Читать книгу Sperlings Suche nach dem Lachen - Norbert Aschenbrenner - Страница 9

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Ich bin übermüdet nach einem Wochenende ohne Schlaf. Meine Schüler bemerken das, aber sie nutzen meine Schwäche nicht aus. Im Gegenteil. Sie rezitieren Verse, als gelte es, bei einem Festival der deutschen Nachkriegslyrik einen Preis zu gewinnen. Allein ich passe nicht in dieses Bild, denn meine Gedanken irren noch irgendwo in der vergangenen Nacht herum ...

Beim Blättern und Lesen in Arnos Heften komme ich mir wie ein Schlüssellochgucker vor, wie ein mieser Voyeur, der sich an den privaten Notizen eines anderen aufgeilt wie an einem Striptease. Und tatsächlich schreibt Arno selbst einmal: Manche Sätze fließen aufs Papier, als würde meine Seele einen Striptease machen.

Und die Bilder? Was präsentiert mir der von der Schule geliehene Projektor? Was füllt im ermüdenden Wechsel von Hell und Dunkel die Leinwand?

Idyllische Motive; malerische, geradezu poetische Bildträume aus einer heilen Welt abseits der großen Straßen: Rapsfelder im Vordergrund, dahinter Streifen von Wiesen, Äckern und Wald, über denen sich endloser Himmel spannt; Landschaften, mit einer Strenge komponiert, als sollten sie schichtweise in Karteikästen abgelegt werden; weidende Pferde vor einem See, in dem die untergehende Sonne ihr Gold auswäscht; beladene Heuwagen in düsteren Scheunen; ganze Hühnervölker, denen Legebatterien fremd sind, scharren und picken ungestört zwischen dem Sandsteinpflaster von beschaulichen Hinterhöfen; alte Bäuerinnen mit karierten Kopftüchern beim Plausch über den Staketenzaun hinweg oder auf schattigen Bänken beim Bohnenschneiden; verschwitzte, unrasierte Männergesichter auf Traktoren; und immer wieder Dorothea. Dorothea mit schweißnassem Gesicht beim Laufen und beim Hanteltraining; Dorothea in Jeans und luftigen Sommerkleidern; Dorothea mit abwesendem Gesicht beim Lesen; Dorothea im Bikini, sonnengebräunt zwischen schroffen Felsen liegend; Dorothea in weißem Leinen beim Picknick auf einer Gräseroase inmitten von sonnendurchfluteten Buchen; Dorothea als Akt im Gegenlicht zwischen den reifen Halmen eines Getreidefeldes; Dorothea - unerschöpfliche Dorothea.

Ich bewundere die Aufnahmen. Ihre Harmonie von Licht und Schatten strahlt etwas von der Aura alter Mahlereien aus. Ihre Objekte, so scheint es mir, gehören zu einer vergangenen Epoche - außer Dorothea natürlich. Manchmal haben sie etwas geradezu kitschig Schönes.

Nach all den Scheußlichkeiten, die Arno jahrelang publikumswirksam in Szene gesetzt hat, muss das Komponieren dieser Fotografien wie eine Genesungskur gewirkt haben. Trotzdem sind sie meilenweit vom Thema unseres Projektes, dem Lachen, entfernt. Vielleicht irre ich mich. Ganz sicher bin ich nicht der geeignete Kritiker. Jedenfalls habe ich anderes erwartet.

Gestern Abend habe ich meine Geheimniskrämerei aufgegeben und Laura gebeten, sich die Dias anzusehen. Sie sträubte sich zuerst, brauchte ein paar Komplimente, die ihren gekränkten Stolz ins Lot brachten, aber dann war sie begeistert. Ich musste die Diamagazine vorwärts und rückwärts durch den Projektor wandern lassen.

»Er ist ein Künstler! Was immer er sonst noch sein mag - er ist ein Künstler! Euer Buch wird wunderbar werden!«

»Mag sein«, sagte ich und legte ihr den Arm um die Schulter. »Es ist nur so, dass diese Sachen nichts damit zu tun haben.«

»Nicht?«

»Nein, wir wollten eigentlich, um bei seinen ländlichen Motiven zu bleiben, ein anderes Feld beackern.«

»Das verstehe ich nicht. Warum schickt er sie dir, wenn sie nicht verwendet werden sollen?«

»Genau das ist es, was ich nicht verstehe. Er will mir etwas mitteilen oder zumindest ein Zeichen geben, davon bin ich überzeugt. Wenn es anders wäre, hätte er mir seine Aufzeichnungen nicht zugespielt. Es muss einen Grund geben, aber bisher habe ich keinen Anhaltspunkt gefunden.«

»Du bist besorgt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und wenn es nur wegen dieser ... Dorothea ist.«

»Daran habe ich auch schon gedacht und eine Zeitlang hat mich der Gedanke beruhigt.«

»Beruhigt? Der Gedanke an dieses Flittchen erscheint mir eher beunruhigend.«

»Warum sprichst du so abfällig über sie? Du kennst sie doch gar nicht.«

»Sie hat seine Ehe zerstört. Ist das nicht Grund genug?«

»Wie kommst du darauf? Arno sieht das anders.«

»Männer sehen das immer anders. Ich hoffe nur, dass er dich nicht zu sehr beeinflusst hat.«

»Bist du etwa eifersüchtig auf die Frau eines anderen?«

»Seine Frau? Sie ist nicht seine Frau. Ich will dich nur warnen, das ist alles.«

Sie funkelte mich zornig an und rückte von mir weg. Ihre Begeisterung für Arnos Bilder war verflogen.

»Du bist wunderschön, wenn du wütend bist«, wagte ich einen Besänftigungsversuch. »Lass uns nach oben gehen und feststellen, ob ich bereits unter Arnos Einfluss gelitten habe ... oder unter Dorotheas.« Ich hatte es gesehen, das Fettnäpfchen, aber ich war zu müde, um ihm auszuweichen.

»Schuft!«, zischte sie.

Der Gute-Nacht-Gruß meiner tüchtigen aber humorlosen Laura. Lautlos wie eine Katze huschte sie die Treppe hinauf und ließ mich mit Arnos Geschichte allein.

Es war kurz nach vier, als ich die Hefte beiseite legte und die Schreibtischlampe ausschaltete. Ich befand mich in jenem seltsam wachen Zustand, in dem man, nach dem Überwinden der Müdigkeit, das Gefühl für die Zeit verliert und wie in einem Rausch dahintaumelt. Anfangs genügt zum Wachbleiben die bloße Willenskraft, später braucht es starken Kaffee und zuletzt, wenn die Augenlider den Befehlen des Gehirns nicht mehr gehorchen wollen, hilft eine Zeitlang ein Cocktail aus Kaffee und Kognak. Vorgestern hatte ich dieses letzte Stadium gegen halb fünf erreicht, gestern um halb drei.

Meine Denkmaschinerie hatte sich bereits ins Eismeer zurückgezogen, als ich fröstelnd zu Laura ins Bett kroch, um meine Hände an ihren Brüsten zu wärmen. Ihre kühle Distanz, ihre träges Seufzen, als ob sie ein notwendiges Übel über sich ergehen ließe, ihre trockenen Lippen, trocken und spröde wie ihr Schoß. Von dieser Frau, meiner Frau, ging etwas Beängstigendes aus. Mein Gesicht floh vor ihrem spöttischen Lächeln und vergrub sich hinter ihrem Ohr im Kissen. Herablassend gnädig besorgten ihre Finger schließlich den Rest. Dabei schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass von nun an unsere Umarmungen bis ans Ende aller Tage so oder ähnlich ablaufen würden. Beklemmende Aussichten. Dann fiel ich in einen Traum, in dem ich japsend hinter Dorothea herlief. Ich stolperte durch Felder und Hügel hinauf, die mir fremd waren und doch irgendwie vertraut vorkamen. Woher? Es fiel mir nicht ein.

Später, während Laura frisch wie ein Frühlingsmorgen in der Küche herumwuselte und Kaffee aufsetzte, rasierte ich schlaftrunken den fremden Kerl mit den dunklen Augenringen.

Die Erinnerung an Laura, an ihre teilnahmslose Hingabe, vermischt sich mit den lyrischen Darbietungen meiner Schüler.

Sylvia Mattausch, die Prima in Deutsch, kommt nach vorne. Ich halte sie für eine Naturbegabung, die ich mir durchaus auf einer großen Bühne vorstellen kann. Ihre klare, manchmal schmerzhaft sachliche Stimme, die ohne pathetische Schnörkel Reiner Kunzes Verse vorträgt.

Es ist muksmäuschenstill im Klassenzimmer, als würde plötzlich allen die Zerbrechlichkeit der Leidenschaft bewusst.

Ich schäme mich meiner Müdigkeit. Ich gehe zum Fenster, den Rücken zur Klasse gekehrt, damit sie meine stumpfen Augen nicht sehen.

Sylvias Stimme entführt uns für eine Weile weit fort von dem Schauspiel, das draußen ein regnerischer Oktobertag gibt, der die Erinnerung an die Rose, von der sie gerade spricht, in eine Kolonie des Absurden zu vertreiben droht: »... Die Liebe ist eine wilde Rose in uns, unerforschbar vom Verstand und ihm nicht untertan. Aber der Verstand ist ein Messer in uns. Der Verstand ist ein Messer in uns zu schneiden der Rose durch hundert Zweige einen Himmel.«

»Danke, Sylvia. Ich danke euch allen. Die Stunde war wirklich etwas Besonderes«, sage ich und bin froh, dass mich endlich die Pausenglocke erlöst. Aber die Gedanken an Arnos engbeschriebene Hefte lassen sich nicht, wie meine Schüler, von einem schrillen Läuten verscheuchen. Sie verfolgen mich durch das von Jugendlichen wimmelnde Treppenhaus der Schule.

Den von Arno beklagten Verlust des Lachens hatte ich insgeheim für eine Marotte gehalten, für eine übersteigerte Reaktion auf seine Erfahrungen als Fotoreporter in den Armenhäusern dieser Welt. Allmählich schält sich jedoch aus dem Gestrüpp seiner Notizen etwas heraus, was mich ahnen lässt, dass es mehr als eine abgedroschene Sprachhülse war, wenn er behauptete, erst wieder klar im Kopf werden zu müssen.

Er wähnt sein Material bei mir in sicheren Händen, so weit, so gut, doch niemals war die Rede davon, dass die Arbeit an dem Bilderbuch-Manuskript allein mir überlassen bliebe.

»Sie wissen, was Sie damit tun sollen ... Bei Ihnen werden die nicht danach suchen ...« Dorotheas Worte hallen in mir wider und verdrängen die Gespräche der Kollegen im überfüllten Lehrerzimmer. Der Verdacht beschleicht mich, dass das Buchprojekt nur ein Vorwand war, ein Stück Speck, nach dem ich in meiner Eitelkeit geschnappt habe. Aber selbst wenn es so war oder ist: Je mehr ich in Arnos Leben herumstochere, desto häufiger finde ich mich in den Fußstapfen meiner eigenen kleinbürgerlichen Existenz wieder. Meine Müdigkeit lehnt sich vergeblich gegen die Versuchung auf. Ich greife in meine Tasche und ziehe eins von Arnos Heften heraus.

Sperlings Suche nach dem Lachen

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