Читать книгу Sperlings Suche nach dem Lachen - Norbert Aschenbrenner - Страница 8
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ОглавлениеZwei Monate vor den Abschlussprüfungen erhielten wir die Einberufungsbescheide zum Militär. Grund genug für ein spontanes Treffen in Peters Keller.
Nach den durchweg »positiven« Ergebnissen der Musterung hatten wir zwar alle damit gerechnet, dass Vater Staat uns nicht ungeschoren davonkommen lassen würde, doch bis zu diesem Tage hatten wir das Ganze mit einer geradezu überheblichen Lässigkeit von uns fern gehalten. Gehörten wir nicht alle zu einer Generation von Pazifisten, die fest entschlossen war, nach dem Ende der leidigen Penne den Lauf der Welt umzudirigieren? Wollten wir nicht alle aus Schwertern Pflugschare schmieden? Nein, eine solche Generation taugte nicht zur Waffenbrüderschaft! Häretiker, allesamt, deren hehres Gerede von Jimmy Hendrix’ Gitarrencrescendo All along the watchtower angestachelt wurde.
Nun aber, mit dem amtlichen Bescheid in den Händen, wurde uns mulmig. Krisensitzung. Die Mädchen blieben vor der Tür, und Peter bot mit finsterer Miene Zigaretten an. Er legte die neueste Stones-Scheibe auf, was in aller Regel ein bewährtes Rezept gegen jede Art von Frust gewesen war. Diesmal jedoch gelang es dem Midnight rambler nicht, frischen Wind in unsere verwirrten Gedanken zu blasen, die Stimmung blieb gedrückt. Wenn uns vorher jemand gesagt hätte, welche Macht von einem Stück Papier mit Siegel ausgehen kann, wir hätten ihn mit beißendem Spott überschüttet. Aber das wollte jetzt natürlich keiner zugeben, denn plötzlich war man ja selbst betroffen und das war eine über den Horizont unseres Kellers hinausgehende Erfahrung, mit der wir uns zunächst stumm grübelnd auseinander zu setzen versuchten.
Obwohl die Bassmembrane der Lautsprecher unter Charlie Watts Trommelwirbeln hektisch flatterten, fühlte ich mich wie in der Stille einbetoniert; sie war dichter als die Rauchschwaden, die wir aus unseren Lungen stießen. Irgendwann, der Diamant holperte längst unbeachtet am Ende der Plattenrille, sprang Arno auf und fauchte: »Nicht mit mir! Ich lasse mir den Gleichschritt nicht ins Hirn pflanzen!« Dann faltete er seinen Einberufungsbescheid langsam auseinander, hielt ihn hoch und zeigte ihn in die Runde, wie ein Magier vor einem unglaublichen Trick, und tatsächlich, plötzlich züngelte ein Flämmchen an einer Ecke des Papiers. Der Rebell war wieder erwacht und entzündete vor unseren Augen ein Fanal des Widerstandes.
In der gleichen Nacht verließ er sein Elternhaus.
Das Aufsehen, das sein Verschwinden erregte, war in Thalbach größer als bei uns in der Schule. Hier fragte kaum jemand nach dem Warum. Er war hinlänglich als Schlitzohr bekannt und daher hielt man es, nach einer längeren Periode der Selbstdisziplin, nur für eine neue Kapriole, auf die die Schulleitung zunächst nur mit einer schriftlichen Mahnung an die Eltern reagierte.
In Thalbach jedoch brachte Arnos Flucht die Familie Sperling ins Gerede, was bald dazu führte, dass sich die Sorge des Vaters um den Sohn in Zorn verwandelte. Dem Tratsch und Spott des Dorfes ausgesetzt zu sein, als offensichtlich hilflose Figur hingestellt zu werden, als einer, dem der eigene Filius auf dem Kopf herumtanzte, das war so ziemlich das Schlimmste, was Arno dem Sheriff hatte antun können.
Hans Sperling empfand es als Angriff auf seine persönliche Redlichkeit, dass der eigene Spross sich vor dem »Dienst fürs Vaterland« drücken wollte. Ein derartiges Untergraben seines Ansehens konnte er nicht akzeptieren, nicht, nachdem er sich all die Jahre krummgelegt hatte, um etwas auf die Beine zu stellen und seinem Namen eine gewisse Bedeutung zu verschaffen. Er beurlaubte sich eigenmächtig und ließ die Angelegenheiten des Bürgermeisteramtes während der endlosen Telefongespräche, die er hinter verschlossener Tür führte, ruhen. »Mach dir keine Sorgen, Margot, ich habe da so meine Verbindungen«, sagte er zu Arnos verängstigter Mutter, bevor er sich erneut in sein Heiligtum, einen schwarzen Opel-Kapitän mit Weißwandreifen, warf und mit nicht genanntem Ziel davonbrauste. Selbst eine Anzeige wegen Geschwindigkeitsüberschreitung tat er in dieser Situation als Lapalie ab.
Doch es dauerte acht Tage, bis seine Fahndungen tatsächlich erfolgreich waren. Nach dem x-ten Geheimtelefonat trat er mit unübersehbarem Funkeln in den Augen aus dem Büro, packte wortlos Rasierzeug und Zahnbürste ein und befahl seiner Frau, siegessicher lächelnd, ihn nach Schönfeld zum Bahnhof zu fahren. Dort löste er eine Rückfahrkarte zweiter Klasse nach Hamburg. Unweit des Hauptbahnhofs, in der Mönckebergstraße, spürte er Arno in einer Werbeagentur auf, wo er einem Modefotografen zur Hand ging und gerade damit beschäftigt war, Kameras, Kabel und Fotoleuchten in Kisten zu verpacken, die zum Zwecke von Aufnahmen für einen Versandhauskatalog nach Mallorca geflogen werden sollten.
»Wie ein verwundeter Stier stampfte und schnaubte er zwischen den Kisten herum«, berichtete Arno später in unserem Keller. »Aber von nun an überließ er nichts mehr dem Zufall. Zwar musste er zähneknirschend zusehen, wie ich den Antrag auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer stellte, zur Verhandlung beim Kreiswehrersatzamt führte er mich jedoch persönlich vor. Pausenlos, bis zum Verhandlungszimmer, schärfte er mir seine Moralvorstellungen ein und als ich schließlich so tat, als ob ich ihm zustimmte, unterstrich er seine Predigt mit einer Ohrfeige. Ihr wisst schon, nach dem bewährten Motto: Im rechten Moment ein paar Schläge zwischen die Hörner haben noch keinem geschadet.«
Wir kannten Arnos verbittertes Grinsen, wenn er über seinen Vater sprach. Doch jetzt hatte sich etwas daran verändert, jetzt verbarg dieses Grinsen nicht länger die tiefe Abneigung, die bisher unter der Bitterkeit geschwelt hatte.
Arno schlug nicht zurück. Er verabscheute Gewalt und er wollte den Stolz seines Vaters nicht noch weiter ramponieren. Den Prüfungsausschuss, dem die Szene auf dem Flur vorenthalten blieb, beeindruckte er mit seiner Gewaltlosigkeit allerdings nicht.
»Den Vorsitz hatte ein blutleerer Schwächling, der aussah, als spiele sich sein Leben in einem endlosen Jammertal ab«, erzählte Arno. »Doktor Hirn! Einen treffenderen Namen hätte dieser Inquisitor gar nicht haben können. An seiner Seite hockten drei kaum weniger blasse Beisitzer, die sich sichtlich unwohl in ihrer Haut fühlten. Das Team kam nach kurzer Beratung zu dem Schluss, dass meine innere Überzeugung von Recht und Unrecht - sie sprachen von sittlicher Gesinnung - nicht genügend ausgeprägt sei. Dieser Hirn war schon ein famoser Kerl. Er brauchte nur zehn Minuten, um mir klarzumachen, dass ich sozusagen kein Gewissen hätte und deshalb nicht berechtigt sei, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern.«
Der Widerstand unserer Leitfigur schien gebrochen. In den verbleibenden Wochen lernte er wie ein Besessener und in unserem Keller sahen wir ihn nur noch selten, was allerdings weniger mit seiner plötzlichen Arbeitswut zusammenhing. Es lag an der Konkurrenz, die der Beat nach seinem Hamburg-Trip bekommen hatte: der Fotografie. Sie wurde seine neue Leidenschaft, für die er am Ende sogar Hanna aufgab.
Alfred Kubitzky, ein greiser Fotohändler, der sein Geschäft auflöste, unterstützte und beriet ihn. Arno half ihm beim Entrümpeln des Ladens und bekam als Geschenk dafür eine alte Leica.
Zunächst porträtierte er unsere bleichen, von Zigarettenqualm umwölkten Gesichter unzählige Male, dann interessierten ihn die Strukturen, die die abgeblätterten Farbreste an den Ziegelsteinwänden des Kellergewölbes hinterlassen hatten und schließlich wurde ihm der verräucherte Keller zu eng und er streifte durch die Hinterhöfe der Altstadt.
»Die Tristesse des Vergessenen bietet einem völlig neue Sehweisen«, behauptete er geschwollen. »Ihr glaubt ja nicht, welche Farbstimmungen man dort entdecken kann.«
Wir nickten verständnisvoll und lobten seine Fotos. Tatsächlich jedoch verstanden wir kein Wort und hielten ihn insgeheim für leicht übergeschnappt, wenn er ins Schwärmen geriet, offensichtlich fasziniert von ausgebleichten Unterröcken auf Wäscheleinen vor rissigem Fachwerk oder rostendem Werkstattschrott inmitten von Brennesseln und ausgetopften Geranien. Er entfernte sich von uns. Er war, ohne dass wir uns dessen bewusst wurden, der Erste, der das Nest unseres sorglosen Treibens verließ.
Aber die Einsicht, dass die Spielchen mit Rock ’n’ Roll und Mädchen und heimlichen Joints bald Episoden sein würden, holte auch uns unweigerlich ein. Plötzlich drangen Themen in den Keller, die mit all dem, was wir liebten, kaum in Einklang zu bringen waren: Berufswahl, Studium, Zukunft - Alter. Irgendwie unvorstellbar und keiner wusste, wie man dem entkommen konnte.
Erst am Schluss, als die Abiturprüfungen mit mehr oder weniger befriedigendem Erfolg hinter uns lagen, kehrten wir alle noch einmal zu alter Unbekümmertheit zurück. Wir setzten keinen Schlusspunkt sondern ein Ausrufezeichen hinter das Kapitel Schule. Von dem Augenblick an, als die Voices die Saiten ihrer elektrisch verstärkten Gitarren zu drangsalieren begannen und der Schlagzeuger seine Trommeln in Schutt und Asche legte, von dem Augenblick an verwandelte sich die Aula unserer humanistischen Lehranstalt in ein Tollhaus. Weder das Streichquartett, das den offiziellen Teil des Abschlussballs untermalt hatte, noch Lehrer, Eltern und Verwandte, alle in feierlicher Schale, hielten dem Ansturm des Rock ’n’ Roll stand. Noch einmal rückten wir trotzig zusammen, badeten förmlich in Alkohol und tobten uns mit wilden Tänzen und hemmungslosem Geknutsche aus. Es war ein mutmachendes Durcheinander und gleichzeitig ein Abgesang auf unsere kindliche Vorstellung von Freiheit.
Kurz darauf tauschten viele von uns die Bluejeans und Wildlederschuhe gegen olive Kampfanzüge und schwarze, Blasen erzeugende Lederstiefel, die man in Fachkreisen Knobelbecher nannte. Während sich auf Europas Straßen die außerparlamentarische Opposition formierte, amerikanisches Napalm den vietnamesischen Dschungel niederbrannte und Panzer des Warschauer-Paktes den Frühling in Prag platt walzten, bekamen wir auf Kasernenhöfen den Gleichschritt eingedrillt. Befehl und Gehorsam als Seelenmassage. Die Weltgeschichte fand zwischen Bier und Poker statt, war nur noch ein Flirren auf der Mattscheibe des Fernsehgerätes in der Kantine.