Читать книгу Sperlings Suche nach dem Lachen - Norbert Aschenbrenner - Страница 6

4

Оглавление

»Tut mir Leid, alter Junge, wenn ich deinen häuslichen Frieden so unangemeldet störe, aber ich brauche ein paar kluge Sätze von dir.«

Ich erinnere mich nicht mehr, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen, als Arno Sperling an jenem diesigen Dezemberabend des vergangenen Jahres in unser Haus wirbelte. Ich winkte ihn sprachlos herein und ließ mich bereitwillig von seinem Tatendrang anstecken, so als hätte etwas in mir nur auf einen Kick gewartet, der meine trübe Stimmung wegfegte.

Äußerlich hatte ihn die Zeit verschont. Im Gegensatz zu meinen Stoppeln, die sich zu streiten scheinen, ob sie erst grau werden oder gleich ausfallen sollen, war sein Haar dunkel, dicht und lockig wie damals, während der Flower-Power-Zeit; als habe man noch immer keinen Kamm erfunden, mit dem er die launischen Büschel bändigen konnte, die sich über seinen Hemdkragen kringelten.

Obwohl er hager aussah, ohne Bauchansatz und Hüftringen über dem Gürtel, und damit in keinster Weise dem Stammtischklischee gerecht wurde, dass ein Mann ohne Bauch eigentlich kein richtiger Mann sei, wirkte er dennoch nicht athletisch wie ein Dressman, dazu fehlte seinen Bewegungen der trainierte Schliff. Trotz seiner Impulsivität kam er mir ungelenk und eckig vor, als läge ihm nichts ferner als der Schablone eines abgetakelten Zehnkämpfers zu entsprechen, einem Wunschbild, das heutzutage vielen Männern unseres Alters vorschwebt und für das sie sich zäh und schweißtreibend durch den Gerätepark von Fitness-Studios strampeln. Arno war eher eine Karikatur dieses modernen Ideals. Seine leicht nach vorn hängenden Schultern und sein wippender unmilitärischer Gang schienen mit jedem Schritt das unvergessene Kasernenhofgeplärr »Brust raus und Arsch zusammenkneifen, damit ein Fünfmarkstück die Prägung verliert!« lügen strafen zu wollen. Zwei Reihen makelloser, jedem Gesundheitsreformgesetz spottender Zähne blinkten mich an und seine Augen, seidiges Blau unter kräftigen Brauenschwüngen, funkelten so spitzbübisch wie einst, als er der Schrecken unserer Schule gewesen war.

Er tat so, als lägen nicht Äonen von kleinen Alltagssorgen zwischen uns, sondern als seien wir uns erst beim Frühstück zuletzt begegnet. Er sprühte vor burschikosem Witz und taxierte Laura mit unverhohlenen Blicken, in denen ich ein anerkennendes Leuchten zu erkennen glaubte. Der Eifer, mit dem er seine Sätze abspulte, erstickte jeden meiner Einwände, so dass ich ihn schließlich nicht mehr zu unterbrechen versuchte und mich mit der Rolle des Zuhörers begnügte.

Während er plaudernd durchs Zimmer schritt, musterte er verstohlen das Mobiliar und verweilte, ohne seinen Redeschwall zu vermindern, einige Augenblicke vor den beiden Lithographien von Chagalls Ich und das Dorf und Otto Dix' Drei Dirnen auf der Straße.

»Ein prima Nest habt ihr euch gebaut«, sagte er beiläufig. »Hier kann man sich wohlfühlen.«

Sein Überrumpelungsmanöver hatte uns so sehr verblüfft, dass wir erst wieder zu uns fanden, als er sich plötzlich in einen Sessel fallen ließ und mit gierigen Schlucken das Bier austrank, das ihm Laura inzwischen eingeschenkt hatte. Ich lachte still in mich hinein, als ich sah, wie sie, sichtlich von seinem Charme angetan, um ihn herumschwänzelte und ihn anhimmelte.

Ich gebe zu, auch mich hatte er beeindruckt, aber im Gegensatz zu Laura spürte ich die Spannung, die er ausstrahlte. Gewiss, er war auch seinerzeit ein quicklebendiger Bursche gewesen, doch schien er mir jetzt eine Spur zu kess; seine Lässigkeit kam mir irgendwie aufgesetzt vor.

Er lobte meine beiden Kurzgeschichten, die kürzlich in der Sonntagszeitung erschienen waren. Erst sie hätten ihn auf den Gedanken gebracht, mir seinen Plan vorzutragen. »Deine Schreibe hat etwas ... Das Resultat einer fleißigen Jugend«, sagte er augenzwinkernd zu Laura gewandt. Dann griff er nach seiner Ledermappe, öffnete den Reißverschluss und zog eine Handvoll Skizzen und Fotografien heraus. »Ich habe bisher nur sporadisch daran gearbeitet«, sagte er, während ich die in Klarsichtfolien steckenden großformatigen Fotos betrachtete, »doch das wird sich nun ändern. Man hat mir eine Dozentenstelle an der Kunsthochschule angeboten. Aber das bleibt unter uns, davon weiß noch niemand etwas und noch habe ich nicht zugesagt. Bevor ich den Leuten etwas über Fotografie erzähle, will ich zunächst dies hier zu Ende bringen. Erst muss ich raus aus allem und den Kopf frei kriegen.«

Wovon er sich befreien müsse, sagte er an diesem ersten Abend nicht und meine Zwischenfragen, an welche Art »kluger Sätze« er gedacht habe, die ich zu seinem Buchprojekt beitragen solle, ließ er unbeantwortet im Raum stehen.

»Für Einzelheiten ist später noch Zeit«, meinte er, »heute will ich dich nur für mein Konzept gewinnen. Genauer gesagt, für das Lachen.«

»Das Lachen?«

»Ja, das Lachen! ... Hast du dich mal in unseren Straßen umgesehen? Ist dir nicht aufgefallen, dass der Verlust des Lachens wie eine schleichende Seuche grassiert? Auch ich hab’s verlernt oder in irgendeinem Flüchtlingslager verloren. Vielleicht habe ich’s auch nie wirklich gekonnt, wie so vieles, wer weiß. Aber vom Bildermachen verstehe ich etwas und deshalb will ich versuchen, das Lachen, solange es noch irgendwo existiert, ausfindig zu machen, gleichgültig, ob es mir freundlich, fröhlich, bösartig, zynisch, herzlich, hinterhältig, ironisch, diebisch oder sonstwie skurril vor die Kamera läuft ... Ich sehe dir an, dass dir der Gedanke absonderlich vorkommt, aber wenn du willst, kannst du das Ganze auch als Therapie betrachten, um meine verkorkste Seele wieder einzunorden.«

Mir kam das alles tatsächlich ziemlich abstrakt vor, wenig greifbar und noch weniger durchdacht -fast wie das Resultat einer Bierlaune. Ein Bilderbuch des Lachens. Eine seltsame Idee, fand ich, fernab von allem, mit dem ich mich bei meiner Schreiberei bisher beschäftigt hatte. Für Arno jedoch stellte dieses Projekt offensichtlich eine logische Konsequenz seiner Arbeit dar und es schien für ihn selbstverständlich zu sein, dass ich mich daran beteiligte.

So plötzlich wie er hereingeschneit war, verschwand er dann auch wieder; beinahe fluchtartig, wie nach einem Überfall. Einen Moment lang zweifelte ich, ob ich tatsächlich ihm oder einem Phantom der Vergangenheit begegnet war.

»Das soll fürs Erste genügen«, sagte er, schwang sich ruckartig aus dem Sessel, drückte mir die Hand und hauchte Laura einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Mach dir schon mal ein paar Gedanken über die Texte. Bibliotheken sind nichts für mich, fühle ich mich dort immer furchtbar einsam. Ihr hört bald wieder von mir.«

Wir waren uns seit mehr als zwanzig Jahren nicht begegnet und wussten infolgedessen kaum etwas voneinander, was über die gemeinsame Schulzeit hinausreichte. Selbst bei den regelmäßig stattfindenden Klassentreffen hatten wir uns bislang stets verpasst.

Vielleicht wusste er mehr von mir, als ich von ihm, vielleicht hatte er vor seinem Besuch Erkundigungen bei gemeinsamen Bekannten von einst eingeholt. Es kam mir jedenfalls seltsam vor, mit welcher Vertraulichkeit er mich nach all der Zeit, während der wir uns aus den Augen verloren hatten, nun umgarnte. Wären wir einst Freunde gewesen, deren Lebensläufe durch die Willkür des Alltags auseindergetriftet sind, hätte ich mir seinen Besuch zweifellos leichter erklären können, aber zu wirklicher Freundschaft hatte es nie gereicht. Warum? Diese Frage lässt sich nicht mit wenigen Sätzen beantworten, denn zuviel Zeit türmt sich zwischen heute und damals, Zeit, die die Tretmühle meines Alltags längst zu Staub zerrieben hat. Ich kann nur versuchen, mich zu erinnern.

Wahllos blättere ich in Arnos Heften. Lückenhafte Annäherung. Manchmal ein Lächeln, wenn ich entdecke, dass er gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Das schafft Nähe, aber noch weckt kein Satz gemeinsam Erlebtes. Die Zeit hat eine breitere Kluft gerissen als ich dachte und es kommt mir vor, als würde sie mit jedem Satz, den ich lese, weiter wachsen. Aber ich bin überzeugt davon, dass Arno mir ein Zeichen geben wollte und deshalb darf ich nicht nur an der Oberfläche kratzen.

Warum fällt es mir so schwer, tiefer als bisher in den Karton hineinzukriechen und mit der Sorgfalt eines Obduzenten - Heft für Heft, Zeile für Zeile, Dia für Dia - das mir vorliegende Material zu sezieren und in Konkurrenz zu der eigenen abgelebten Zeit zu stellen?

Ein neuer Versuch, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen:

Ich grabe alte Fotoalben aus, blättere wie ein Fährtensucher im Staub des Dachbodens in Aufsatzheften, deren Seiten mit ungelenken aber irgendwie vertrauten Schriftzeichen bedeckt sind. Natty Bumppo, der Lederstrumpf, mein Held jener frühen Jugendjahre, schaut mir dabei über die Schulter und lächelt ermutigend, als wolle er mir zu verstehen geben, dass ich den richtigen Einstieg ins verschüttet geglaubte Labyrinth der eigenen Vergangenheit gefunden habe.

Die angegilbten Fotos von Schulausflügen zeigen Knaben auf der Saalburg und vor dem Hermannsdenkmal, die schlacksig posierend Selbstbewusstsein, Aufmüpfigkeit - Erwachsensein? - zur Schau stellen.

Die Konfirmation: Gesichter, die sich nirgends einordnen lassen wollen, umrahmen einen dürren Burschen, dessen Ähnlichkeit mit den Aufnahmen anlässlich meiner Einschulung, die mich mit Zuckertüte und Schildmütze zeigen, nicht zu leugnen ist.

Ein Zeltlager an der Ostsee: Schnappschüsse beim Kartoffelschälen und bei der Frühgymnastik.

Die Bilder sind zwar ausgebleicht, beweisen aber unbestechlich meine Identität. Da hilft keine Ausflucht ins Lächerliche, ins Nicht-wahrhaben-wollen: dieser unscheinbare, überall nach Halt suchende, verkniffen in die Kamera blinzelnde junge Mensch bin ich! Aber um mich geht es nicht, meine eigenen Geschichten - besser gesagt, diejenigen, von denen meine Erinnerung ein verschwommenes Signal des Erkennens sendet - bezeugen außer verlorengegangenen Träumen keine bemerkenswerte Heldenhaftigkeit, was Natty Bumppo mitleidig nickend bestätigt. Nein, um mich geht es nicht. Ich war immer nur ein Mitläufer, ein Zuschauer und jeder weitere Satz über meine Person wäre Verschwendung. Aber ich bemühe mich, der Chronist einer Geschichte zu werden, von der meine eigene vor langer Zeit maßgeblich beeinflusst wurde.

Noch kann ich nichts Geheimnisvolles in Arnos Aufzeichnungen entdecken. Zu sehr geht alles durcheinander. Als hätte er in allen zwölf Heften gleichzeitig geschrieben. Vieles, was mir bereits aus unseren Gesprächen bekannt ist, findet sich darin wieder.

Ich glucke über dem Karton als gelte es, die britischen Kronjuwelen zu bewachen, halte mein Arbeitszimmer verschlossen und trage den Schlüssel bei mir, was Lauras Misstrauen geweckt hat. Sie findet es ungehörig, dass ich ihr die Einsicht in Arnos Papiere verweigere und außerdem würde sie gerne mal wieder mit dem Staubsauger gegen die imaginären Schmutzberge vorgehen. Wahrscheinlich hat sie Recht, denn, wie gesagt, bei meiner bisherigen Durchsicht bin ich auf nichts gestoßen, was einen Bruch meines Ehefriedens oder den Vermerk »Streng vertraulich« rechtfertigen würde.

Zugegeben, Arnos Besuche fehlen mir. Unsere Gespräche über das Bilderbuch, aus denen sich unbeabsichtigt ein wechselseitiger Austausch von abgelebter Vergangenheit entwickelt hatte, der mich insoweit verwirrte, als er den Status quo meiner Gegenwart zumindest fragwürdig erscheinen ließ. Die Erkenntnis, dass ich vermutlich noch immer der gleiche Streber bin, der ich mit dreizehn war, ist schwer verdaulich. Verglichen mit Arno scheine ich nur biologisch gereift zu sein. Ein Heimchen, das sich bis zum Ausfallen des letzten Haares an irgendeinen Rockzipfel klammert, um sich nur ja geborgen fühlen zu können. Bin ich am Ende aus lauter Mutlosigkeit Lehrer geworden, Beamter auf Lebenszeit?

Sperlings Suche nach dem Lachen

Подняться наверх