Читать книгу Zwei Fischköppe in den Anden - Norbert Hinz - Страница 8

Tata Tatio – „der rauchende Vater“

Оглавление

So nennen die Indianer des Hochgebirges die höchsten Geysire der Welt. Da muss ich hin, ich möchte die heißen Quellen, die Geysire und Dampfaustrittsstellen sehen. Dort soll die Erde kochen.

Der Parque Nacional Pan de Azúcar, auch Zuckerhut genannt, liegt auf dem Weg dorthin. Er befindet sich direkt am Pazifik. Die Anden verlaufen durch den Park und reichen hier bis ans Wasser. Auf einer vorgelagerten gleichnamigen Insel, Isla Pan de Azúcar, die 800 Meter aus dem Ozean ragt, leben Humboldtpinguine. Der Blick vom felsigen Ufer ist grandios. Die Wellen brechen lautstark an den Klippen. In einer kleinen überdachten Nische baue ich mit voller Gelassenheit das Zelt auf, genieße die Einsamkeit und bin über den schönen Schlafplatz mit Koch- und Grillstelle erfreut.

Biankas Freude hält sich Grenzen, ihr ist kalt und sie sagt: „Wir müssen uns beeilen, es wird gleich Regen geben.“

Ich muss innerlich grinsen und kann sie beruhigen: „Wir befinden uns in einer nebelreichen Küstenwüste, einem Naturereignis, wir sind mitten im Camanchaca-Phänomen. Es ist der dichte Nebel, der vom Meer kommt und sich an den Bergen staut. Auch, wenn es so aussieht, Regen gibt es fast nie.“

Bianka kümmert sich ums Abendbrot. Es gibt Spagetti aus Deutschland und Chachacoma-Tee von den Rosies. Im Anschluss machen wir noch einen Strandspaziergang. Ein Pickup mit drei Männern kommt, er fährt direkt auf uns zu. Die Männer steigen aus, begrüßen uns und gehen mit ihren Wathosen ins Wasser, um zu angeln.

Die erste Nacht in Südamerika im Zelt, an solch einem magischen Ort, ist traumerfüllt. Am Morgen stehe ich in aller Herrgottsfrühe auf, setze mir eine Kopflampe über die Mütze und spreche auf das Diktiergerät. Ich möchte die erlebten Tage für immer festhalten, falls die Erinnerungen an Farbe verlieren sollten. Es ist stark bewölkt und nicht zu erkennen, wo die Sonne aufgehen wird. Durch den Park strolcht ein Fuchs, der Himmel wird gleichmäßig heller und hinterlässt bei mir eine beeindruckende Wirkung. Es ist ein ganz spezieller Sonnenaufgang, als wäre er nur für mich gemacht. Die Wolken hängen tief, es ist diesig und feucht. Die zahlreichen Kakteenarten und Sträucher, die zwischen den Felsen wachsen, saugen ihre Lebensenergie aus der Luft.

Unser Wasser geht zur Neige. Eine Erfahrung, die wir so nicht kannten. Die Campingsachen sind schnell gepackt und am Motorrad verzurrt. Wir fahren über eine super Piste durch den wunderschönen Park und wollen auf der Panamericana irgendwo etwas zu trinken kaufen. Allerdings haben wir erst nach 145 Kilometern in Taltal die Gelegenheit. Hier treffen wir ein junges Paar, das mit seinem alten VW-Bus, wie wir, durch den Nationalpark fährt. Sie wollen ebenfalls über Antofagasta und Calama nach San Pedro de Atacama.

Die dicke Berta hat weitere zehn Kilo zu schleppen - wir haben Trinkwasser gebunkert. Dass es uns wieder ausgeht, soll nicht noch einmal passieren. Auch das ist eine Umstellung: Die Ortschaften liegen weit auseinander.

Wieder in aller Einsamkeit auf der Straße bekomme ich irgendwann ein mulmiges Gefühl und frage Bianka mit Taucherzeichen, ob alles okay ist, indem ich Daumen und Zeigefinger zu einem O forme. Sie erwidert mein Zeichen nicht, sondern schüttelt die ganze Hand. Ich fahre rechts ran und wir steigen ab. Bianka weint. Sie hat Angst und kommt sich in der Weite der Wüste verloren vor. Die brennende Sonne und der Wind verstärken ihr negatives Gefühl. Bewegungslos, wie gelähmt, steht meine heißgeliebte Frau neben dem Bike. Sie will keinen Meter mehr mit dem Motorrad durch die Wüste fahren. Hier bleiben will sie aber auch nicht und dass sie auf ein Auto wartet, will ich nicht.

Ich nehme die Situation, trotz der Schmerzen, ganz anders wahr, fühle mich absolut frei, kann meine Gedanken laufen lassen. Diese Dimensionen lösen in mir wieder einmal Glücksgefühle aus und machen Bock auf Abenteuer. Die Fahrt durch die Atacama ist eine Reise zu mir selbst.

Nachdem Bianka sich beruhigt hat, fahren wir weiter. Nach 150 Kilometern hat sie das nächste Problem vor Augen. Vor uns taucht ein Sandsturm auf.

Für mich wieder eine neue Situation, die es heißt, kennenzulernen, aber für Bianka eine zusätzliche Belastung. Mit eingeschalteten Nebelscheinwerfern fahren wir auf die Sandwand zu. Ich kann Bianka noch überreden, Fotos zu machen. Dann tauchen wir in die Sandwolke ein und haben keine Ahnung, was uns erwarten wird. Es prasseln kleine Sandkörner auf uns ein, weil die Sicht wird immer schlechter wird, ich mich auf meine Augen nicht mehr verlassen kann, ist mein Gehör hellwach. Ich vernehme deutlich das Rieseln der kleinen Steinchen am Helm und Visier und spüre, dass es Bianka hinter mir nicht gut geht. Vollkommen abgeschirmt von der Außenwelt mache ich mir so meine Gedanken: Wie lange wird der Sandsturm anhalten? Sind wir schon im Zentrum oder wird es noch schlimmer? Werden wir genügend Luft bekommen? Hoffentlich setzt uns der feine Sand nicht den Luftfilter zu, dass der Motor ausgeht und wir hier feststecken.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ist der Spuk vorbei und wir können wieder durchatmen.

Das Moto bringt uns hinter Calama auf einen Berg. Vor uns liegt ein riesiges Tal. Wir fahren und fahren, doch die Berge auf der anderen Seite wollen einfach nicht näher kommen. Nach 50 Kilometern haben wir das Tal endlich durchquert. Oben auf dem Scheitelpunkt des Berges erblickt man in der Ferne San Pedro. Mitten in der Wüste ist es grün. Diese Dimensionen muss man erst mal verstehen. Chile ist ein langer dünner Schlauch.

Die Oase San Pedro ist gleichzeitig ein Aussteigerort. Sie befindet sich zirka 2500 Meter über dem Meeresspiegel. Das Navi bringt uns zu einem Campingplatz. Der Ort ist touristisch, es gibt viele Tourenangebote zu den Naturphänomenen in der Umgebung. Im Tal herrschen annähernd dreißig Grad.

Wir gehen in ein Reisebüro und buchen eine Bustour zu den ersehnten Geysiren. Das Geothermalgebiet mit den zahlreichen heißen Quellen liegt am Fuße des Vulkankraters El Tatio. Der Krater misst eine stattliche Höhe von 4280 Meter und gehört zur Vulkanregion Altiplano-Puna. Die neu erworbenen Bustickets lassen mein Herz schneller schlagen, denn die Geysire von El Tatio sind auf meiner persönlichen Wunschliste weit oben zu finden.

Auf dem Rückweg zum Campingplatz sinken rasch die Temperaturen. Wie schnell es sich in der Wüste abkühlt, ist wieder eine neue Erfahrung für uns. Wir gehen mit Thermowäsche bekleidet kurz nach sieben Uhr ins Bett.

Schon um halb vier reißt uns der Wecker wieder aus dem Schlaf. Das war die erste Hürde, die zweite muss noch genommen werden und steht kurz darauf direkt vor uns. Es sind zwei bellende und knurrende große Hunde, die uns mitten in der Nacht nicht vom Campingplatz lassen wollen. Wir hätten ja auch lieber länger geschlafen, aber die Tour startet um vier. Ich spreche die Hunde scharf an und sie lassen uns widerwillig passieren.

Im kleinen Reisebus ist es kalt und ein Weiterschlafen nicht möglich. Nach 90 Kilometern schlechter Piste betreten wir um sechs Uhr, kurz vor Sonnenaufgang, die Geysire.Überall zischt, dampft und blubbert es. Einige Dampfsäulen sind zwanzig Meter hoch. Das Gebiet umfasst mehrere Quadratkilometer und wird zu Recht rauchender Vater genannt. Es herrschen minus 16 Grad Celsius. Bianka und mich plagen aufgrund der Höhe starke Kopfschmerzen. Die Strapazen und das rechtzeitige Aufstehen hat sich dennoch gelohnt. Dieses Naturschauspiel ist am besten frühmorgens zu bewundern. Steigt die Sonne höher und damit auch die Temperaturen, lässt die Wirkung dieses Phänomens wie von Geisterhand augenblicklich nach.

Zum Frühstück gibt es unter anderem warme Eier, sie werden in den heißen Quellen gekocht.

Der Rückweg nach San Pedro führt an einem aktiven Vulkan und einer Lagune mit Flamingos vorbei. Den erlebnisreichen Tag lassen wir in einem der zahlreichen Restaurants ausklingen, bevor es wieder ins kalte Zelt geht.

Am Tag darauf bringt uns das Bike bei 31 Grad auf einen Tagesausflug in das Reservat Nacional Los Flamencos. Über eine Sandpiste geht es auf den Salar de Atacama. Wir suchen den Salzsee Lago Chaxa. Der See wird aus unterirdischen Wasseradern gespeist. Sie bringen auf ihrem langen Weg durch das Vulkangestein Mineralien und Salze mit.

Der Motor geht aus, wir steigen ab, schließen die Sturzhelme an und bezahlen am Eingang zum Reservat den Eintritt. Die letzten 400 Meter geht es zu Fuß zur Lagune. Es sind kaum andere Touristen unterwegs.

Ich lerne wieder ein neues Gefühl kennen: Schwerelosigkeit. Durch den hohen Salzgehalt schwimmt man wie ein Korken auf dem Wasser, muss dabei aber seine Augen schützen, denn durch die hohe basische Konzentration könnte man erblinden. Ein Bad soll zwanzig Minuten nicht überschreiten und ihm wird heilende Wirkung bei Gelenk-, Rücken- und Hautproblemen nachgesagt.

Den Rückweg zum Eingang, wo sich die Duschen befinden, gehe ich in T-Shirt, Motorradstiefeln und nasser Unterhose, denn meine Badehose habe ich vergessen. Bianka hat ihren Bikini und ihre Stiefel an sowie ein kleines Handtuch um die Hüfte gebunden. Die Motorradbekleidung tragen wir unterm Arm.

Wie es dann so ist, kommen in diesem Moment mehrere kleine Busse an. Sie bringen unzählige Touris mit. Die Leute legten einen seltsamen Gesichtsausdruck an den Tag, als sie an uns vorbeigehen. Es ist wie es ist und wie wir aussehen, ist uns relativ egal.

Das Duschen tut gut und spült das angetrocknete Salz runter.

Bei den Planungen der nächsten Etappen beziehe ich Bianka immer mit ein. Wir sprechen darüber, wie lange und wie weit wir pro Tag fahren wollen. Bianka ist nun langsam in Südamerika angekommen, sie wirkt etwas entspannter und sagt nur: „Da du schon weißt, wo du überall hinmöchtest und was du alles sehen möchtet, fahren wir da auch hin. Die Urlaubstouren hast du ja sowieso immer geplant in den letzten Jahren. Wenn ich nicht wieder über hundert Kilometer Fahrrad pro Tag fahren muss, komme ich mit dir bis an das Ende der Welt.“

Nach drei grandiosen Tagen San Pedro geht die Exkursion über die Ruta 23 und 24, Kurs Pazifik, nach Tocopilla weiter. Wir nutzen die Gelegenheit und machen einen Abstecher zur größten Kupfermine der Welt. In der Weite bedecken Staubwolken den Himmel. In Chuquicamata staubt es wie verrückt. Der Ort muss der Kupfermine langsam weichen, sie rückt immer näher. Die Arbeiter wohnen dort, auch sie müssen weichen. Sie haben gesundheitliche Probleme und siedeln sich im benachbarten Calama an. Was für ein riesiges Loch in der Erde, und es wird jeden Tag größer. Der Tagebau hat eine Tiefe von zirka 1000 Meter. Er ist 4000 Meter lang und 3000 Meter breit. Hier sehen wir Muldenkipper mit über 3000 PS und riesige Bagger im Einsatz. Sie reißen die Erde auf und verladen das gesprengte Gestein.

Am zwölften Fahrtag befördert uns das Dickschiff durch Iquique. Die moderne Stadt liegt direkt am Pazifik, wo wir eine Pause machen. Vom Café aus beobachten wir große Wellen. Sie brechen erst kurz vor dem Ufer und es wirkt, als wollen sie über den schmalen weißen Strand hinaus die Straße überqueren. Die Sonne scheint und wir sagen nichts, genießen einfach den Augenblick.

Ein großer vorbeifahrender LKW mit einem Container von Hamburg Süd holt uns zurück in das Hier und Jetzt, sodass wir aufbrechen und weiterfahren. Das Nachtquartier wollen wir neben Pisagua am Pazifik aufschlagen.

Ich hatte noch nie so einen starken Seitenwind. In der Pampa del Tamarugal zieht es wie Hechtsuppe. Der Wind weht von links, und wenn uns ein Bus oder Laster entgegenkommt, brauche ich fast die gesamte Fahrspur um das Motocicleta und meinen Kopf ruhigzuhalten. Nach zwei Stunden sind wir durch.

Hier bei Huara kann man den Riesen der Atacama sehen. Es handelt sich um eine anthropomorphe Geoglyphe. Weil Bianka auf Wüste keinen Bock mehr hat, fahren wir jedoch weiter. Ob ihr die Pampa denn besser gefallen hat, frage ich aus Sicherheitsgründen lieber nicht.

Nach 416 Kilometern im Sattel mit dem Dauerton des Windes auf den Ohren überqueren wir die Anden. Was für ein Bild, als wir in Pisagua einfahren. Von oben fallen uns verrostete Wellblechdächer, verlassene und halb eingestürzte Häuser ins Auge, es gleicht einer Geisterstadt. Die wenigen Einwohner drehen sich um und schauen uns hinterher.

Einen annehmbaren Schlafplatz zum Zelten können wir nicht finden. Die Mundharmonika vom Film „Spiel mir das Lied vom Tod“ klingt in unseren Ohren. Sie wirkt hier passend. Wo sind wir hier bloß gelandet? Es ist unheimlich, Bianka will am liebsten weg. Ich frage bei der ansässigen Polizeistation, ob es ein Hostel gibt. Zum Glück gibt es am anderen Ende des Ortes eins, wo wir auf der Terrasse einen bilderbuchhaften Pazifik genießen, in dem die Sonne verschwindet.

Am folgenden Morgen stehen wir früh auf. Im Frühstücksraum erwartet uns ein sehr gegensätzlicher Ausblick aus den Fenstern: auf der einen Seite die geschützte Bucht und auf der anderen zerfallene Häuser. Die Vermieterin erklärt uns beim Aufdecken des Frühstücks die traurige Geschichte des Ortes. Im Salpeterkrieg ging dieser von Peru an Chile über. Die Hafenstadt war wichtig für die Ausfuhr von Salpeter. Von heute auf morgen hat der Ort, mit Ende des Bergbaus, an Bedeutung verloren. Von einst über 10.000 Menschen leben heute noch 248 hier. Dass Pisagua vor ungefähr 100 Jahren reich war, ist den einsturzgefährdeten Häusern und dem geschützten hübschen Glockenturm noch anzusehen. Wegen der Lage am Rande der Atacamawüste und den großen Entfernungen zu anderen Städten wurde die Region mehrmals als Gefangenenlager genutzt. Im Salpeterkrieg wurden dort peruanische Kriegsgefangene inhaftiert. Der chilenische Präsident Gabriel González Videla richtete 1946 erstmals ein Konzentrationslager für politische Gegnern ein. Auch das Pinochet-Regimes führte in den Siebzigern in Pisaqua ein Konzentrationslager, in dem Gefangene gefoltert wurden.

Die Frau fängt an zu weinen, als sie die Geschichte erzählt. Sie verweist uns auf einen schönen Ort, der hier auch zu finden ist. Direkt an der Steilküste sieht man in der Ferne einen schmalen Weg. Er führt zu einer kleinen geschützten Bucht, die man in einer Dreiviertelstunde zu Fuß erreichen soll. Das Motorrad und die Sachen dürfen wir bis zum Nachmittag am Hostel lassen.

Mit Turnschuhen, Fotoausrüstung und genügend Wasser gehen wir los und besichtigen den Ort. Es läuft mir eiskalt den Rücken runter, das Blut in meinen Adern gefriert. Beim Fotografieren in den Straßen spürt man die Vergangenheit. Durch einige verlassene Häuser kann man hindurchsehen. Je weiter man zum Hafen vordringt, umso lauter wird es in den Ohren. Man bekommt ein komisches Gefühl, hört harte Umschlagarbeit und knochenbrechende Maloche aus der Vergangenheit. Ich werde zum Zeitgenossen und denke daran, wie hart das Leben hier einmal war.

Der Weg zur Bucht ist steinig und abschüssig. Alle zwanzig bis dreißig Meter liegen Knochen herum, einige sind blutig und haben noch Fell. Über uns kreisen mehrere Geier und kurz vor der Bucht sitzen drei neben dem Weg.

Von weitem sind dann schon die Seelöwen zu hören und zu riechen. Hier lebt eine Kolonie von über hundert Tieren. Wie friedlich und idyllisch es hier ist. Die Tiere toben im Wasser, andere sind auf der Jagd oder ruhen sich an Land aus. Wir nehmen für zwei Stunden in ihrer Nähe Platz, sind dankbar für den Tipp und halten den Moment auf Fotos und Videos fest. Die Geier beobachten weiter die Seelöwen. Ob sie vielleicht auf ihre Chance warten?

Wieder im Ort angekommen kaufen wir Proviant von netten Leuten, die einen kleinen Laden in ihrem Haus haben.

… Und unsere Reise geht weiter …

Die nächsten 233 Kilometer sind auf der Ruta 5 schnell abgespult und wir checken in Arica ein. Die Hafenstadt liegt ganz im Norden von Chile. Dem Motocicleta weist der Hausmeister des Hotels einen speziellen Platz zu, direkt im Eingangsbereich, kurz vor der Rezeption. Die Hotelgäste haben Probleme, mit ihren Koffern am Bike vorbeizukommen. Pro Nacht werden 65 US-Dollar inklusive Frühstück aus der Reisekasse gezogen. Die Preise für Essen und Übernachtung setzen uns mehr zu als gedacht. Wir freuen uns auf Peru, dort soll es günstiger sein. Doch zunächst soll eine wohlverdiente Pause von drei Tagen eingelegt werden, die mir mehr als rechtkommt. Wir haben in den letzten dreizehn Tagen über 3000 Kilometer auf der Sitzbank verbracht. Mein Allerwertester kann eine Pause vertragen. Er hat sich eine Haarwurzelentzündung zugezogen. Sie hat die Größe und Festigkeit einer Walnuss und bereitet mir beim Sitzen starke Schmerzen, die gerade noch auszuhalten sind.

Im Gesicht habe ich zwar keine Schmerzen, sehe aber ziemlich komisch aus, denn ich wollte mir einmal in meinem Leben einen Bart wachsen lassen. Mein Rasierapparat ist seit unserer Ankunft in Santiago in der Tasche geblieben. Das soll nun anders werden. In einer Fußgängerzone gehe ich zu einem Barbier, der mir die kahlen Stellen sauber rasiert und meine Fusseln auf gleiche Länge bringt. In einer Apotheke kauft Bianka dicke, feste Verbände, um meine Rippen zu bandagieren.

In Arica lassen wir es uns gut gehen. Am Abend sitzen wir draußen, beobachten entspannte Menschen, genießen bei Straßenmusik einen chilenischen Wein und essen lecker. Ein weiterer Grund für den längeren Aufenthalt hier ist die Reifensituation. Reifen für unser Motorrad, in dieser Größe, sind in Peru und Bolivien nur sehr schwer zu bekommen. Wir haben viel vor in Peru und spätestens in Bolivien werden unsere abgefahren sein. Und falls sich einer auf der Piste zerlegt, möchte ich Ersatzreifen dabeihaben.

Am folgenden Tag klappern wir mehrere Reifengeschäfte ab, können aber nicht fündig werden. Ein junger Mann macht uns den Vorschlag, mit seinem Auto zu einem weiteren Laden zu fahren, der Reifen verkauft. Am anderen Ende der Stadt steigen wir vor einem „Neumático“-Geschäft aus. Doch auch dort sagte der Verkäufer: „Nada.“

Wie selbstverständlich fährt der junge Mann dann mit uns von Laden zu Laden, wir bleiben im laufenden Auto sitzen, sein Portemonnaie und Handy lässt er liegen, während er im Geschäft nach der richtigen Reifengröße fragt. Er erzählt uns auf dem Weg zu seinem Haus, dass er Polizist ist. Dort kommt seine Frau heraus und nun suchen beide auf ihren Handys im Internet nach weiteren Läden. Da über Mittag die Geschäfte geschlossen haben, legten die beiden wohl fest, dass wir Zeit haben und machen mit uns einfach eine Stadtrundfahrt. Bis Bianka und ich das bemerken, vergeht jedoch einiges an Zeit. Plötzlich ist es mir unangenehm, durch die Gegend, in schöne Viertel, chauffiert zu werden, finde es aber auch gleichzeitig erstaunlich, wie viel Zeit sich Fremde für uns nehmen. Sie fahren auch am Pazifik entlang, zeigen und erklären uns das Wahrzeichen von Arica. Der El Morro ist nicht nur ein hoher Fels, von dem man einen guten Blick über die Stadt und den Hafen bis weit in die Wüste hat. Er ist für Chilenen das Symbol für den Sieg im Salpeterkrieg. Von unten sehen wir eine mächtige Jesus-Statue, alte Kanonen und eine übergroße chilenische Flagge, die im Wind weht. Der junge Polizist interessiert sich für Kriegsgeschichte und empfiehlt uns das Militärmuseum, was sich oben auf dem El Morro befindet.

Gegen 17 Uhr werden wir wieder vor unserem Hotel abgesetzt, ohne Reifen. Nun ist guter Rat teuer. Da hat Bianka eine gute Idee und gibt am Abend an der Rezeption eine Liste mit den Reifenhändlern aus der Umgebung ab und bittet den Hotelier, diese abzutelefonieren, denn unsere Spanischkenntnisse reichten dazu nicht. Am Folgetag erhalten wir eine positive Nachricht: Im 300 Kilometer entfernten Iquique sind passende Reifen auf Lager. Es gibt zwei Möglichkeiten: sie selbst abzuholen oder sie schicken zu lassen. Wir entscheiden uns für die zweite Variante. Es ist schon abgefahren - den einen Tag fahren ein Polizist und seine Frau mit uns durch ganz Arica und am darauffolgenden Tag bestellt unser Hotel in einer anderen Stadt Reifen. Der Hilfsbereitschaft sind in Chile keine Grenzen gesetzt.

Der Hausmeister bekommt von der Hotelchefin den Auftrag, uns zur Bank zu begleiten. Er hat die Auftragsnummer und Bankverbindung auf einem Zettel. Wir übergeben ihm 278 US-Dollar und er zahlt diese ein. Uns wird versichert, dass die Reifen morgen früh um 10 Uhr da sind. Sie werden mit dem Linienbus von Iquique nach Arica gebracht. Wir sind zuversichtlich, dass es klappt, dann könnten wir nach Peru aufbrechen.

Nach dem Frühstück fährt Bianka mit einem Taxi zum Busbahnhof, gleichzeitig packe ich die Sachen. Nach einer guten halben Stunde kommt sie mit den ersehnten Reifen zurück. Wenn man die Objekte in der Hand hat, stellt man erst fest, wie groß sie sind, und im gleichen Moment schießt mir wieder der Gedanke an den LKW durch den Kopf. Das zulässige Gesamtgewicht des Motorrades ist ja schon lange überschritten, jetzt ist es komplett ausgehebelt.

Uns hat es in Chile sehr gut gefallen und wir sind positiv beeindruckt. Wir nennen Chile „ein langes Land der krassen Unterschiede“. Zwischen hoch und tief, heiß und kalt, weit und noch weiter, windstill, windig und stürmisch. Weiterhin nennen wir es auch „das Land der freundlichen, hilfsbereiten und lachenden Menschen“.


Zwei Fischköppe in den Anden

Подняться наверх