Читать книгу Herz gegen Vernunft - Nora Wolff - Страница 8
Kapitel 4
Оглавление»Ich meine, wenn ich schon das Geld in die Hand nehme und so einen Kurs besuche, dann lasse ich doch das Handy in der Tasche oder schaue zumindest nicht die ganze Zeit drauf.« Anita nimmt sich noch eine Scheibe vom Schweinebraten.
»Du bekommst das Geld für den Kurs im Voraus, oder?« Mein Vater verzichtet auf ein weiteres Stück Fleisch, nimmt sich stattdessen noch einen Kartoffelknödel und ertränkt ihn in Soße.
»Natürlich. Aber es geht ums Prinzip. Wenn ich meine Freizeit schon dafür opfere, anderen etwas beizubringen, sollen sie mir gefälligst auch zuhören und nicht Candy Crush spielen oder chatten oder was weiß ich.«
»Dann opfere deine Freizeit nicht für einen nutzlosen VHS-Kurs. Wir haben in der Firma weiß Gott genug zu tun.« Er sieht mich mit einem bezeichnenden Blick an. »Oder sieht dein Bruder endlich ein, dass er sich in einer fixen Idee verrannt hat?«
Ich seufze und werfe einen unauffälligen Blick auf die Uhr an der Wand. Ganze dreizehn Minuten hat er es geschafft, das Thema nicht anzusprechen. Das ist fast ein neuer Rekord, nur übertroffen von den siebzehn Minuten vorletzte Woche.
»Es ist keine fixe Idee.«
»Natürlich ist es das. Hör endlich auf, dir was vorzumachen, und komm zurück. Auf deinem Schreibtisch stapelt sich die Arbeit.«
Das bezweifle ich nicht. Solange der Kunde zahlt, nimmt mein Vater jeden Auftrag an. Von Frau Schmidt, die sich beim Öffnen eines unbekannten E-Mail-Anhangs einen Trojaner eingefangen hat, über Herrn Müller, der beim Onlinekauf einer Software in eine Abofalle getappt ist, bis hin zu Buchhalter Hauser, der einer gefakten Aktualisierung aufgesessen ist und das Firmennetzwerk seines mittelständischen Unternehmens mit einem Virus verseucht hat.
»Ist das nicht langweilig?«, höre ich die angenehme Stimme des Pizzaboten in meinem Kopf.
Oh Gott, ja, und wie.
Es war nicht nur der Wunsch, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen und mich aus dem Familienunternehmen – allen voran von meinem Vater – zu lösen, der mich in die Selbstständigkeit geführt hat.
Es war auch der Versuch, nicht vor Langeweile zu sterben.
In der Hoffnung auf einen Themenwechsel wende ich mich an meine Mutter. Mit den blonden Haaren und den blau-grauen Augen sehe ich ihr deutlich ähnlicher als unserem Vater. Bei Anita ist es genau umgekehrt.
»Das Essen schmeckt heute wirklich gut. Viel besser als letzte Woche. Wo hast du es her?«
Unsere Mutter hat nie besonders gut oder gerne gekocht und ihre Bemühungen komplett eingestellt, als Anita und ich ausgezogen sind. Unseren Vater hätte nicht mal die Aussicht auf lebenslang kostenlosen Onlinespeicher an den Herd gelockt. Trotzdem halten sie an dem sonntäglichen Familienessen fest, auch wenn es sich für mich gerade zunehmend nach einem Überwachungstool anfühlt.
»Aus der Goldenen Gans am Ende der Straße. Gute, bodenständige Küche. Man kann eine Wunschabholzeit vereinbaren, wenn man früh genug bestellt.«
»Falls es irgendwann mal besser passt, weißt du ja, wo du Pizza bestellen musst.«
Sein freches Grinsen vor meinem geistigen Auge versuche ich schnell zu verdrängen – nicht zum ersten Mal seit unserer nächtlichen Begegnung. Der sexy Pizzabote hat sich in meinem Kopf festgesetzt wie ein besonders hartnäckiger Cookie in einem Browser, den man mit den üblichen Hilfsmitteln nicht wieder loswird.
Ein sehr verführerischer Cookie. Lecker, knusprig, süß. Vor allem, weil sein Interesse an mir wohl tatsächlich aufrichtig gewesen ist. Gleich am nächsten Tag habe ich nämlich Kev geradeheraus gefragt, ob er ihn bezahlt hat – und schnaubendes Gelächter dafür geerntet.
»Wie bitte, was?« Kev hat sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel gewischt. »Wie zum Teufel kommst du auf so einen Schwachsinn? Dafür ist mir meine Kohle echt zu schade. Ich bin doch kein Zuhälter. Sekunde.« Verblüfft hat er mich angeblinzelt. »Der Hottie hätte mit dir gevögelt und du hast abgelehnt? Mann, Anton. Dir ist echt nicht mehr zu helfen.«
Das Schlimme ist: Je länger mir der Pizzabote im Kopf herumspukt, desto mehr muss ich Kev zustimmen. Was hätte ich zu verlieren gehabt? An diesem Abend habe ich eh kaum noch was geschafft, sondern nur meine Pizza gegessen. Und den verdammten Fehler im Code habe ich auch erst am Morgen danach gefunden.
Eine halbe Stunde Auszeit. Hoffentlich ein Orgasmus. Vielleicht sogar Spaß. Etwas abschalten. Was wäre schon dabei gewesen?
»Anton!«
Mit einem Ruck sitze ich wieder mit meiner Familie am Esstisch, statt mir vorzustellen, wie ich noch mal bei Tonis Trattoria anrufe und die Spezialpizza bestelle. Wer weiß schon, ob derselbe Mann die Auslieferung fahren würde? Ob er noch Lust hätte?
»Siehst du!« Anita zeigt auf mich wie auf die Musterlösung einer schwierigen Programmieraufgabe. »Genau so was meine ich. Es ist frustrierend, wenn man sich den Mund fusselig redet und niemand hört einem zu.«
»Ich höre zu.« Ich sehe meinen Vater wieder an, der streng die Augenbrauen zusammengezogen hat. »Ich war nur gerade... Was hast du gesagt?«
»Wenn du bei deiner App auch die ganze Zeit Löcher in die Luft starrst, wundert es mich nicht, dass du nicht vorankommst. Du hast nach der Uni noch nicht mal ein volles Jahr bei mir gearbeitet. Dir fehlt die Disziplin für eine Selbstständigkeit.«
Dass ich es kein ganzes Jahr bei ihm ausgehalten habe, hat nicht an mangelnder Disziplin gelegen, sondern neben den eintönigen Aufgaben vor allem an seiner Art. So, wie er alles kontrolliert und überwacht, könnte er genauso gut Roboter anstellen.
»Ich komme voran. Und ich arbeite sehr hart und diszipliniert an meiner App. Du kannst meinen Schreibtisch also gerne neu besetzen.«
Mein Vater schnaubt und verschränkt die Arme vor der Brust. »Dein Schreibtisch wartet auf dich, bis du wieder zurück bist. Die Arbeit darauf übrigens auch und die wird in der Zeit nicht weniger.«
Es macht mich wahnsinnig, dass er die ganze Zeit redet, als würde ich nächste Woche wieder bei ihm anfangen. Trotzdem versuche ich, ruhig zu bleiben. »Ich komme nicht zurück. Wenn meine App –«
»Deine App, deine App.« Mein Vater wirft die Hände in die Luft. »Das ist alles, was ich höre, aber du hast nichts Konkretes. Keinen Namen, kein Konzept, kein Design, keinen Code –«
»Ich arbeite am Code«, unterbreche ich ihn mit etwas mehr Nachdruck. Allmählich geht mir dieses Thema an die Substanz. »Und an allem anderen. Außerdem habe ich ein Büro. Ich verlasse jeden Morgen genau wie ihr das Haus und komme abends erst spät nachts heim.«
»Nun ja«, sagt meine Mutter, die sich für gewöhnlich aus der Diskussion mit meinem Vater heraushält, grundsätzlich jedoch dieselbe Meinung wie er vertritt. Kein Wunder, schließlich ist sie genau wie Anita tief mit der Firma verbunden und arbeitet genauso viel wie mein Vater. »Ein Büro zu haben, hat nichts mit einer App zu tun. Ist das nicht so ein Co-Working-Space, wo du dich eingemietet hast?«
»Nichts Halbes und nichts Ganzes«, brummt mein Vater.
»Ob nun Co-Working-Space oder nicht, ich arbeite trotzdem.« Derzeit wahrscheinlich sogar mehr als sie alle drei zusammen.
»Für lau. Bei mir bekommst du nicht nur ein anständiges Gehalt, sondern auch sämtliche Überstunden und Wochenendarbeit bezahlt. Also sei nicht so stur und komm zurück.«
»Nein.«
Mein Vater haut so kräftig auf den Tisch, dass das Geschirr scheppert. »Herrgott, Anton, sei doch nicht so –«
»Was genau soll deine App denn machen? Irgendeinen Plan musst du ja haben.«
Ich sehe Anita an, unsicher, ob sie mir mit dem Einwurf helfen oder mich nur weiter vorführen will.
Sie ist fünf Jahre älter als ich, aber eigentlich haben wir uns immer gut verstanden, bis sie mit sechzehn angefangen hat, ab und zu in der Firma auszuhelfen. Danach ist sie immer verbissener geworden, kämpferischer, besserwisserischer – fast so wie unser Vater. Früher wäre das eine Beleidigung für sie gewesen. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher.
»Natürlich habe ich einen Plan.«
Auffordernd hebt sie die Augenbrauen. »Super. Schieß los. Wir sind ganz Ohr. Vielleicht können wir dich unterstützen.«
Mein Vater schüttelt schnaufend den Kopf und fängt an, die Teller zu stapeln, da ohnehin niemand mehr isst.
»Die App soll auf den Social-Media-Plattformen beim Fotodesign helfen. Templates, kleine animierte How-To-Videos für Neulinge –«
»Nicht schon wieder der Fotoquatsch!« Anklagend deutet er auf meine Mutter. »Daran ist nur deine Schwester schuld. Wenn sie ihm damals nicht diese Kamera geschenkt hätte...!«
Abwehrend hebt sie die Hände. »Sie hat das nicht mit mir abgesprochen. Du weißt doch, wie sie ist, wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hat.«
»Oh ja. Völlig unzurechnungsfähig, genauso wie die Sache mit diesem Amerikaner, mit dem sie mal eben über den großen Teich gehüpft ist, nachdem sie hier alles hat stehen und liegen lassen.«
Kopfschüttelnd stellt er die gestapelten Teller auf die Servierplatte mit den Resten des Schweinebratens. Meine Eltern sind der Meinung, dass man nicht aus Pappschachteln essen muss, nur weil das Essen geliefert wird. Sogar im Büro füllen sie das Essen um, sehr zur Belustigung des ein oder anderen Mitarbeiters.
»Eine Fotodesign-App.« Mein Vater schnaubt wie ein Rottweiler, der statt seines Lieblingsfutters Schonkost serviert bekommt. »So was braucht kein Mensch. Jedes Handy macht heutzutage perfekte Fotos, dazu all die mitgelieferten Filter... Das ist die reinste Zeit- und Geldverschwendung!« Dieses Mal ist sein Finger auf mich gerichtet. »Zeit und Geld, die ich in dich investiert habe, damit du bei mir arbeitest.«
Ich öffne gerade den Mund, um etwas darauf zu erwidern, als Anita fragt: »Und diese App willst du verkaufen?«
Weil ich eh schon im Antwortmodus bin, sage ich, ohne nachzudenken: »Eigentlich will ich sie kostenlos zur Verfügung stellen und In-App-Käufe –«
»Kostenlos! Kostenlos?!«
»Bert, bitte.«
»Wie zum Donnerwetter noch mal willst du davon leben, wenn du deine Arbeit kostenlos...! Für so einen Quatsch habe ich nicht dein Studium finanziert!« Er schnappt nach Luft. Sein Gesicht ist vor Zorn krebsrot angelaufen.
Derartige Ausbrüche hat er seit meiner Kündigung regelmäßig, sonst würde mich seine Gesichtsfarbe vielleicht beunruhigen. Tatsache ist jedoch, dass wir dieses Gespräch in abgewandelter Form und abzüglich genauer Details zur App schon so oft geführt haben, dass ich beinahe vorhersehen kann, wann welche Äußerung kommt.
Anfangs hat mich jeder Streit in eine tiefe Krise gestürzt. Ich habe so sehr an mir gezweifelt, dass ich schon zweimal kurz davor war, alles hinzuschmeißen. Keine Ahnung, ob ich dann wieder für ihn gearbeitet oder mir etwas anderes gesucht hätte. Hauptsache, ich hätte wieder etwas gemacht, das seine Zustimmung findet und diese elenden Reibereien beendet.
Aber ich habe durchgehalten – bis jetzt zumindest. Ich weiß, dass weder mein Vater noch meine Mutter oder meine Schwester viel von Fotografie halten, aber mir bedeutet sie etwas. Allein schon, um ihnen allen zu beweisen, dass es eben kein Hirngespinst ist, mit dem ich mich seit zwei Wochen beschäftige, muss ich eine perfekte App launchen, die auf zahlreiche begeisterte Abnehmer stößt.
Alles andere ist inakzeptabel.
»Sie ist ja nicht ganz kostenlos. Nur die Basis-Funktionen. Solche Modelle gibt es oft in den App-Stores. Das ist bekannt und akzeptiert.«
Mein Vater macht eine wegwerfende Handbewegung, steht abrupt auf, schnappt sich das gestapelte Geschirr und marschiert ohne ein weiteres Wort in die Küche.
Okay. Am besten launche ich eine perfekte App, die innerhalb der ersten Stunde nach Veröffentlichung unter den Top 3 Downloads landet und dort auch ein paar Monate bleibt. Oder Jahre.
Kinderspiel.
»Meinst du so was hier?«
Ich habe nicht mitbekommen, dass Anita mit ihrem Handy herumhantiert hat, aber jetzt hält sie es mir über den Esstisch hinweg unter die Nase. Sie hat eine bekannte Design-App abgerufen, die mein größter Konkurrent werden wird.
»Genau.«
»Hm.« Sie schürzt die Lippen und zieht den Arm zurück. »Das war nur der Toptreffer. Dir ist schon klar, dass es ungefähr tausend von diesen Design-Apps gibt?«
Meine Mutter sieht mich schockiert an. »Hast du im Vorfeld etwa keine Marktanalyse gemacht?«
»Doch, natürlich. Und es sind keine tausend. Die meisten sind außerdem ziemlich schlecht.«
»Und deine nicht?«
Ich werfe Anita einen vernichtenden Blick zu. »Meine nicht, nein.«
Sie tippt und wischt auf ihrem Handy herum. »Für mich sehen die alle ziemlich gleich aus. Allein letzte Woche sind zwei neue Apps dieser Kategorie dazugekommen.«
Ich stutze. Gleich zwei? »Aha?«
»Wow, die sieht hübsch aus. fotogramma. Aufsteiger der Woche. Oh, wie cool. Es gibt sogar animierte Video-Tutorials.« Sie grinst ihr Display an, weil die Videos wohl sehr lustig aussehen, während sich mein Magen verkrampft. Dann blickt sie mich über das Handy hinweg an. »Hast du nicht gerade gesagt, dass du so was auch machen willst? Da ist dir wohl jemand zuvorgekommen.« Sie hält mir das Gerät wieder hin.
Ich schlucke. Die letzten Sekunden eines Videos laufen noch. Eine kleine Maus mit Baskenmütze und Pinsel in der Hand beendet eine Erklärung mit einem Pinselstrich, der die Kameralinse voll kleckst. Oh Scheiße. Das ist echt niedlich.
Auch das Design sieht gut aus. Verspielt genug, um sich gegenüber dem Marktführer abzugrenzen, aber clean genug, um trotzdem professionell zu wirken. Mit anderen Worten: perfekt. Dagegen versprühen meine stümperhaften Versuche den Charme einer Kinder-Wachsmalkritzelei.
Ich zucke zusammen, als meine Mutter mir unerwartet sanft eine Hand auf den Arm legt. Sie ist nie der fürsorgliche Typ gewesen. Trösten oder einfühlsame Gespräche führen liegen ihr nicht so sehr wie analytische Hilfestellung bei Hausaufgaben oder das Aufstellen von nüchternen Pro-und-Contra-Listen.
Das bedeutet, dass ich noch geschockter und niedergeschlagener aussehen muss, als ich mich fühle.
Sie wirft einen Blick zur Küchentür, hinter der mein Vater geräuschvoll die Spülmaschine einräumt. »Auch wenn dein Vater es etwas ungeschickt ausgedrückt hat: Wenn du deinen Fehler eingesehen hast, kannst du jederzeit an deinen Schreibtisch zurückkommen. Ich helfe dir auch bei der Arbeit, die sich bis dahin angesammelt hat, versprochen.«
Ich lächle gequält. Auch wenn sie es zweifellos nett meint, sind das nicht die Worte, die ich von ihr hören will.