Читать книгу Herz gegen Vernunft - Nora Wolff - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеDie Befehlskolonnen verschwimmen vor meinen Augen, als ich den Code erneut Zeile für Zeile durchgehe, um den Fehler zu finden. Schließlich nehme ich sogar wie ein Leseanfänger meinen Zeigefinger zu Hilfe, um nicht versehentlich eine Reihe zu überspringen.
Irgendwo habe ich etwas übersehen. Als ich vor einer Stunde die Darstellung auf meinem Handy kontrolliert habe, hat noch alles gepasst, aber seitdem hat sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen. Nur – wo, verdammt? Wenn ich ihn nicht finde, wird mich das die ganze Nacht lang verfolgen wie besonders nervige Retargeting-Werbeanzeigen.
Mein Kopf dröhnt. Okay. Kurze Pause.
Ich reibe mir mit beiden Händen über die vom langen Starren auf den Monitor müden Augen und lehne mich auf dem Stuhl zurück. Mein Rücken stöhnt erleichtert auf und erinnert mich daran, dass ich weniger Zeit zusammengekauert vor meinem Mac und mehr im Fitnessstudio verbringen sollte.
Oder draußen. Wo es zappenduster ist, wie ich mit einem verblüfften Blick zu den zahllosen Fenstern des Co-Working-Space feststelle. Auch an sämtlichen Arbeitsplätzen um mich herum ist das Licht aus und kein Mensch in Sicht. Nirgendwo bläst ein Laptoplüfter, kein Kaffeeautomat rattert, kein Handy klingelt. Niemand tippt, telefoniert, räuspert sich oder spielt an einem der drei Kickertische.
Mein eigener Atem klingt in meinen Ohren plötzlich so laut wie eine vorsintflutliche Klimaanlage.
Scheiße. Wie spät ist es?
21:56 leuchtet es mir vom oberen Bildschirmrand entgegen. Wow. Damit habe ich heute offiziell fast vierzehn Stunden gearbeitet – zum Nulltarif. Angesichts dessen, was ich mit meinen Qualifikationen auf dem freien Markt verdienen würde, würde mein Vater ausflippen. Vor allem, weil er mir dieses Gehalt bezahlen würde. Bezahlt hat.
Ich massiere mir die Schläfen, hinter denen es immer noch pocht. Gleichzeitig registriere ich das gewaltige Loch in meinem Bauch. Abgesehen von zu viel Kaffee und einem labberigen, abgepackten Sandwich aus dem Automaten in der Küche habe ich heute noch nichts gegessen.
Doch. Frühstück. Heute Morgen um sieben. Scheiße. Kein Wunder, dass ich Kopfschmerzen habe.
Neben mir auf dem Schreibtisch leuchtet das Display meines Handys in der Dunkelheit auf. Mit einer Hand massiere ich meinen steifen Nacken, mit der anderen greife ich nach dem Smartphone. Im Gegensatz zu vielen anderen im Co-Working-Space schalte ich es auf lautlos, sobald ich das Gebäude betrete, um selbst entscheiden zu können, wann ich meine Arbeit unterbreche.
Na ja, und weil ich ohnehin keine relevanten Anrufe erwarte.
Tatsächlich habe ich bloß ein paar Nachrichten im Familienchat erhalten. Anita möchte das sonntägliche Mittagessen von zwölf auf eins verschieben, da sie noch irgendwas für den Grundkurs Programmieren vorbereiten muss, den sie an der Volkshochschule gibt. Unsere Eltern sind einverstanden, also schicke auch ich eine kurze Zustimmung.
Die gerade eingetrudelte Nachricht stammt von Joscha.
Joscha, 21:59 Uhr
Hast du unseren Sundowner vergessen? Du kannst mich nicht mit Kev allein lassen. Stichwort: Ferrari.
Ich muss lächeln. Bei einem meiner Gänge zum Kaffeeautomaten bin ich Kev in die Arme gelaufen. Wenn er mir nicht zwanzig Minuten lang von dem Ferrari vorgeschwärmt hätte, den er sich gestern online konfiguriert und gekauft hat, hätte ich es heute sogar auf über vierzehn Arbeitsstunden geschafft. Offenbar ist seine Begeisterung noch nicht abgeklungen, wenn er nun Joscha damit zutextet.
Ein Ferrari.
Ich schüttle den Kopf. Gibt es da überhaupt ein Modell, das unter 200.000 Euro kostet? Die Vorstellung, so viel Geld für ein Auto auszugeben, ist absurd. Besonders, wenn man sich – wie ich – fragen muss, ob die monatliche Miete für den Co-Working-Space nicht besser eingespart werden sollte, für schlechte Zeiten.
Okay, für noch schlechtere Zeiten.
Schlechter, als kein Geld zu verdienen, würde bedeuten, Schulden zu machen. Noch kann ich von meinen Ersparnissen leben, aber sobald die aufgebraucht sind, habe ich ein Problem.
Das Handy in meiner Hand leuchtet erneut auf.
Joscha, 22:03 Uhr
Bist du überhaupt noch da?
Während ich aufstehe und nach meiner Jacke über der Stuhllehne greife, tippe ich eine kurze Antwort, dann fällt mein Blick auf den Code meiner App – auf den fehlerhaften Code. Ich zögere. Alles in mir sträubt sich bei dem Gedanken, ihn bis morgen unfertig liegen zu lassen. Aber wenn ich den Absprung jetzt nicht schaffe, sitze ich die ganze Nacht hier und kann den morgigen Tag komplett abschreiben.
Eine Pause wird mir guttun. Auf andere Gedanken kommen wird mir guttun.
Mein Magen knurrt wie ein halb verhungerter Wolf.
Etwas essen wird mir guttun.
Kurzerhand klappe ich den Mac zu. Morgen. Morgen ist auch noch ein Tag. Vielleicht sehe ich dann klarer und den Fehler schneller. Und immerhin ist die Miete für diesen Monat schon bezahlt.
Ich lasse den Mac auf dem Schreibtisch liegen und schiebe mein Handy auf dem Weg durch den Co-Working-Space in die Gesäßtasche.
Der große Raum mit den hohen Decken ist seit zwei Wochen mein neues Büro, obwohl er eher wie ein verwinkeltes Wohnzimmer aussieht. Überall wurden durch geschickt platzierte Pflanzen oder Möbel wie Regale oder Kommoden kleine Nischen geschaffen, in denen sich hübsch angeordnet Arbeitsplätze mit Schreib- und Stehtischen verbergen. In der Mitte befindet sich eine Sitzgruppe aus dunkelblauen Sofas und Sesseln für die kurze, kreative Auszeit zwischendurch. Vor dem Eingang rechts in einer nicht einsehbaren, etwas abgeschotteten Ecke stehen die Kickertische.
Neben dem Co-Working-Space mit flexiblen und fixen Arbeitsplätzen gibt es zwei Gemeinschaftsküchen, vier Kaffee- und Teeküchen, diverse Meetingräume jeder Größe, Art und Ausstattung, Einzelbüros und kleinere Co-Working-Offices.
Alles in allem sehr modern, trendy, hipstermäßig und das genaue Gegenteil von den vollgestopften, beengten Büroräumen, in denen mein Vater seit Jahrzehnten residiert.
Trotzdem ein Luxus, den ich mir eigentlich nicht leisten kann. Der Esstisch in meiner Wohnung kostet nichts, abgesehen von der Miete, die ich sowieso zahle. Aber es wirkt zweifellos professioneller, wenn ich morgens zum Arbeiten das Haus verlasse und so etwas wie eine Bürogemeinschaft um mich herum habe, anstatt den ganzen Tag in Jogginghose in den eigenen vier Wänden zu sitzen.
Als ich an der Sitzgruppe in der Mitte vorbeigehe, fallen mir auf dem Couchtisch eine Handvoll neongelber Flyer auf, einerseits wegen der schaurigen Fotos, andererseits wegen der abgebildeten Pizza, auf die mein ausgehungerter Magen sofort anspringt. Dankenswerterweise ist die grauenvolle, knallrote Comic Sans-Schrift so über die Fotos geklatscht, dass sie das meiste verdeckt und trotzdem das Wichtigste verkündet: Lieferung bis 24:00 Uhr und eine Telefonnummer. Dazwischen espressobraune Augen.
Hm?
Ich blinzle und sehe noch mal genauer hin. Auf dem Roller mit Warmhaltetransportbox für die Pizzen sitzt ein junger Mann, der dank der schlechten Bildqualität und des Helms mit Werbeaufdruck nur unzureichend zu erkennen ist. Selbst das Gesicht wirkt verzerrt. Die Augen scheinen dunkel zu sein, aber ob nun espressobraun oder anders braun – schwer zu sagen.
Und völlig irrelevant.
Trotzdem stecke ich den Flyer ein. Die lange Öffnungszeit ist zu verlockend. Dann laufe ich endlich die Treppe zur Dachterrasse hoch.