig vor einem kunstvoll aufgestapelten Berg lockender, saftiger Orangen stehen.

»Frische Ernte aus Portugal!«, schrie der Verkäufer aus voller Kehle. »Gerade erst eingetroffen! Zuckersüß! Probieren Sie, Gnädigste!«

Als sie zögernd ein paar Schritte weiterging, lief er hinter ihr her und hielt ihr eine der leuchtenden, reifen Früchte, die einen balsamischen Duft ausströmte, unter die Nase. »Saftig und süß, ich schwöre es!«

»Wie viel – ich meine, für eine Einzige?«, fragte sie, halb überredet und schwach vor Verlangen, in das köstliche Fruchtfleisch zu beißen.

Der Verkäufer nannte mit Blick auf ihr elegantes Kleid einen Fantasiepreis; doch um ihn loszuwerden, drückte sie ihm ein paar Sous in die Hand. Aber wo sollte sie nur die Orange schälen und essen? Es war eine dumme Idee gewesen, sie zu kaufen. Eines der bettelnden Kinder hängte sich an ihren Rockzipfel, zerrte daran und schielte begierig nach der schönen Frucht, die sie in den Händen hielt. Ein anderes verstellte ihr den Weg, hüpfte vor ihr her und schrie ein über das andere Mal gellend:

»Schöne Madame, schöne Madame ...«

Ärgerlich versuchte sie, ihren mit einer kostbaren Bordüre besetzten Rocksaum aus den schmutzigen Kinderhänden zu befreien. Dabei fiel der weiße Spitzenschal, der ihre Schultern bedeckte, zu Boden, und die Orange rollte in die nächste Pfütze. Die beiden Kinder kreischten, als hätten sie nur darauf gewartet, fischten die Frucht im Handumdrehen heraus, packten den schönen Schal und sausten mit weiten Sprüngen, als wäre der Teufel hinter ihnen her, davon. Amélie klopfte kopfschüttelnd den Rock ab und besah den Schaden. Er war zum Glück nicht allzu schlimm, nur ein kleiner Riss und ein paar gelöste Fäden, die man leicht wieder reparieren konnte. Doch der verlorene Schal tat ihr leid – er war eines der Geschenke, die ihr Richard kurz nach der Hochzeit mitgebracht hatte.

Erst jetzt bemerkte sie, welches Aufsehen sie in ihrem violetten Seidenkleid erregte, mit dem für die Gelegenheit viel zu großzügigen, von zarten Rüschen und feiner Lochstickerei umsäumten Ausschnitt, zu dem ihr jetzt der schützende Schal fehlte. Sie zog verschämt die duftigen Puffärmel, an denen silberne Quasten baumelten, ein wenig höher über die Schultern, löste der Not gehorchend, die Bänder der breiten Taftschärpe um ihre Taille und raffte sie eng um die Schultern. Ihr kastanienbraunes Haar, das sich bei dem kleinen Unfall in der Conciergerie zu offener Fülle gelöst hatte, fiel ihr über den Nacken. In ihrer nachlässigen Aufmachung hielt man sie, wie sie unschwer an den sie streifenden Blicken der Männer erkennen konnte, für eine der Halbweltdamen, die ihr Frühstück so ganz im Vorübergehen an den Marktständen einnahm.

Sie wollte endlich nach Hause, egal, was sie dort erwartete! Entmutigt winkte sie einer Mietsdroschke, die gerade vorüberfuhr und nannte die Adresse der Rue des Capucines. Der Wagen setzte sich gemächlich in Gang und reihte sich in den lebhaft drängelnden Verkehr, der jetzt bereits herrschte, ein.

Hinter Amélies schmerzender Stirn drehten sich die Gedanken. War da nicht noch etwas gewesen, wovon Manon gesprochen hatte? Palais des Anges, dort kann man dir weiterhelfen, hatte sie gemurmelt, bevor der Wärter kam.

Das Palais des Anges war ein Spielsalon, bei dem es sich in Wahrheit um ein Bordell handelte. Amélie kannte seine Besitzerin, über die man in Paris hinter vorgehaltener Hand tuschelte, sogar sehr gut. Es war niemand anderer als die frühere Nachbarstochter von Schloss Pélissier, Cécile, die damals mit ihrem Hauslehrer nach Paris durchgebrannt war und später die Geliebte eines alten Lebemanns geworden war. Nach seinem Tod hatte sie ein Vermögen geerbt, mit dem sie mit dem Aufschwung der Revolution das »Palais des Anges« eröffnete. Amélie, die die schwatzhafte und oberflächliche Cécile eigentlich nie richtig gemocht hatte, war ihr in Paris nie begegnet, und sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass Cécile etwas von Richard wusste! Und doch ... Manon hatte ganz deutlich gesagt: »Geh zum Palais des Anges ...«

Zweifelnd verzog sie das Gesicht, während der Wagen mit monotonen Stößen an den Quais entlangrumpelte und nach einem kleinen Umweg über den Platz der Revolution in die Rue des Capucines einbog. Ihre Hand zitterte, als sie nach dem Geld für die Fahrt suchte, und sie zögerte, den Fuß aus der Kutsche zu setzen. Das Palais d’Églantine, wie es nun nach seinem Nachfolger hieß, sah mit seinen geschlossenen Fensterläden, den gemeißelten Statuen und den Masken von Freude und Schmerz über dem Portal so abweisend aus, dass sie immer mutloser wurde. Welche von Fabres unberechenbaren Launen und Wutausbrüchen erwarteten sie? Ihr Herz klopfte plötzlich bis zum Hals.

»Los!«, sie schloss die schon halb geöffnete Wagentür mit einem heftigen Ruck, beugte den Kopf aus dem Fenster und rief: »Weiterfahren – schnell!«

Der Mann auf dem Bock blieb gelassen, schnalzte und hieb kurz auf die Pferde ein, die sich schwerfällig wieder in Trott setzten. »Wohin also?«, grummelte er, sich gleichmütig umwendend. Diese Frauenzimmer! Wussten doch nie, was sie wirklich wollten. Na, wenn er sein Geld bekam, konnte es ihm ja egal sein. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.

Kurz entschlossen rief Amélie ihm zu: »Geradeaus! Fahren Sie erst einmal geradeaus!«

Immer wenn sie sich traurig oder verloren fühlte, konnte sie sich in früheren Zeiten nach Valfleur flüchten, um dort Trost zu finden. Aber seit ihrer Heirat mit Fabre waren das Schloss und die Ländereien sein Eigentum geworden, genauso wie das Palais in Paris. Wer wollte es jetzt noch wagen, ihm, Fabre d’Églantine, Dichter und Schöngeist, dem zum Konvent gewählten einflussreichen Mitglied des Sicherheitsausschusses, dem Intimfreund des mächtigen Danton, irgendetwas, das ihm gehörte, streitig zu machen?

Eine Träne kitzelte Amélies Wange. Sie wischte sie fort wie eine lästige, unangebrachte Gefühlsaufwallung, aber andere folgten, bis sie miteinander zu einem unhaltbaren Strom wurden, der unentwegt über ihre Wangen lief.

Sie schluchzte tief auf. Es war, als bräche alles, was sie bisher verdrängt hatte, aus ihrem Innern, um sie mit Ohnmacht und aufgestautem Zorn zu erfüllen. Doch dann nahm sie ihr Taschentuch und wischte sich energisch die Tränen ab. Es hatte keinen Sinn zu grübeln und sich selbst zu bedauern.

Sie tastete nach dem Medaillon um ihren Hals und ließ den Verschluss aufschnappen. Der Anblick Richards überflutete sie wie ein unerwarteter Sonnenstrahl. Sein Lächeln – so liebenswert –, seine Augen unendlich vertrauenswürdig! Sie starrte die farbige Miniatur mit Richards Porträt fragend an und murmelte leise: »Warum hast du mich allein gelassen?«

Seine stumme, gleichbleibend freundliche Miene gab keine Auskunft, nur das typische, ironische Heraufziehen der Mundwinkel, das ihm eigen war, kam ihr für einen Augenblick so vor, als mache er sich über sie lustig. Beschämt ließ sie das Medaillon sinken – wie konnte sie so etwas denken! Richard trug keine Schuld – wenn er wirklich dem Henker entkommen war, dann hatte er all seine Kräfte gebraucht, um zu überleben!

Am Place de Châtelet blieb der Kutscher stehen.

»Nun?«, fragte er, an seiner Pfeife kauend. »Haben Sie sich endlich entschlossen, wohin Sie wollen, Mademoiselle?

»Fahr ...«, begann Amélie und stockte verlegen, »fahr ... zum Palais des Anges!«

Der Mann auf dem Bock nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor er seinen Hut wieder aufsetzte.

»Aha, das Palais des Anges am Boulevard St. Martin!«, bestätigte er mit einem frechen Grinsen. Hatte er sich’s nicht gleich gedacht? Das war doch die Adresse der dicken Kurtisane Cecilia de Platier, die mit ihrem berüchtigten Spielsalon so viel Geld verdiente! Man munkelte viel über sie, und niemand wusste, ob der Adelstitel, den sie so hochtrabend führte, wirklich echt war und welcher Familie sie entstammte – aber so etwas war in diesen Zeiten schließlich gar nicht mehr wichtig.

Die Pferde zogen erneut an, und der Wagen setzte sich wieder in schaukelnde Bewegung.

Nach einem ausgedehnten Nachmittagsspaziergang langte die Marquise de Bréde außer Atem an der oberhalb des Leopoldbergs gelegenen Kirche an. Sie hielt Gabrielle, die kleine Enkelin ihres verstorbenen Mannes, fest an der Hand, doch das kleine blonde Mädchen, dessen blasse Wangen sich an der frischen Luft rot gefärbt hatten, riss sich los, lief über das kleine Wiesenstück, das hinter der Kirche lag und begann, die großen Margeriten, die dort in üppiger Fülle wuchsen, zu pflücken.

Madeleine beugte sich, immer noch ein wenig nach Luft schnappend, leicht über die Mauerbrüstung und schaute durch den flimmernden, blassvioletten Dunst des nur von leichten Wölkchen getrübten Tages auf die Stadt Wien herab, die malerisch zu ihren Füßen lag. Gestern hatte sie noch einmal den Grafen de Montalembert empfangen und ihm versprochen, ihn heute Abend mit dem alten Freund ihres Mannes, dem Baron de Batz bekannt zu machen. Sie konnte es immer noch kaum fassen, dass de Montalembert lebte! Doch diesmal hatte er ihr seine ganze Geschichte erzählt und berichtet, dass es ihm dank eines korrupten Beamten, der ihn bei einem fingierten Fluchtversuch zum Schein erschossen hatte, gelungen war, zu entkommen. Madeleine zweifelte daran, ob es ihm möglich sein würde, seine hochfliegenden Pläne zu verwirklichen. Es sah nicht so aus, als wäre es so leicht, die untergegangene Monarchie neu zu errichten, sein Vermögen wieder zu erlangen und vor allem, Amélie den besitzergreifenden Armen d’Églantines zu entreißen! Dieser Mann würde Amélie, solange er lebte, nie mehr frei geben!

Erhitzt öffnete sie den erstickend engen Kragen ihrer hochgeknöpften, schwarzen Seidenbluse und nahm den großen, federbesetzten Hut ab, um sich damit Luft zuzufächeln. Die schwarze Trauerkleidung beengte sie überall. Alphonse hätte gelacht, wenn er sie so gesehen hätte! Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Gabrielle winkte ihr von der kleinen Wiese zu.

»Ich binde einen Kranz für Großvaters Grab!«, rief sie voller Eifer.

Madeleine nickte und angezogen von dem märchenhaften Blick über die Stadt, in der sie nun schon geraume Zeit lebte, beugte sie sich noch tiefer über das Eisengitter der Brüstung. Die Hofburg leuchtete in der Ferne, der gotische Hochbau des Stephansdoms ragte in den Himmel empor, die barocken Kuppeln der unzähligen Kirchen schimmerten glänzend unter dem bläulichen Dunst des Sonnenlichts, in welchem die prächtigen Gärten und Parks um die Wette blühten. Doch dieser Anblick, der wie ein kostbares Kunstwerk wirkte, schien ihr heute wie brüchiges Bauwerk, ein Gespinst, das ein einziger Donnerschlag des Himmels zusammenbrechen lassen konnte. Was sollte all das wichtigtuerische, ameisenhafte Gewimmel von Krieg und Streit untereinander? War nicht alles flüchtig, geradezu sinnlos? Was blieb Alphonse nun von seinen diplomatischen Unterhandlungen mit Paris, seinem immensen Vermögen, das er nach Wien gerettet hatte?

Gabrielle kam mit einem dicken Strauß Margeriten angesprungen. »Hilfst du mir, sie zu binden?«, rief die Kleine.

Madeleine nickte lächelnd und mit geschickten Händen wanden sie gemeinsam die großen Blumenköpfe zu einem Kranz. Als das Werk vollendet war, blickte das Kind mit einem glücklichen Lächeln zu ihr auf.

»Nicht wahr, Großvater wird vom Himmel herabsehen und sich freuen? Wir werden es ihm gleich bringen!«

Madeleine nickte traurig mit enger Kehle, und die beiden machten sich langsam auf den Weg zum Zentralfriedhof. Die Zukunft, die so glatt und farblos vor ihr zu liegen schien, machte ihr plötzlich namenlose Angst.

Vom langen Spaziergang ermüdet, war Madeleine in ihr kühles Wiener Palais zurückgekehrt. Sie begab sich sogleich in die Bibliothek und setzte sich an den verwaisten Schreibtisch ihres Mannes. Im Halbdunkel blätterte sie zerstreut und mit unruhigen Händen in den Briefen und Dokumenten des Marquis; unschlüssig, was sie davon aufbewahren und vernichten sollte.

Es war beinahe neun Uhr, und sie erwartete außer dem Grafen de Montalembert auch einige andere Gäste zu einem späten Souper, Freunde ihres verstorbenen Mannes, die sie ihm vorstellen wollte. Allen voran war es der Baron de Batz, der de Montalembert so brennend interessierte.

Madeleine grübelte melancholisch, wie ihr Leben nun weitergehen sollte. Auf welche Weise konnte sie das Vermächtnis Alphonses verwalten? Das prunkvolle und erlesen eingerichtete Haus war riesig und schien ihr trotz der vielen Dienstboten leer; sie hatte kaum Freunde in der Stadt, in diesem fremden Land. Von der ungeheueren Korrespondenz ihres Mannes, seinen Kontakten mit den verbliebenen Royalisten und den Verbindungen, die er zwischen Frankreich und Österreich knüpfte und unterhielt, wollte sie lieber nichts wissen. Sie begnügte sich, mit gewohnter Bescheidenheit am Rande zu stehen und nach ihrer Art das Geschehen zu beobachten, nur ihre Meinung äußernd, wenn man sie danach fragte.

De Bréde, der sie mit den politischen Gräuelnachrichten aus Paris nicht belasten wollte, hatte wenig mit ihr über seine diplomatischen Missionen, die weit über das hinausgingen, was man einem gewöhnlichen Botschafter zumuten konnte, gesprochen. Dieses schreckliche Kapitel in Madeleines Leben blieb abgeschlossen, eine Tür war zugefallen; es schien etwas Gelebtes zu sein, was einer anderen Epoche angehörte. Von Amélie, ihrem einst heiß geliebten Schützling, hatte sie seit damals nichts mehr gehört. Ob sie glücklich mit dem Abgeordneten Fabre d’Églantine lebte, oder ob sie, wie de Montalembert hoffte, immer noch auf ihn wartete, wusste sie nicht. Ihr Herz klopfte unruhig.

»Madame, es ist aufgedeckt!«, die Stimme des Dieners riss sie aus ihren Gedanken. »Wenn Sie Silberteller statt des Porzellans wünschen ...«

»Nein, nein«, winkte Madeleine ab, erhob sich schwerfällig, ging ins Speisezimmer und ließ ihren Blick flüchtig über die festlich angerichtete Tafel schweifen. Fröstelnd zog sie den Seidenschal um ihre Schultern. Trotz der warmen Jahreszeit schien ihr das große Haus plötzlich kalt und öde, verlassen von demjenigen, der einzig und allein Wärme und Geborgenheit darin verbreitet hatte. »Lassen Sie im Salon und im Speisesaal ein Feuer anzünden!«, rief sie dem Bediensteten nach, während das Geräusch herbeirollender Fiaker und klappender Türen sie mit einem Gefühl neuer Schwermut erfüllte. Doch sie straffte die Schultern und begrüßte mit einem schwachen Lächeln den ersten Gast.

»Bonsoir, Jean-Pierre! Ich freue mich, dass Sie kommen konnten!«

Der Baron de Batz war eingetreten, ein schöner, hochgewachsener Mann, von erlesener Eleganz, der mit seinen noch nicht vierzig Jahren bereits ergraut war. Mit einem bedauernden Seufzer beugte er sich andeutungsweise über ihr Handgelenk.

»Meine liebe Madeleine – ich bin untröstlich! Ich kann den schrecklichen Verlust immer noch nicht begreifen. Er war so heiter, so sorglos ...«

Madeleine senkte die Lider. Sie war müde, und es schien ihr, als habe sie keine Tränen mehr, als sei der Neuanfang ihres Lebens gescheitert und sie als endgültiges Strandgut zerschmettert von den Stürmen des Lebens zurückgeblieben. Mit leiser Resignation begrüßte sie auch de Montalembert und den schwedischen Botschafter Graf von Fersen, die sie beide dem Baron de Batz vorstellte.

Langsam trafen auch die anderen Gäste, alte Freunde ihres Mannes ein und versammelten sich um den Kamin. General Dumouriez, der älteste Freund de Brédes, umarmte Madeleine herzlich, während ihm Tränen in die Augen traten. Der Chef der französischen Nordarmee, Sieger in vielen Schlachten, war in seinem Herzen immer Royalist geblieben und verachtete die Wichtigtuerei der Republikaner.

Einige Momente herrschte bedrückendes Schweigen, bis der General sich schließlich Luft machte.

»Verflixt und zugenäht! Ich habe die traurige Nachricht erst jetzt erfahren!«, und in soldatischer Ehrlichkeit brummte er leise, einen Blick zu Madeleine hinüberwerfend, die dem Diener gerade Anweisungen für die Speisenfolge erteilte: »Etwas Dümmeres hätte uns wirklich nicht passieren können. Das durchkreuzt all unsere Pläne.«

»Ja, wir müssen uns damit abfinden«, murmelte Baron de Batz mit brüchiger Stimme, »de Bréde ist tot und kann nichts mehr für uns tun!« Er nahm die schwarz umrandete Anzeige vom Tisch und tat, als betrachte er sie eingehend.

»Und wer ... kümmert sich nun um den Transfer der Geldmittel?«, warf der sonst so reservierte Bankier Ribbes ein, während er nervös sein Monokel dicht ans Auge hob und fragend in die Runde sah. Niemand antwortete, und Ribbes schüttelte ratlos den Kopf.

»Gibt es jemanden unter uns, der seine Position einnehmen kann?«

Die ungeduldige Frage General Dumouriez’ stand im Raum, aber niemand antwortete.

»Meine Herren«, der Geheimagent Aubier, ehemaliger Edelmann in Diensten des Königs ließ sich hören, »wir müssen den veränderten Tatsachen ins Gesicht sehen! Das Wichtigste sind doch unsere diplomatischen Beziehungen ...«, er senkte die Stimme, »ich meine, wie werden sich die Verhandlungen mit dem Konvent, besser gesagt mit Danton selbst, weiter gestalten? Niemand hat den Draht, die Vertrauensposition; weder zum österreichischen Kanzler noch zu den französischen Abgeordneten. Es gibt keinen vergleichbaren Diplomaten, der den Marquis de Bréde ersetzen könnte!«

Schweigen stand im Raum, jeder sah den anderen an, als könne er in dessen Augen die Antwort lesen. Madeleine hatte sich jetzt wieder zu den Männern gesellt und betrachtete ihr Weinglas ohne zu trinken. Im Spiegel der roten Flüssigkeit schien das Gesicht Alphonses aufzutauchen, der ihr zulächelte. Sie wandte den Blick ab, während ihr die immer bereiten Tränen in die Augen schössen. Ohne Anteilnahme lauschte sie der Unterhaltung mehr aus Höflichkeit, als aus Interesse.

Axel von Fersen begann als Erster: »Dann müssen wir eben den direkten Weg gehen. Wir alle wissen, dass Danton das ständige Blutvergießen beenden und die Revolution endlich mit einer stabilen Regierung abschließen möchte. Und es ist kein Geheimnis, dass unser Freund de Bréde mit Danton ein Abkommen geschlossen hat. Danton wird die Entführung der Königin begünstigen – aber nur dann, wenn man ihm im Fall des Misslingens nichts nachweisen kann!«

»Der gute Volksheld wird sich also in den Schatten ducken, in der Öffentlichkeit grob geben und abwarten, wie sich die Sache entwickelt.« Die Worte Aubiers, des Geheimagenten, klangen gedehnt. »Aber was verlangt er dafür?«

Der Bankier Ribbes mischte sich ein. »Es handelt sich um ein beträchtliches Lösegeld mit der Zusicherung, dass nichts davon an die Öffentlichkeit gerät.«

»Genauso ist es!«, bestätigte Dumouriez. »Also, dann führen Sie doch die Verhandlungen Ribbes! Für mich ist es unmöglich, ich habe bereits zu viel gewagt! Wir dürfen keine Minute mehr verlieren – wenn Sie mich fragen, dann muss die Königin den Republikanern jetzt mit Gewalt entrissen werden! Ich habe immer gesagt, die Aktion ›Ass-Karte‹ hätte schon längst gestartet werden müssen!«

»Ich erkläre mich gerne dazu bereit, gebe aber zu bedenken, dass mit dem Tod de Brédes leider auch unsere Geldquelle versiegt ist!« Die Feststellung des Bankiers klang leidenschaftslos und neutral.

»Und aus diesem Grund«, fiel de Batz ihm plötzlich entschlossen ins Wort, »werde ich es sein, der die finanzielle Seite übernimmt!«

Eine verblüffte Pause trat ein, in der alle schweigend de Batz ansahen.

»Sie? Ist das wirklich Ihr Ernst?«, platzte der Bankier heraus. »Es geht ja nicht nur um die Summe für Danton, sondern auch um Bestechungsgelder für den Gefängnisinspektor, die Gendarmen, von unzähligen anderen Ausgaben ganz zu schweigen!«

Skeptische Blicke trafen de Batz, der lakonisch antwortete. »Warum nicht? Bei Gott, diese Sache ist es wohl wert, sein Vermögen in die Waagschale zu werfen! Denken Sie nicht, meine Herren?«

Er sah sich herausfordernd um. »Und wenn mir jemand nachsagen würde, ich fälschte Assignaten, so würde er meine Faust spüren!« Er lachte mit blitzenden Augen und streckte den Arm angriffslustig aus.

»Ach so ist das ...«, Aubier begriff nur langsam, »Sie meinen ... Sie verfügten über«, er tauschte einen Blick mit dem Bankier, »gefälschtes Geld?« De Batz zog es vor zu schweigen.

»Schön und gut«, Dumouriez streifte den Baron mit einem kritischen Seitenblick, »aber wenn die Königin sich weigert! Sie muss natürlich mit einer Entführung einverstanden sein!« Resignierend senkte er den Blick. »Auch da können Sie mit mir und meiner Armee nicht mehr rechnen! Ich bin gebrandmarkt als Volks Verräter!«

»Genau wie ich – mein Steckbrief hängt überall«, das Gesicht von de Batz war ernst geworden, »aber das ist noch kein Grund aufzugeben. Warum sollten wir nicht jemanden finden – einen mit allen Wassern gewaschenen Teufelskerl, der ...«

»Ich ... ich könnte es machen«, es war die ruhige Stimme des Grafen de Montalembert, und alle wandten sich erstaunt nach ihm um, »schließlich bin ich ja für tot erklärt!«

»Aber die Königin kennt Sie nicht ...«, gab Graf von Fersen zu bedenken, »ich weiß, welche Vorbehalte sie hat. Es müsste ein Mensch sein, der ihr Vertrauen besitzt, der ihr bedingungslos ergeben ist!«

»Nun, und an wen dachten Sie dabei?«, gespannt beugte sich de Montalembert vor.

Von Fersen überlegte einen Augenblick, dann erhellte sich sein Gesicht. »Es gibt jemanden – den Chevalier de Rougeville! Die Königin hat ihm einmal aus der Patsche geholfen – seitdem betet er sie an.«

»Ausgerechnet dieser Rougeville?« De Montalembert runzelte die Stirn. »Man kennt ihn im Palais des Anges. Ein Abenteurer, der alles Mögliche anfängt – und sich im Untergrund von Paris versteckt hält!«

»Gerade deshalb könnte er der richtige Mann für uns sein!«, schmunzelte de Batz.

Aufgebrachtes Gemurmel erhob sich und übertönte alle weiteren Worte. Der Bankier winkte in seiner trockenen Art zur Ruhe.

»Es ist ein Risiko – aber wir müssen es eingehen! Wir haben also einen Geldgeber«, er sah de Batz an, »und nun müssen wir nur noch diesen Chevalier de Rougeville ausfindig machen und ihn für unseren Plan gewinnen! Stimmen wir ab – wer ist dafür, den letzten Schritt, die Aktion ›Ass-Karte‹, zu starten?«

Die Hände hoben sich, ohne Ausnahme.

De Batz winkte dem Diener, die Gläser neu einzuschenken und erhob als Erster sein Glas.

»Auf die Monarchie – auf das Leben der Königin!«

Die anderen fielen in den Trinkspruch ein, und de Montalembert und von Fersen prosteten sich mit neu geweckter Zuversicht zu.

Der Bann war gebrochen, und neue Hoffnung leuchtete aus den Gesichtern.

Wenig später öffnete sich die Tür zum kerzenerhellten Speisesaal.

»Meine Herren!«, der mühsam beherrschten Stimme der Marquise de Bréde und ihrer Blässe war unschwer anzumerken, wie sehr die Unterhaltung der Verschworenen sie erschüttert hatte. »Ich bitte zu Tisch!«

Während der gesamten Mahlzeit an der langen, mit kostbarem Silber geschmückten Tafel lächelte Madeleine mit versteinertem Ausdruck, nickte nach allen Seiten, ohne zu wissen, was sie sagte. Eine unbestimmte Sehnsucht, ein merkwürdiges Heimweh erfüllte ihr Herz, gemischt mit der Angst, in diesem prunkvollen Palais wie ein Möbelstück zu verstauben und einsam zu altern, ohne wirklich gelebt zu haben.

Ganz plötzlich und ohne dass sie vorher auch nur mit der Idee gespielt hatte, kam ihr ein aufrührerischer, ein beinahe unsinniger Gedanke. Was wäre, wenn sie selbst nach Frankreich zurückkehrte? Der Plan der Verschwörer klang so plausibel, so gut durchdacht, dass sie Lust verspürte, sich in irgendeiner Weise daran zu beteiligen. Alphonse hätte es vielleicht gebilligt, sie für einen solchen Entschluss sogar bewundert! Welch ein tollkühnes Vorhaben, die Königin zu entführen und damit die Monarchie wiederherzustellen! Wenn das gelang, dann nahm das Blutvergießen der Republikaner ein Ende, und alles würde sich zum Guten wenden.

Der Wunsch, ihr Land, Amélie und Valfleur, die Stätte, in der sie so lange gelebt hatte, noch einmal wieder zu sehen, stieg brennend in ihr auf und schien mit einem Mal ihr ganzes Wesen auszufüllen. Eines spürte sie mit Sicherheit: Hier in Wien, in ihrem ruhigen, gesicherten Palais würde sie sich ohne Alphonse niemals zu Hause fühlen!

Amélie und die Botschaft des Medaillons

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