Читать книгу Herz gegen Vernunft - Nora Wolff - Страница 9

Kapitel 5

Оглавление

»Das ist schon die zweite Woche.«

Verwirrt sehe ich auf, muss jedoch ein paarmal blinzeln und warten, bis sich meine Augen vom hellen Mac-Bildschirm auf den dunklen Co-Working-Space umgestellt haben. Draußen vor den Fenstern ist es genauso stockfinster.

Joscha steht in seiner Lederjacke vor meinem Schreibtisch und ist offensichtlich auf dem Sprung. Keine Ahnung, wann die anderen Co-Worker gegangen sind. Irgendwo höre ich es noch leise tippen, aber da ich kein Licht brennen sehe, muss der Workaholic wie ich in einer der abgeschirmten Nischen sitzen.

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Das ist schon die zweite Woche, die du bis weit nach acht arbeitest. Wenn das so weitergeht, weißt du irgendwann nicht mehr, wie Tageslicht aussieht.«

Ich lächle schief. »Die Sonne geht gerade auf, wenn ich morgens das Haus verlasse. Zählt das?«

Joscha lächelt nicht. »Im Ernst, Anton. Das ist nicht gesund. Gönn dir mal eine Pause.«

Eine Pause? So kurz vor dem Launch? Ich muss nur noch zwei, drei Stellschrauben justieren und mir ein witziges Gimmick für die Tutorials ausdenken. Irgendwas, das nicht nach einem Klon von fotogramma aussieht, der App, auf die Anita vorletzten Sonntag gestoßen ist. Eine App, die in den letzten zwei Wochen massive Downloadzahlen generiert hat.

Das hätte meine Erfolgsgeschichte sein sollen. Aber ich war zu langsam und jetzt ist es zu spät. Also brauche ich etwas Besseres. Ich weiß zwar noch nicht, was, aber jetzt reicht es nicht mehr, eine hübsche, funktionstüchtige App auf den Markt zu bringen. Jetzt brauche ich irgendwas mit Wumms, sonst kann ich einpacken – im wahrsten Sinne des Wortes, denn dann werde ich demnächst an einem anderen Schreibtisch sitzen und wieder für jemand anderes arbeiten.

»Anton.«

»Was?« Ich sehe auf. Joscha hat die Hände auf den Schreibtisch gestützt und sieht mich besorgt an. »Ja?«

»Geh nach Hause. Du bist echt durch.«

Ich linse zur Uhr auf meinem Bildschirm. »Sagt derjenige, der selbst noch um halb zehn hier ist.«

Joscha richtet sich wieder auf. »Ich hatte noch ein Gespräch mit Robert.«

»Ein Gespräch oder ein Gespräch?«

Er verdreht die Augen. »Fang du nicht auch noch an. Mir reichen schon Kevs Anspielungen.«

»Na ja, in einem Punkt hat er recht: Robert ist heiß.«

»Ich bin froh, dass dir das noch auffällt. Das macht mir Hoffnung für deine Zukunft.«

Und plötzlich taucht wieder der Pizzabote in meinem Kopf auf, obwohl er Robert absolut nicht ähnlich sieht. Ein schwaches Flattern steigt in meiner Brust auf, das seinen Ursprung jedoch deutlich weiter unten hat.

»Ich habe beim Reingehen die Sofas gesehen... Wenn's dir ähnlich geht, könnten wir uns einfach rübersetzen und...«

Gott, allein seine Stimme in meiner Erinnerung klingt nach purer Versuchung. Hat sie das in Wirklichkeit auch oder bauscht meine Einbildung das bloß auf?

Erst als Joscha sich räuspert, merke ich, dass ich offenbar schon wieder ins Leere gestarrt habe, während sich in meiner Fantasie der Anfang eines Pornos abgespielt hat. Der Pizzabote und der Workaholic. Pizza, Sex und Espresso auf der Sofalandschaft. Ausgeliefert und heiß vernascht.

Oh Gott. Ich reibe mir übers Gesicht. Mein Hirn ist Matsch.

»Du kannst ja kaum noch geradeaus gucken. Geh nach Hause«, wiederholt Joscha. »Und bleib da. Mindestens achtundvierzig Stunden. Manchmal hilft etwas Abstand und sich abzulenken. Gerade steckst du so tief drin, dass du die Einsen vor lauter Nullen nicht siehst.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. Der Vergleich ist gut, auch wenn es bei meinem Projekt um ein bisschen mehr als ein paar Einsen und Nullen geht.

»Ich mach hier nur noch was fertig. Dann gehe ich.«

Joscha sieht nicht überzeugt aus, aber er sagt nichts weiter dazu, verabschiedet sich und verschwindet durch den dunklen Co-Working-Space Richtung Ausgang. Das leise Tippen, das ich eben noch gehört habe, ist inzwischen verstummt.

Wieder mal der Letzte. Yay. Gibt's dafür auch eine Plakette im Stil vom Mitarbeiter des Monats?

Ich reibe mir die brennenden Augen und will mich wieder auf den Bildschirm konzentrieren, der mir aber plötzlich viel heller als noch vor ein paar Minuten vorkommt. Das Licht scheint sich durch die Netzhaut direkt in mein Gehirn zu brennen und dort ein paar Nervenzellen abzuschießen.

Ich schließe die Augen und wende kurz das Gesicht ab, ehe ich es erneut versuche.

Gleiches Ergebnis.

Scheiße. Vielleicht brauche ich wirklich eine kurze Pause.

Oder einen Kaffee.

Einen Espresso.

Genau. Lassen wir doch die Arbeit Arbeit sein, um zu vögeln.

Wenn ich Kev in den letzten Tagen nicht höchstens mal kurz am Kaffeeautomaten getroffen hätte, würde ich glatt sagen, dass ich zu viel Zeit mit ihm verbringe. Dabei habe ich diese Woche sogar unseren Sundowner auf der Dachterrasse ausfallen lassen. Kev und Joscha sind noch zu mir an den Schreibtisch gekommen, um mich zu überreden, aber da habe ich gerade mitten in einer Brainstormingphase für meine Tutorials gesteckt.

Die zu nichts geführt hat. Leider. Alles, was mir eingefallen ist, gibt es entweder schon in anderen, weniger bekannten Apps oder wird gerade von den Usern von fotogramma hart gefeiert.

Sehr frustrierend, zumal ich mich nach dem Brainstorming gefühlt habe wie eine Batterie, die ihre letzten Reserven mobilisiert, um die Taschenlampe zumindest schwach zum Leuchten zu bringen. Zu dumm, dass wirklich so gar nichts Brauchbares dabei war.

Vielleicht hat Joscha recht und ich brauche etwas Abstand, um besagte Batterie wieder aufzuladen.

Mein Magen knurrt so laut, dass es in der Stille des Co-Working-Space deutlich zu hören ist.

Möglicherweise brauche ich auch nur was zu essen. Mit leerem Magen kann niemand gut denken.

Ich nehme mein Handy vom Notizenstapel rechts neben mir, um Lieferando aufzurufen, als mir die Ecke eines grellgelben Flyers ins Auge springt, der unter dem Stapel hervorlugt. Ich zögere, dann ziehe ich mit der freien Hand den Flyer heraus.

Tonis Trattoria. Hm. Seit der besonderen Begegnung mit dem Pizzaboten hatte ich keine Pizza mehr. Dabei hat sie gut geschmeckt – toller, krosser Rand und genau die richtige Menge Käse, die den Belag nicht unter einer zentimeterdicken Schicht begräbt. Allein beim Gedanken daran läuft mir das Wasser im Mund zusammen.

Wirklich? Du fängst wegen der Pizza an zu sabbern?

Und wenn schon. Es war nett, dass mal wieder jemand mit mir geflirtet hat. Dass jemand sexuelles Interesse an mir gezeigt hat – auch wenn es mich ein bisschen überfordert hat. Ist doch nichts Verwerfliches, dass ich mich begehrt fühlen möchte – oder?

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, tippe ich die abgedruckte Telefonnummer ins Handy, die mir das System schon nach wenigen Ziffern vorschlägt. Zuletzt vor dreizehn Tagen gewählt.

Na, wenn das kein Zeichen ist. Wahrscheinlich arbeitet der Fahrer vom letzten Mal heute gar nicht.

Herz gegen Vernunft

Подняться наверх