Читать книгу Sperlings Suche nach dem Lachen - Norbert Aschenbrenner - Страница 10

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Milde Luft, trübes Licht und Regen im Dezember. Beste Voraussetzungen, dem Trübsinn freien Lauf zu lassen, dachte Arno. Dazu passend, die verschnupft klingende Stimme des Rundfunksprechers beim Herunterbeten der Frühnachrichten. Ein neuer Tag, doch die Liste der Traurigkeiten hatte sich nur um Nuancen gegenüber dem Vortag verändert. Während Arno lustlos die Milch in seinem Kaffee umrührte, wachten in Bosnien zahllose Kinder nicht auf, weil ihnen Frost und Hunger das bisschen Leben, das sie gestern noch hatten, über Nacht aus den Leibern gezehrt hatte. Und gerade jetzt, die Morgengeilheit nutzend, wurden moslemische Frauen von den Helden der großserbischen Herrenrasse systematisch vergewaltigt. Sperma als Waffe, während hierzulande die Orgasmuskurve der Regierung nach dem Vereinigungsakt der Deutschen jäh abfiel. Plötzlich jonglierten die vereinten West- und Ostwendehälse mit unvorstellbaren Zahlen und kündigten »Maßnahmen zur Profilierung des Standortes Deutschland« an.

»Scheiße«, murmelte er. »Jetzt proben sie den Klassenkampf von oben.«

Renate sah ihn verärgert an. Sie trank im Stehen ihren Kaffee und huschte danach ins Badezimmer, um mit Zahnbürste, Wimperntusche und Lippenstift ihre Toilette zu vollenden. Er ließ sich nicht von ihrem Schweigen provozieren. Es gehörte inzwischen zum ehelichen Frühstück wie das Müsli und das weichgekochte Ei.

Von unten schwappte das Tosen des Berufsverkehrs wie ein lappriger Brei aus undefinierbaren Geräuschen bis hinauf in die Penthouse-Wohnung des Adenauerhauses. Eine ferne Brandung, die unaufhörlich das Lied vom stetigen Wohlstand der westeuropäischen Gesellschaft sang.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich Renate vollends herausgeputzt hatte. Während sie ihre Tasche schulterte, ließ sie sich vom Garderobenspiegel nochmals die Perfektion ihres Ebenbildes bestätigen, dann knallte sie grußlos die Wohnungstür hinter sich zu. Sie war in Eile, wie immer, als sei die Produktion von Damenstrümpfen bei Sternberg & Sohn ohne die pünktliche Anwesenheit der Geschäftsführerin unvorstellbar.

Arno lächelte in seinen lauwarm gewordenen Kaffee hinein. Wie lange würde sich dieses Morgenritual noch wiederholen? Wie lange würden sie dieses emotionale Chaos, das sich Ehe nannte, noch ertragen können?

Er schlurfte ans Fenster und sah in die Straßenschlucht hinab, wo der Regen die Lichter und Abgasfahnen der Fahrzeuge zu einer teigigen Masse verschmolz. Er versuchte, die dem Schlaf entrissenen Gedanken der Männer und Frauen in den vor Schmutz und Nässe starrenden Blechkarossen zu erraten: Jäh vom Wecker unterbrochene Träume; Pläne für den Feierabend oder das scheinbar unendlich ferne Wochenende; ein letzter hypothetischer Check, ob man ausreichend gerüstet ist, um auf der Sitzung des Aufsichtsrates bestehen zu können; der wiedergekäute Zorn über die abermals verpasste Beförderung; das Zurechtlegen von Ausreden, mit denen man dem Ehepartner glaubhaft erklären konnte, was eigentlich nicht zu erklären war - die Nacht in einem fremden Bett.

Er genoss es, als unbeteiligter Zuschauer in solchen Gedankenspielen versinken zu dürfen. Niemand verlangte mehr von ihm, dass er die verstreichenden Augenblicke mit der Kamera durchleuchtete, denn er hatte sich von dem Wanderzirkus verabschiedet. Seit sieben Monaten gehörte er nicht mehr dazu. Das Banner der Tagesaktualitäten, dem er als Fotoreporter hatte hinterherlaufen müssen, trugen jetzt andere. Er hatte sich unter die Zuschauer gemischt und betrachtete ohne Wehmut die Bilder seiner Nachfolger.

Der Fotoladen am Benediktplatz, den er im September übernommen hatte, zählte nicht, war nur ein Bluff, die Fassade eines Potemkinschen Dorfes, um Zeit zu gewinnen und um Renate und alle anderen, die nur »sein Bestes« wollten, zu besänftigen. Er war keine Krämerseele, aber das verstanden sie ebenso wenig wie sein versteinertes Gesicht, als Dekan Danziger - ihn Schwiegervater zu nennen, war ihm in all den Jahren nicht gelungen - das Ersparte hinblätterte, um mitzuhelfen, Renates Idee zu verwirklichen, die darin bestanden hatte, dem Fotoladen einen Video-Verleih anzugliedern.

»Das Unternehmen muss zugkräftiger werden«, hatte sie gemeint. Aus dem Blickwinkel der Geschäftsfrau war diese Ansicht durchaus vernünftig gewesen.

Mochten sie glauben, was sie wollten, und im Buch der guten Taten ein Sternchen ernten, mochten sie seine Hochzeitsund Porträtfotos, die für ihn nur Alibi waren, loben und, auf das Florieren des Video-Verleihs hoffend, gedanklich bereits die Rendite abschätzen - an seiner Einstellung zu ihrem Geschäft änderte das nichts. Sie hatten ihm eine Funktion zugewiesen und für ihn war dieses Rollenspiel der unkomplizierteste Weg, Zeit zu gewinnen. Aber wofür?

Er war nicht bereit, sich als Sünder zu fühlen, bloß weil er die geschenkte Zeit nicht gleich mit neuen Plänen totschlug. Er lebte hinter der Fassade des Fotoladens in den Tag hinein, ohne ein Programm für die nächste Woche oder den nächsten Monat zu haben. Nach dem Aufwachen in einen leeren Terminkalender schauen zu können, war eine angenehme Erfahrung.

Während dieser wohltuend langweiligen Tage konnte er sich fixen Ideen hingeben, wie einst, als er die Fotografie für sich entdeckt hatte. Sie war zum beständigsten Teil seines Lebens geworden. Er hatte mehr Zeit mit dem Arrangieren von Licht und Schatten verbracht als mit irgendetwas anderem.

Eigentlich hatte er geglaubt, dass er seine Illusionen gewissermaßen als Tribut für das eigene Überleben irgendwann bei der Arbeit für das Nachrichtenmagazin Echo in Afghanistan, Kambodscha, Äthiopien oder Somalia stillschweigend begraben hatte. Denn Schützengräben an undurchschaubaren Frontlinien oder Fußmärsche durch Minenfelder, aufgereihte Kinderleichen, Wasserbäuche und Seuchen, Erdbeben und Reaktorstörfälle, der enge Kontakt zu Siegern und Besiegten, zu Hungernden und Entwurzelten, die allesamt Opfer der gleichen machtgeilen Maschinerie geworden waren, all diese von Menschen heraufbeschworenen Abscheulichkeiten gestatteten keine Hirngespinste, wenn man selbst überleben und den Verstand nicht verlieren wollte. Aber die Luftschlösser waren noch da. Ihre Konturen hatten zwar Patina angesetzt, aber sie waren noch da, was ihn jetzt, während er in den verschwommenen Morgen hinaussah, überraschte und hoffen ließ.

Renate interessierte sich nicht mehr für seine Gedanken. Sie kam ihm manchmal vor wie ein Spion, den die Gegenseite umgedreht hatte. Als hätte sie, Schritt für Schritt mit ihrem beruflichen Erfolg, die Seiten gewechselt.

Anfangs, nachdem er den Job bei Echo aufgegeben hatte, hatte sie ihn regelrecht in Zärtlichkeit gebadet. Da hatte sie noch geglaubt, das Adrenalin der Schlachtfelder werde ihn nicht loslassen. Sie hatte ihm eine »schöpferische Pause« zugestanden und seinen Seesack in die Reinigung gegeben. Er hatte es geschehen lassen und sich ein ums andere Mal gewundert, wozu sie, vom Ehrgeiz getrieben, fähig war. Aber diesem Ehrgeiz war die Geduld des Fotografen fremd und so verwandelte sich schließlich ihr Verständnis in Mitleid und dann, als sie seinen Bluff mit dem Fotoladen zu durchschauen begann, in Verachtung. Dass er womöglich ihr Bemühen um sein Glück mit hinterhältigen Spielchen sabotierte, trieb sie bei jedem ansatzweise aufkommenden Gespräch zur Raserei.

Durch den täglichen Austausch von Bosheiten lernten sie sich besser kennen als in all den scheinbar harmonischen Jahren ihrer Ehe. Seltsam, wie eingeschränkt die Sprache der Liebe ist und wie unendlich facettenreich die Vokabeln der Abneigung. Irgendwann sind Worte nur noch der Dünger des Hasses, irgendwann vernichten sie jede Liebe.

Acht Uhr. Zeit, den Laden zu öffnen. Auch wenn er sich zu nichts verpflichtet fühlte, so wollte er doch das Spiel noch eine Weile fortsetzen. Der Gedanke an den Brief der Kunsthochschule, den er wie einen Joker zwischen Unfall- und Lebensversicherungspolicen im Schreibtisch verwahrte, half ihm, seine verkaterten Knochen aufzuraffen.

Das heiße Wasser der Dusche spornte seine Lebensgeister an. Minutenlang konnte er das Gesicht in den Schwall der Brause halten, bis die Haut sich rötete wie nach einem Sonnenbad. Das an ihm herabschießende Wasser wirkte erregend und früher hatte sich Renate oft morgens zu ihm unter die Dusche gedrängt. Doch die Vorstellung, es heute dort mit ihm zu treiben, überstieg zweifelsohne die Phantasie der Pfarrerstochter, als habe sie das endlose Brüten über Geschäftsbilanzen frigide gemacht, mehr noch, als sei das Empfinden von Lust für sie zum Greuel geworden und der Koitus zu einer rein biologischen Angelegenheit, lediglich notwendig zum Fortbestand der Gattung, zum Erhalten des Gleichgewichts von Soll und Haben und in einem Atemzug mit Nahrung und Kleidung zu nennen.

»Ein Kind! Wie stellst du dir das vor? Wo hast du nur auf all deinen Reisen die Augen gehabt? Es ist mehr als verantwortungslos, auf dieser verseuchten, übervölkerten und von Korruption in Gang gehaltenen Welt ein Kind zu gebären.«

Diese Belehrung hatte sie ihm vor Monaten eingebleut, aber er erinnerte sich an die kompromisslose Kälte ihrer Stimme, als sei es gestern gewesen.

»Deine Vorstellung von Verantwortung wird nur noch von der Naivität derer übertroffen, die zwar brilliant erklären können, wie das Leben entsteht und wie wunderbar es ist, die aber im gleichen Atemzug alle Methoden der Empfängnisverhütung als ein Werk des Satans verteufeln«, hatte er damals geantwortet und das Thema Familienplanung abgehakt.

Aber trotz ihrer Entschiedenheit schien es ihr nicht gelingen zu wollen, die Sexualität zufriedenstellend in eines ihrer Organisationskonzepte einzubauen - ein Mangel, der sie im Laufe der Zeit spürbar wütender auf sich selbst werden ließ. Und so geschah es noch immer, dass sie ihn im Schlaf überfiel und zornig wie eine Ringkämpferin umklammerte, bis sich ihr atemloses Wimmern in selbstverachtendem Schweigen verlor und sie wie ihr eigener Schatten ins Bad floh, wo sie endlos duschte.

Vor zwei Wochen hatte sie sich zuletzt zu einem ähnlichen Exzess hinreißen lassen. Als sie danach aus dem Bad zurückkam, hatte sie ihn wachgerüttelt und angefaucht: »Wenigstens dazu bist du noch halbwegs im Stande. Aber bilde dir nur nichts darauf ein! Vaginaler Orgasmus, dass ich nicht lache! Dafür hat es noch nie gereicht. Ist alles Schwindel, eine chauvinistische Erfindung.«

Sie war nicht immer so gewesen. In jüngster Zeit, beispielsweise wenn er Brautpaare zur Dokumentation des unvergesslichen Augenblicks vor der Kamera postierte, dachte er oft daran, wie es angefangen hatte und was diesem Anfang vorausgegangen war.

Schon während des ersten Jahres am Gymnasium hatte Hans Sperling begonnen, Arnos Zukunft abzustecken. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen Entwurf für die Laufbahn seines Ältesten bei jedem Familienfest vor der versammelten Verwandtschaft auszubreiten.

»Ingenieur kann jeder Hanswurst werden. Aber dafür haben Margot und ich nicht all die Jahre so knausrig gewirtschaftet. Unser Arno wird Jura studieren, denn die Rechtswissenschaft ist das Sprungbrett zur Macht. Eine große, helle Kanzlei werde ich ihm einrichten, so wahr ich Hans Sperling heiße.«

Es war einer dieser Träume von Vätern, die sich angeblich nur deshalb ein Leben lang abrackern, damit ihre Söhne und Töchter einmal besser leben können als sie selbst. Sie haben diese Träume von ihren Vätern übernommen und wissen ganz genau, wie es aussieht, dieses bessere Leben. Nur leider, so sagen sie, habe ihnen die Geschichte die Suppe versalzen, bevor sie es sich selbst einrichten konnten.

Arno hatte mit solchen Redensarten nie etwas anfangen können. Er hielt sie für Anachronismen aus einer Zeit, die, wenn er den Dokumentationen des Geschichtsunterrichts und den eigenen Studien glauben durfte, von Hunger und Arbeitslosigkeit, nationalem Größenwahn und Holocaust geprägt worden war. Er aber war ein Kind des Wirtschaftswunders, das mit offenen Augen lebte und sich mehr oder weniger kluges Management nicht als Wunder verkaufen ließ.

»Euch hat der Rock ’n’ Roll gefehlt. Gegen ihn wäre euer Adolf chancenlos gewesen«, hatte er seinem Vater einmal entgegenhalten, als dieser in der Familienrunde einmal mehr laut über die verlorenen Chancen seiner Generation nachzudenken begann. »Aber ihr seid ja damals bloß auf Marschmusik abgefahren und tut es heute noch immer. Als würde er euch fehlen, der große Dirigent.«

Damals war er siebzehn gewesen, und einige Jahre später, nach dem Ende der Wehrdienstzeit, hatte er keine Sekunde mehr über die Pläne seines Vaters nachgedacht, als er sich für ein Studium in der Fachrichtung Fotografie und Design eingeschrieben hatte. Das voraussehbare Gebrüll des Sheriffs war an ihm abgeprallt. Er hatte seine Habseligkeiten in einem geliehenen Käfer verstaut und Thalbach verlassen. Nur von seiner Mutter hatte er sich verabschiedet. Sie hatte ihn stumm umarmt und ihm sieben Hunderter unter das Hemd geschoben.

Aber sein Atem reichte nicht einmal für drei Semester. Irgendwie brachte er den Studienplan nicht mit dem, was er täglich draußen sah und hörte in Einklang. Bald empfand er das gestelzte Kunstgehabe von Dozenten und Kommilitonen nur noch als linkslastige Platitüde, mit der er ebenso wenig anfangen konnte wie früher mit den Sprüchen des Sheriffs. Er hatte sich nicht gegen die muffigen Traditionen der Sperlings gewehrt, die sich, wie er ernüchtert feststellen musste, nicht nur auf die Topographie von Thalbach beschränkten, sondern über die man selbst in der Großstadt ständig stolperte, um nun in zeitverschwendendem L’art pour l’art zu verkümmern.

Eine namenlose Ungeduld, die sich nicht an der Hochschultür abstellen ließ, bedrängte ihn. Aber er war nicht allein mit dieser Ungeduld. Viele unserer Generation - Anfang der fünfziger Jahre geboren und in einem alles verzehrenden und zukleisternden Fressrausch aufgewachsen - saßen zwischen den Stühlen. Einerseits waren wir zu jung, um zu den Achtundsechzigern zu gehören und erlebten nur noch das Scheitern von deren Utopien im Terrorismus, andererseits gehörten wir auch nicht zur Turnschuhgeneration, die ihre sehnsuchtslose Nullbockmentalität im Disco-Fieber auslebte, dafür waren wir zehn Jahre zu alt. Die Zukunft war offen und die Vergangenheit bot nur eine zweifelhafte Orientierungshilfe. Also mussten die, die sich nicht von den überkommenen Normen und Redensarten der Vätergeneration nivellieren lassen wollten, ihren Hunger nach Leben im Selbstversuch stillen.

Um sich nicht vollends von seiner vermeintlichen Berufung zu verabschieden, und um dem Sheriff den Triumph väterlicher Weitsicht zu versagen, begann Arno eine Ausbildung zum Fotografen. Im Studio von Fritz Weinreich, einem Juden, der mitten in Deutschland der Aufmerksamkeit der Nazischergen entgangen war, lernte er, die Fotografie als Handwerk zu begreifen. Fernab von Wissenschaft und zwanghaftem Streben nach einer Kunst, die kaum mehr als elitäre Künstlichkeit hervorbrachte, wurden ihm die Augen für das Sehen in Schwarzweiß geöffnet. Und diese konsequente, von farbigen Gefühlsduseleien befreite Sehweise wies ihm schließlich den Weg zur Pressefotografie.

Den professionellen Einstieg in dieses Genre ermöglichte ihm ein zunächst auf zwei Jahre befristeter Arbeitsvertrag beim Tagesspiegel. Im März 1974 nahm er dort seine Arbeit auf.

Obwohl die Rote Armee Fraktion in diesen Tagen verstärkt dazu überging, ihre außerparlamentarische Opposition mit einem widerwärtigen Bomben-Dakapo zu proklamieren und die Terrorakte ideologisch als Kampf gegen die Schalthebel des imperialistischen Machtapparats rechtfertigte, lag eine erwartungsvolle Ruhe über dem Land. Noch boomte die Wirtschaft und die optimistische Stimmung nach den 72erWahlen, aus denen die Koalition von Sozialdemokraten und Liberalen unter Führung von Willy Brandt gestärkt hervorgegangen war, hielt an. Noch glaubte man daran, dass mehr Demokratie gewagt und der Mief von »tausend Jahren« endlich weggefegt werden könnte. Demonstrationen schienen einen neuen Sinn zu bekommen und geistiges Ärmelhochkrempeln war nicht von vornherein verdächtig.

Während der ersten Monate beim Tagesspiegel war Arno mit Karsten Hübner unterwegs, einem schreibenden Kollegen und intimen Kenner der Lokalszene. Er begleitete Hübner zu Presseerklärungen ins Rathaus, zu halbwegs spektakulären Einsätzen von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk, zu Grundsteinlegungen, zu Partei- und Vereinsversammlungen, zum Tatort von Schlägereien im Rotlichtviertel, von denen sie über den Polizeifunk erfuhren, und ähnlichen Ereignissen von regionaler Bedeutung.

Am 1. Mai 1975 versammelten sich die Demonstrationszüge des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Allgemeinen Studentenausschusses nach einem Sternmarsch zu einer gemeinsamen Schlusskundgebung auf dem Rathausplatz. Ein Anlass, für den die Lokalredaktion des Tagesspiegels drei Spalten und ein Foto zugestanden bekam.

Die Stimmung unter den Demonstrierenden war ausgelassen und heiter. Bunte Transparente und Pappschilder wurden hochgereckt und schwankten wie die Figuren in einem Kasperletheater über der Menge. Die Sprechchöre klangen vergnügt wie der Gesang in einem Volksfestzelt, als hätte die Macht des erwachenden Frühlings den kämpferischen Geist entschärft.

Arno schoss gelangweilt Aufnahmen von Spruchbändern, deren Inhalte er sofort nach dem Zuschnappen des Kameraverschlusses vergaß. Er war nicht in der Stimmung für Parolen und sah sich deshalb nach einem günstigen Plätzchen zum Sonnen um. Es genügte, wenn Hübner auf das Podium turnte und den Rednern das Tonband unter die Nase hielt.

Auf einem Sockel neben der Rathaustreppe stand ein in Stein gemeißelter, majestätisch über die Menge blickender Löwe. Arno kletterte hinauf und lehnte sich an die Vorderbeine des fürstlichen Kolosses. Doch kaum hatte er das Gesicht der Sonne zugewandt, verdunkelte sich diese und versteckte ihr Lachen hinter einer von Nordwesten heranwalzenden Wolkenwand, die heftige Windböen vor sich herscheuchte, die Augenblicke später an den Dächern rüttelten, woraufhin diese empört klappernd ihren Mittagsschlaf unterbrachen; eine stieß dem Gewerkschaftler am Mikrofon den Rest seiner Rede in den Hals zurück und blies in die auf dem Podium aufgestapelten Flugblätter, so dass diese wie ein Taubenschwarm aufflatterten und über die Köpfe der Menschen segelten, was Applaus und Gejohle verursachte. Dann hielt der Wind zwei Wimpernschläge lang den Atem an und während Arno das Objektiv seiner Kamera um zwei Blenden öffnete, um wenigstens eine sechzigstel Sekunde Belichtungszeit zu erhalten, stürzten die Wolken auf den Platz herab.

Ein hektisches Durcheinader riss Lücken in die Reihen der Kundgebungsteilnehmer. Spitze Schreie hallten über den Platz. Alles rannte planlos umher auf der Suche nach Zuflucht in Haus- und Ladeneingängen, Kiosken, Bus- und Straßenbahnhaltestellen. Selbst die öffentliche Bedürfnisanstalt war binnen Sekunden überfüllt und unter dem rotweiß gestreiften Baldachin, der vom Rathausportal weit über den oberen Teil der Treppe hinausragte, drängelten sich Scharen von Schutzsuchenden.

Arno wickelte die Kamera in seine Jacke und sprintete die Treppe hinauf, vorbei an einer jungen Frau, die katzbuckelnd auf dem obersten Absatz der Treppe kauerte. Ihre kastanienbraunen Haare klebten wie frisch lackiertes Lametta an Kopf und Schultern. Das Kinn auf die angezogenen Knie gestützt, beobachtete sie das Tohuwabohu, das der Wolkenbruch auf dem Platz anrichtete.

Noch bevor er die Menschentraube unter dem Baldachin erreichte, vergaß er den Regen, zog die Kamera aus dem Jackenbündel und fokussierte das Objektiv: gerade, kurze Nase; weich geschwungene Lippen, leicht geöffnet, wie ein zerbrochenes Herz, aus dem ein feines Lippenstiftgerinnsel blutete; braune Augen unter präzise gezupften Brauen; rundliches Puppengesicht. Die Augen stehen vielleicht eine Spur zu weit auseinander, dachte er, den Finger am Auslöser, als die junge Frau ihm plötzlich das Gesicht zuwandte und das Objektiv fragend anstarrte. Ihr Mienenspiel verwandelte sich von nachdenklich über lächelnd zu ratlos, die Nasenflügel bebten einen Moment lang und zwischen den Augenbrauen züngelten winzige Schlangen. Dann stand sie auf. Wassertropfen sprühten aus ihrem Haar, wie bei einem Hund, der sich nach dem Schwimmen das Fell trocknet. Er fotografierte, bis sie zwei Schritte entfernt vor ihm stehen blieb.

»Was tun Sie? Wer hat Ihnen erlaubt, mich ungefragt zu fotografieren?«

Ihre kehlige Altstimme klang trotz erhöhter Frequenz melodiös, was ihn veranlasste, sein unwiderstehlichstes Lächeln aufzusetzen. Er hoffte zumindest, dass es unwiderstehlich wirkte. »Verzeihen Sie«, sagte er, »ich wollte Sie nicht belästigen. Sie waren der einzige Ruhepunkt in dem heillosen Durcheinander, ein faszinierendes Motiv. Sorry.«

»Typisch Springerpresse!«, fauchte sie, unbeeindruckt von seiner Schmeichelei. »Geilt es euch auf, wenn ihr jemanden bloßstellen könnt? Stimmt die Kasse? Und die Bullen kriegen selbstverständlich Abzüge für ihre Kartei. Scheißkerle seid ihr, allesamt!«

Dann brach ihr Redeschwall ab, als sei sie plötzlich selbst erschrocken über den unsinnigen Erguss von Vorwürfen, mit dem sie ihn gerade traktiert hatte. Gleichzeitig trat sie dicht an ihn heran, denn sie hatte bemerkt, dass das schadenfrohe Interesse der meisten Umstehenden auf einmal nicht mehr dem Treiben auf dem Rathausplatz, sondern ihr galt. Sie sprach leiser, fast flüsternd, und Arno war versucht, die Augen zu schließen, damit das schnurrende Grollen der Tigerin nicht durch visuelle Widersprüche beeinträchtigt wurde.

Später sollte er sagen, dass dies der Augenblick gewesen war, in dem er sich in sie verliebte. Damals allerdings dachte er nur: Warum gerate ich bloß immer an diese zickigen Töchter aus vermeintlich gutem Hause?

»Sie werden sich gewiss eine Erkältung oder Schlimmeres einfangen, wenn Sie nicht bald ein heißes Bad und etwas Trockenes auf die Haut bekommen«, sagte er besänftigend.

»Dann ist es meine Erkältung! Ganz allein meine! Und ich finde es bezeichnend für Leute Ihres Schlages, dass Sie sich in Phrasen flüchten, um von Ihrem miesen Verhalten abzulenken.«

»Soll ich nicht doch lieber ein Taxi rufen, das Sie nach Hause bringt? Vielleicht können wir uns ein andermal über mein Verhalten und meinen Beruf und alles andere streiten.«

Sie schwieg irritiert und fixierte ihn unschlüssig, wobei ihre Augen, wie er fand, mit jedem Wimpernschlag schöner wurden. Er hielt es für ein Zeichen ihres abklingenden Zorns.

»Nicht weglaufen, bitte! Bin sofort wieder da. Versprochen?«

Bevor sie ihn mit weiteren Rüffeln überhäufen konnte, machte er auf dem Absatz kehrt und zwängte sich unter Einsatz seiner Ellenbogen und Männlein wie Weiblein versehentlich auf die Füße tretend zur Rathaustür.

Die drei Telefonkabinen in der Eingangshalle befanden sich im Belagerungszustand. Dicht vor der linken entdeckte er Hübner. Er schob sich zu ihm hin, legte ihm kameradschaftlich die Hand auf die Schulter und sagte: »Du lässt mich vor, ja? Ein Notfall.«

»Wo treibst du dich denn rum? Hast du wenigstens die Bilder im Kasten?«

»Bilder? Na klar! Aber jetzt bin ich an etwas Wichtigerem dran.«

»Ein Notfall. Du sagtest es bereits.«

Ohne Hübners Zustimmung abzuwarten, schlüpfte er durch die sich gerade öffnende Tür in die Zelle hinein.

Während er in seinen Hosentaschen nach Münzen suchte, sah er aus den Augenwinkeln, wie Hübner beschwichtigend auf ein Gift und Galle speiendes Frauenzimmer einredete und sie nur mit Mühe davon abhalten konnte, in die Kabine einzudringen. Beim zweiten Versuch war die Leitung frei und am anderen Ende bestätigte eine gestresste Frauenstimme, dass er mit der Taxizentrale verbunden sei, dass er sich aber etwas gedulden müsse, da alle in Rathausnähe plazierten Wagen unterwegs seien.

»Danke für Ihr Verständnis, Lady«, sagte er, als er die Zelle verließ. Er warf der noch immer lamentierenden Dame einen Handkuss zu und klopfte Hübner dankbar auf die Schulter. »Ist wirklich ’ne große Sache. Du hast etwas gut bei mir.«

Wider Erwarten stand sein Traummotiv noch am gleichen Fleck.

»Und nun?«, fragte sie.

»Das Taxi ist unterwegs«, strahlte er.

»Ich will kein Taxi! Und von Ihnen schon gar nicht, ich ...«

»Aber, aber ... Ich dachte dieser Punkt sei inzwischen geklärt. Benehmen Sie sich doch nicht wie eine neunjährige Göre.«

Trotzig stampfte sie mit dem Fuß auf, wandte sich zur Treppe und trat in den nur noch nieselnden Regen hinaus.

Arno schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel - und das Wunder geschah: Aus der Friedrich-Ebert-Straße bog ein Taxi in den Rathausplatz ein. Er griff nach der Hand seines Schützlings und nahm zwei Stufen auf einmal. Sie tat überrascht, ließ sich aber widerstandslos von ihm führen. Als sie neben dem Taxi standen, riss sie sich los und schlug ihm die tiefe Empörung, die jetzt wieder aus ihren Augenschlitzen blitzte, ins Gesicht.

Triumphaler Abgang, dachte er, während seine Zunge die anschwellende Unterlippe abtastete und das Taxi am anderen Ende des Rathausplatzes in der Schumannstraße verschwand.

Noch am gleichen Abend entwickelte er den Film und fertigte eine Ausschnittvergrößerung ihres Gesichts an. Er hatte sich die Nummer des Taxis gemerkt. Mit dem Foto und zwei Zwanzigern entlockte er am nächsten Morgen dem Chauffeur die Adresse der Tigerin. Ein treffenderer Name war ihm während der halb durchwachten Nacht, umgeben von ihren Fotografien, nicht eingefallen.

Er fuhr mehrmals die Dachsstraße rauf und runter, ehe er die am Rande des Stresemannparks hinter frisch austreibendem Gebüsch und knorrigen Eichen verborgene Villa aus der Gründerzeit entdeckte.

Vornehm lebt die Dame, dachte er, als er die breiten, oval geschwungenen Stufen der Sandsteintreppe hinaufstieg und den tunnelähnlichen Windfang betrat, in dessen rechter Ziegelsteinwand vier Briefkästen und Klingeltasten in eine Bronzeplatte eingelassen waren. Seine erste Befürchtung, dass er die Namen eines alteingesessenen Clans dort aufgereiht vorfinden würde, bestätigte sich nicht. Die Namensschilder ließen keine familiären Verbindungen erkennen: Dr. A. Walser, M. Grünstein, Leitner und R. Danziger.

Er versuchte zu erraten, hinter welchem Namen sich seine Tigerin verbarg, kam jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis und drückte deshalb kurzentschlossen auf eine der Klingeltasten. Ohne Erfolg. Im Haus blieb es still und insgeheim war er froh darüber, denn während er noch dem in der Tiefe des Gemäuers versickernden Klang der Hausglocke nachlauschte, erschreckte ihn der Gedanke, dass er vielleicht in wenigen Augenblicken irgendeinem distinguierten Mütterchen sein Begehren vortragen müsse. Wahrscheinlich würde er dann stottern wie ein Pennäler, würde dummes Zeug faseln von einer Tigerin, in die er sich gestern, inmitten eines Wolkenbruchs, verliebt hatte. Unmöglich! Nein, er musste ihr in die Augen sehen können, dann war es gleichgültig, wenn er Unsinn stammelte. Sie würde es verstehen. Nach den Tänzen der vergangenen Nacht, mit ihren Fotos im Arm, musste sie es verstehen, das erschien ihm logisch, obwohl sie nichts davon wissen konnte, sie, die ihn womöglich - er wagte es nicht zu denken - gleichzeitig mit der Ohrfeige aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte.

Also ging er zu seinem Käfer zurück und legte sich auf die Lauer. Irgendwann musste sie das Haus betreten oder verlassen und dann würde er seine Chance bekommen. Betört von ihrem Foto und dem Duft des Frühlings, der aus den Vorgärten durch das heruntergekurbelte Wagenfenster hereinströmte, malte er sich das erste Rendezvous aus. Irgendwann aber vergaß er, die Dark side of the moon Kassette zurückzuspulen und döste ein.

Ein Trommelwirbel auf dem Wagendach holte ihn aus seinem Schlummer. Das Grollen der Tigerin kam aus dem Nichts: »Gelungenes Foto.« Er zuckte zusammen, stieß sich beim Hochschnellen das Knie am Lenkrad und als er endlich begriff, was geschehen war, sah er nur noch, wie sie im Windfang der Villa verschwand.

Es begann ein Katz-und-Maus-Spiel, das vier weitere Tage dauerte; vier Tage, in denen sie sich beharrlich weigerte, ihn anzuhören; vier Tage, in denen er seine Arbeit vernachlässigte und im Stehen an einer Litfaßsäule schlief, nur um sie zu sehen, wenn sie morgens das Haus verließ, in der Mittagspause einkaufen ging oder am späten Nachmittag den Friseur aufsuchte; vier Tage im Dunst des eigenen Schweißes, gelebt als Schatten; vier Tage, in denen er das Martyrium aller verliebten Männer teilte und seine geistige Existenz allmählich erlosch.

Er begann zu resignieren und sich einzugestehen, dass er sich selbst zum Affen machte. Er war bereit aufzugeben. Ein paar Stunden noch, vielleicht einen Tag, wollte er an seinen Traum glauben. Und dann geschah das nicht mehr Erwartete; es geschah so unerwartet, dass er es erst glaubte, als sie tatsächlich zur verabredeten Zeit vor der Villa in der Dachsstraße auftauchte und zu ihm in den Wagen stieg.

Warum sie ausgerechnet dieser Einladung gefolgt war, blieb ihm ein Rätsel. Aber nun saß sie neben ihm, wenn auch stumm und unnahbar schön, doch nahe genug, dass er sie hätte berühren können.

Während der Fahrt zur Galerie Sandrock, wo eine Fotoausstellung von Andreas Feininger eröffnet wurde, verschmolzen seine Sinne mit ihrem Parfüm. Er musste nichts sagen, durfte schweigen wie sie, und seltsamerweise machte ihn das glücklich, ihn, den sonst so lockeren Plauderer.

Interessiert und augenscheinlich beeindruckt wandelte sie von Aufnahme zu Aufnahme. Das Faschingsgirl schien sie besonders zu fesseln, denn sie kehrte mehrmals zu diesem Foto zurück.

Als sie sich schließlich am Büfett gegenüberstanden, nur getrennt von zwei gläsernen Schalen, in denen frische Erdbeeren unter einer Haube cremiger Sahne lockten, da war sie es, die wie selbstverständlich zu sprechen begann.

»Es scheint, als hätte ich mich tatsächlich in dir getäuscht«, sagte sie. »Und ich finde, da wir nun einmal beim Du angelangt sind, sollte dieses auch einen Namen bekommen. Renate. Renate Danziger.«

Er hing an ihren Lippen und saugte das Grollen seiner Tigerin auf, fast bedauernd, dass sie nun einen Namen bekommen hatte. Unsicher ergriff er ihre Hand. War es möglich, dass plötzlich alles so einfach sein sollte?

»Und was ist mit dir? Erschüttert? Neulich beim Rathaus warst du nicht so zurückhaltend.«

»Ich muss gestehen, dass du mich diesmal überrumpelt hast«, sagte er.

»Und?«

»Ach ja! Arno Sperling.«

»Sperling? Seltsam ... Dass dieser Name so häufig auftaucht, hätte ich nicht gedacht.«

In dem nachfolgenden Plausch über die Ästhetik von Feiningers Fotografien, die, wie sie übereinstimmend meinten, weniger vom Gefühl als vielmehr vom Intellekt bestimmt waren, stellte sich zu ihrem beiderseitigen Erstaunen heraus, dass sie im selben Provinzstädtchen zur Schule gegangen waren.

»Aber du bist mir damals leider nicht aufgefallen«, sagte er.

»Mich wundert das nicht. Ich glaube, ich war ein ziemliches Mauerblümchen. Und außerdem zu jung. Aber an dich kann ich mich recht gut erinnern, zumindest an deinen Namen, der wurde häufig genannt.«

»Mein Ruhm war eher zweifelhaft.«

»Trotzdem hat man dich dort nicht vergessen. Erst kürzlich hat mich jemand gefragt, ob ich dir hier vielleicht einmal begegnet sei.«

»Schwer vorstellbar. Hast du noch Verbindungen nach Schönfeld?«

»Meine Eltern leben dort. Mein Vater war acht Jahre lang Pfarrer in Schönfeld. Später wurde er zwar Dekan, aber Mutter wollte keinen Umzug.«

»Schönfeld. Es kommt mir so unwahrscheinlich vor, wie aus einem anderen Leben.«

»Und gerade ist es dabei, uns einzuholen«, sagte sie. »Sie schien dich übrigens gut zu kennen.«

»Sie?«

»Hanna Schiller. Früher hieß sie Gerber. Sie sagte, ihr hättet gemeinsam fürs Abitur gebüffelt.«

»Hanna! Die Geschichte wird immer erstaunlicher.« Arno lachte, aber eine Gänsehaut lief ihm dabei über den Rücken. »Hanna ... Du kennst sie und bist ihr begegnet?«

»Ist dir das unangenehm?«

»Nein«, sagte er, »nein.«

Aber sein Nein kam zu spontan, um glaubwürdig zu klingen. Er spürte, dass sie das bemerkte, doch sie ging nicht weiter darauf ein und dafür war er ihr dankbar. Auch das bemerkte sie und dann lachten sie beide, um die Verlegenheit zu überspielen und um das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken.

Später, beim Schaufensterbummel durch die Fußgängerzone, flanierten sie eingehakt wie ein Liebespaar. Arno genoss die Nähe seiner Tigerin und ließ sich bereitwillig vom Strudel seiner Gefühle forttragen. Dass sie Hanna kannte, damit würde er leben können. Ihren Namen zu hören, kam ihm vor wie ein Wink aus einer anderen Zeit, mit der er längst abgeschlossen hatte. Was zählte, war das Jetzt. Und jetzt wollte er glücklich sein und den Lohn für die vier schlaflosen Nächte auskosten, den er sich unter dem Fenster dieser Frau, deren Arm nun tatsächlich in seinem lag, erträumt hatte.

Es schien, als hätte er nicht zu Unrecht geträumt, denn am nächsten Abend, als er sie von der Strumpffabrik abholte und nach Hause fuhr, verabschiedete sie ihn nicht an der Tür. Zweifellos hatte sie sich wegen seiner Beharrlichkeit schließlich doch auf ihn eingelassen, von nun an aber bestimmte sie Richtung und Tempo des gemeinsamen Weges und das tat sie derart entschlossen, dass ihm manchmal schwindlig wurde. Sie überfraute ihn mit einer Sinnlichkeit, die ihm bei jedem Einschlafen und Aufwachen in ihren Armen ein weiteres Stück seiner Vernunft raubte. Trunken vor Glück zappelte er in den Fäden, in die sie ihn einwebte. Sein scharfes, sezierendes Auge, der Blick des Fotografen, auf den er so stolz war, wurde von schmachtender Gefühlsduselei getrübt, als hätte er einen Weichzeichner vor das Objektiv geschraubt. Nur so war es zu erklären, dass er sich trotz seiner Abneigung gegen alles, was mit Familie oder Verwandtschaft zu tun hatte, bereits zwei Wochen später mit zu ihren Eltern nach Schönfeld schleppen ließ.

Die scheinheiligen Nebensätze des Kirchenmannes bei der verklemmten Begrüßung und während des Gastmahls bestätigten seine Befürchtungen.

»Journalist sind Sie also. Nein? Fotoreporter. Na ja, irgendwer muss ja schließlich die Bilder machen.«

Wie ein Diplomat reihte der Dekan einen ganzen Katalog subtiler Fußnoten aneinander, deren Fazit das professionell freundliche Spiel seiner rhetorisch geübten Lippen nicht vertuschen konnte: Gemeinsame Schulzeit und große Gefühle, alles schön und gut, aber seine Tochter sei doch wohl noch viel zu jung für eine derartige Bindung.

Was soll das unchristliche Geschwafel? Deine Tochter ist einundzwanzig, du Hinterwäldler, dachte Arno. Außerdem hatte weder er noch Renate von irgendeiner »Bindung«, wie sie scheinbar bereits in der Phantasie des Pfaffen herumspukte, gesprochen.

Zuallererst müsse sie an die eigene Karriere denken. Die Buchhaltung einer Strumpffabrik könne ja wohl nur eine Zwischenstation sein. Habe er ihr nicht immer empfohlen, zumal nach ihrem ausgezeichneten Abitur, ihre Zeit nicht an eine kaufmännische Ausbildung zu verschwenden? Und so weiter. Die Sätze des Dekans erinnerten Arno auf fatale Weise an die Vorträge, die der Sheriff jahrelang im Familienkreis heruntergebetet hatte.

Renates versteinerte Miene, als sich einmal unter dem Tisch ihre Füße berührten, bot auch keine Hilfe. Also stocherte er auf seinem Teller herum und kaute appetitlos das Hühnerfrikassee, die Reiskörner und die zäh verrinnenden Minuten und beobachtete das ausgetrocknete Elternpaar.

Renates Vater war ein schlanker, großgewachsener Mann mit silbernen Fäden im straff zurückgekämmten Haar. Sein Gesicht, in dem sich die blassen Lippen unaufhörlich öffneten und schlossen, war knochig, die Wangen leicht eingefallen. Trotzdem kam er Arno irgendwie fett vor, fett und glitschig und unangreifbar. Ihre Mutter war eine graue Säule. Er entdeckte nichts, was ihrem Äußeren einen Anschein von individueller Persönlichkeit gegeben hätte. Ihr Konversationsbeitrag bestand darin, dass sie alle paar Minuten andachtsvoll die Augen schloss, so als wolle sie die Worte ihres Gatten nachdrücklich unterstreichen. Sonst hüllte sie sich in ergebenes Schweigen, wie es graue Säulen nun mal zu tun pflegen.

Und dieses Paar behauptete von sich, Renate gezeugt zu haben? Der Gedanke hatte etwas Unvorstellbares. Es musste vor Jahrhunderten geschehen sein.

An diesem Nachmittag wurde das Wort Karriere für ihn zum Schimpfwort. Soviel hatte er immerhin verstanden: Der Gottesmann erwartete von der einzigen Tochter, dass sie sich, wenn die Zeit gekommen sei, mit etwas Passenderem als einem herumtingelnden Pressefritzen einließ.

Dieses Paar, das Renate Vater und Mutter nannte, schien in unendlich fernen Sphären außerhalb seiner Vorstellungskraft zu leben. Im Vergleich mit ihnen, war der Sheriff beinahe eine wohltuende Erinnerung. Und nach Thalbach waren es nur wenige Kilometer. Warum sollten sie nicht ...? Nein! Eine ähnliche Posse würde er nicht ohne bleibenden Schaden ein zweites Mal überstehen. Alles, was er jetzt brauchte, war Renates Nähe. Zwei Stunden mit dem Auto, und dann würden sie gemeinsam über diesen Ausflug lachen.

Er irrte sich nicht. Sie lachten. Sie verkrochen sich in Renates Doppelbett und lachten. Aber er bemerkte nicht, dass ihr Lachen sich verändert hatte, dass ihm die unbeschwerte Leichtigkeit der ersten Nächte fehlte. Die Triebfeder ihres Lachens war jetzt gekränkter Stolz.

»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte sie. »Vater glaubt noch immer, ich sei käuflich wie die göttliche Erlösung. Vergiss ihn!«

»Du bist ein seltsames Mädchen. Ich dachte, es sei wichtig für dich, dass ich bei ihm ankomme.«

»Einen Versuch war es wert, findest du nicht?«

Er war süchtig nach ihr und hatte sich bereits zu sehr in ihren Fäden verfangen, um das Spiel, das sie nun in aller Stille ankurbelte, zu durchschauen. Während er gedankenlos seinen Job beim Tagesspiegel erledigte und sich danach sehnte, sie zu umarmen, steuerte sie zielstrebig in tieferes Gewässer.

Im August des selben Jahres, während eines vierwöchigen Urlaubs auf Sylt, für den sie ihr Erspartes in einen Topf geworfen hatten, bedrängte sie ihn so lange, bis er schließlich einwilligte und ihr vor dem Standesbeamten in Westerland sein Ja-Wort auf die sonnengebräunten Wangen hauchte.

Was hätte er sonst tun sollen? Er betete sie an und war überzeugt, angekommen zu sein, einen Halt gefunden zu haben, eine Heimat, wenn man es unbedingt so nennen wollte. Endlich würde er Thalbach und Schönfeld hinter sich lassen können, diese Orte der Kindheit, in denen sture Kerle wie der Sheriff und der Pfaffe den Ton angaben.

Dem Pfaffen und dem Sheriff schickten sie gleichlautende Ansichtskarten: Als Vermählte grüßen Arno und Renate! PS: Wir versuchen es ohne euren Segen. Falls ihr trotzdem über euren Schatten springen könnt, dann wünscht uns Glück.

Damals fühlte er sich jenseits aller Zweifel. Der Gedanke, dass er für sie vielleicht nur Mittel zum Zweck war, ein Bauernopfer, ein Gedankenstrich oder ein Komma, mit dem sie einen Nebensatz im Roman ihres Lebens einleitete, um dem verknöcherten Vater und der taubengrauen Mutter das Hosianna zu versauern, dieser Gedanke schien zu absurd, um überhaupt Einlass in sein rosa vernebeltes Hirn zu finden.

Er dachte gern an diese erste Zeit mit Renate zurück. Damals hatte er niemanden gebraucht, der ihm Mut zur Zukunft predigte, denn die Gegenwart mit Renate war die Zukunft gewesen. »Leider haben wir diese Zukunft irgendwie vertan«, murmelte er in das Badetuch hinein.

Dem heißen Wasser war es wieder einmal gelungen, seine innere Batterie aufzuladen. Als er mit einem Bein in der Hose steckte, holte ihn das Telefon endgültig in den Alltag zurück. Edwin Danziger, der sich neuerdings in der Rolle des Bundesgenossen gefiel, wünschte seine Tochter zu sprechen.

»Nein, sie ist nicht mehr zu Hause. Schau mal auf die Uhr«, sagte Arno und verkniff sich die Bemerkung, dass der Herr Dekan ja nicht so ganz schuldlos am Ehrgeiz seines Früchtchens sei und daher eigentlich wissen müsse, dass er sie zu dieser Stunde nicht mehr in den Kissen wühlend antreffen werde.

Viertel vor neun. Der Kirchenmann im Ruhestand hatte ihm die Lust an seinen Erinnerungen verdorben. Es war Zeit, sich wieder die Tarnkappe des Heringsbändigers aufzusetzen.

Sperlings Suche nach dem Lachen

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