Читать книгу Sperlings Suche nach dem Lachen - Norbert Aschenbrenner - Страница 5
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ОглавлениеEs ist seltsam, wenn ich die Schlagzeilen der Zeitungen lese, das lodernde Feuer eines neuen Brandanschlages und trommelnde, kahlgeschorene junge Männer in schwarzen Kampfstiefeln über den Bildschirm stampfen sehe - ihre aufgehetzten, kalten Gesichter, die ausgestreckten Arme -, wenn ich die gebrüllte Dummheit höre, die mir die Sprache verschlägt, dann sehe ich unwillkürlich Dorothea vor mir, Dorothea und Arnos Karton - und ich höre die Beklommenheit, die über ihren hastigen, unvollständigen Sätzen schwebt. Die Vorstellung, dass Arno diesmal nicht freiwillig verschwunden sein könnte, lässt mich erschauern. Vielleicht geht auch nur meine Phantasie mit mir durch, vielleicht bin ich trotz der vielen Ferientage, die man als Lehrer hat, reif für die Insel. Laura jedenfalls behauptet das bei jeder Gelegenheit. Ich wäre froh, wenn es so wäre, denn dann müsste ich mich nicht länger mit der fixen Idee herumquälen, dass Arnos Verschwinden irgendetwas mit dem Wiederaufleben jener anderen widerwärtigen Geschichte zu tun hat, die wir alle glaubten, für immer und ewig unter dem Schutt und der Asche des tausendjährigen Größenwahns begraben zu haben.
Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal mit den gleichen peinlichen Fragen konfrontiert werden würde, mit denen ich als jugendlicher Weltverbesserer meine Eltern und Großeltern in Verlegenheit gebracht habe: »Was habt ihr dagegen unternommen? Wo habt ihr gestanden? Warum habt ihr schweigend zugesehen?« Sie treffen mich unvorbereitet und entblößen deshalb um so mehr meine rechthaberische Arroganz, die den längst vergessenen Bumerang ignoriert, der vor Jahrzehnten von einer blinden, belogenen und gedemütigten Generation ins All geschleudert - nach dem Erreichen des fernen Scheitelpunktes seiner Flugbahn nun wie ein feindliches, fremdes Flugobjekt auf das Glashaus zurast, in dem ich mir unantastbar vorgekommen bin, im Wesentlichen damit beschäftigt, die Neurosen meines Daseins zu pflegen. Und vielleicht ist es nur ein Auswuchs dieser Neurosen, dass ich die Vorstellung nicht unterdrücken kann, dass sich diejenigen noch frei unter uns bewegen, die Arno ... Unsinn!, befehle ich meiner Phantasie. Noch wird ermittelt, wenn auch ohne vorzeigbaren Fortschritt - was nach zwei oder drei Tagen gewiss noch nichts bedeuten muss -, aber noch sind sie nicht zu mir gekommen weder die Ermittler noch die Täter - und haben nach dem Karton gefragt, der jetzt neben meinem Schreibtisch steht.
Ich habe ihn aus der hintersten Ecke meines Arbeitszimmers unter alten Zeitungen und leeren Aktenordnern hervorgezogen. Ein Versandhauskarton aus blauer Wellpappe, in dem irgendwann einmal Hosen oder Hemden oder Bettbezüge verschickt worden sind, der jetzt - nicht zuletzt von meinem vielen Hin- und Herschieben, Öffnen und Schließen - an den Ecken zerbeult und zerschlissen ist. Ich weiß, was er enthält: neun Pappschachteln, in denen mehr als achthundert Dias aufbewahrt sind; vier Filmdosen, in denen Diafilme stecken, von denen ich nicht weiß, ob sie belichtet sind; zwölf Schulhefte, Format DIN A5, engbeschrieben.
Am liebsten möchte ich mich wegen der Oberflächlichkeit ohrfeigen, mit der ich die Aufzeichnungen und die Lichtbilder bisher durchgesehen habe. Warum hat Dorotheas Besuch meine Neugier nicht sofort geweckt? Warum habe ich - abgesehen von meinem Detektivspiel und der Vermisstenanzeige - drei weitere Tage untätig verstreichen lassen? Warum konnte ich nicht ein einziges Mal spontan handeln?
Drei Tage sind nichts, versuche ich mir einzureden, doch gleichzeitig beginne ich zu ahnen, dass sie für Arno zur Ewigkeit geworden sein könnten.
Allmählich gestehe ich mir ein, welchen Reiz Dorothea auf mich ausgeübt hat. Ihr Flair hat meinen Blick so sehr verschleiert, dass ich bei der ersten Durchsicht des Kartons immer nur sie vor mir sah. Ich beneidete Arno. Ja, ich wurde eifersüchtig auf ihn und war deshalb unfähig, mich auf etwas anderes als die Dias zu konzentrieren, auf denen sie zu sehen ist - was bei mehr als der Hälfte der Aufnahmen der Fall sein dürfte. Arno hat gewiss nicht damit gerechnet, dass ich mich in den wenigen Minuten unserer Begegnung in Dorothea verlieben würde. Meine Dummheit ist unbeschreiblich.
Ich habe wertvolle Zeit verstreichen lassen und diesen Fehler kann ich nicht ungeschehen machen. Aber nach meinem jämmerlichen Auftritt in Thalbach will ich nun noch einmal mit dem Öffnen des Kartons beginnen. Seit dem ersten flüchtigen Durchblättern der Hefte weiß ich, dass sie die Konturen einer Liebesgeschichte enthalten, die Arnos Leben umgekrempelt hat. Was noch? Was wollte er mir mitteilen, indem er mir den Karton anvertraute?
Ich stapele die Hefte auf meinen Schreibtisch. Sie sind weder nummeriert noch deutet sonst etwas auf eine chronologische Ordnung der Aufzeichnungen hin. Ich schlage sie willkürlich auf und beginne bald zu ahnen, dass ich die Liebesgeschichte nicht übergehen kann, dass ich sie erzählen muss, wenn ich das andere ans Licht bringen will. Genau davor aber graut mir, denn ich kann keine Liebesgeschichten erzählen. Ich habe es oft versucht, doch die Resultate waren stets erbärmlich.
Den blauen Karton beeindruckt das nicht im Geringsten. Sein zerfledderter Rachen hat etwas Bedrohliches, als wolle er mich warnen und die Gedanken an meine gescheiterten Schreibversuche verscheuchen.
Ich lese bis tief in die Nacht hinein. Gegen drei Uhr morgens kommt Laura hereingeschlurft. Sie sieht mich schlaftrunken an und murmelt: »Mir scheint, du hast tatsächlich nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Ich beachte sie nicht und frage mich stattdessen, was ich über einen Mann sagen soll, den ich zwanzig Jahre aus den Augen verloren hatte? Wie kann ich seine Geschichte erzählen? Eine Geschichte, bei der ich nicht weiß, wo ich beginnen soll - vom Ende ganz zu schweigen.
Ich gestehe, dass ich mich gerne davor drücken würde, dass ich viel lieber eins dieser grellen Computerspiele auf den Bildschirm zaubern würde, um meinen Kopf nicht mit den verworrenen Lebensumständen anderer Leute belasten zu müssen. Doch ich habe mich eingemischt, ohne an die Folgen zu denken, bin Teil eines Mosaiks geworden, ebenso wie Arno und Dorothea und dieser Karton.
Ich ziehe ein neues Heft aus dem Stapel und lasse meine Nase darin schnuppern. Die Tatsachen scheinen in Bild und Schrift dokumentiert vorzuliegen. Ich muss nur Ordnung hineinbringen und meinen Computer damit füttern. Trotzdem bleibt es eine Gratwanderung zwischen Wahrheit und subjektivem Empfinden, denn niemand wagt es, ein ehrliches Geständnis über die Fehlschläge oder Glücksmomente seiner Liebe niederzuschreiben. Die Zeichen richtig zu deuten, darum geht es.
Ich suche nach einer Zigarette, als hätte ich vergessen, dass ich seit vier Wochen nicht mehr rauche. Das macht es auch nicht leichter. Eine Liebesgeschichte ohne Qualm vor den Augen - absurder Gedanke.
Das Einschalten des Rechners lässt sich nicht länger hinauszögern. Während er das Betriebssystem lädt, greife ich noch einmal in den Karton, nehme die Schachteln mit den Dias heraus, lege sie griffbereit neben die Hefte und hoffe, wenigstens ansatzweise einmal der Schatten von Philip Marlow zu sein.