Читать книгу Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches - Norbert Wibben - Страница 10

Ainoas Sorgen

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Die Elfe in Gestalt des Kolkraben legt ihren Kopf schräg. Die dunklen Augen fixieren das Mädchen. Der schwarze Vogel schluckt ein paar Mal vernehmlich, erst dann hört Anna die Stimme ihrer Freundin im Kopf.

»Der Cythraul ist mit Sicherheit auf der Suche nach einer entsprechenden Möglichkeit. Er befindet sich vermutlich deshalb zurzeit auf verschiedenen Inseln hoch im Norden. Katherin hat von dort lebenden Elfen die Nachricht bekommen, dass seit Tagen mehrere Drachen bei ihnen ihr Unwesen treiben. Einer dieser Lindwürmer verwandelt sich manchmal in einen Greif, der scheinbar in Flammen steht. Sein grimmiges Fauchen verheißt nichts Gutes. Direkt zu Schaden gekommen sind dort bisher weder Menschen noch Elfen, auch wenn sie sich über das seltsame Gehabe dieser Ungeheuer wundern. Manches Schaf wird von den Drachen gerissen und verspeist, was eigentlich nichts Ungewöhnliches ist. Fremdartig und unerklärlich erscheint dagegen, dass die Bestien suchend über die Inseln fliegen und beim Anblick eines Steinkreises frohlockend kreischen. So wird es jedenfalls von den Beobachtern beschrieben. Die Ungeheuer landen dann innerhalb der aufgestellten Steinblöcke und ein Drache verwandelt sich in einen Menschen. Der Mann wandert sofort von einer Steinplatte zur nächsten und murmelt vor sich hin. Gelegentlich verharrt er kurz, zieht eine Kladde aus seinem Umhang, beginnt darin zu lesen oder notiert etwas. Sobald das Notizbuch wieder in einer Tasche verschwunden ist, schreitet er die nächsten Steine entlang.

Aber es wird noch mysteriöser. Es ist bereits zweimal dazu gekommen, dass sich der Mann in den gefährlichen Greif verwandelt hat, sobald er das gesamte Monument abgeschritten ist. Ohne ersichtlichen Grund warf dieses Ungeheuer mit seiner außerordentlichen Kraft mehrere der Steinplatten um und brüllte offenbar wütend. Weshalb der Mann derart reagierte, ist völlig unklar. Obwohl die Ursache nicht erkennbar ist, scheint es einen Zusammenhang damit zu geben, dass in der Nähe dieser Steinkreise Haselbüsche wachsen. Sobald der Mann sie bemerkt hatte, unterbrach er die übliche Erforschung der Steine und rannte eilig zu den entsprechenden Stellen. Er umrundete den Busch mehrfach, wobei er undeutliche Beschwörungsworte murmelte. Die Füße wurden bei den Schritten mal schnell und weit ausgreifend, mal langsam und eng zueinander gesetzt. Nach der siebten Umrundung verstummte er, um sich hinzuhocken und in das Gebüsch zu starren. Er wartete mehrere Minuten reglos und sprang dann auf. Falls ein weiterer Busch in der Nähe wuchs, begab er sich anschließend dorthin, um bei ihm das gleiche Ritual anzuwenden. Als er so bei allen Haseln das unverständliche Verfahren angewandt hatte, kehrte er zu den Steinblöcken zurück. Nur bei diesen Steinkreisen kippte der Greif die Granitblöcke um, bei drei anderen nicht. Katherin vermutet, dass der Cythraul eine Reaktion bei den Haselbüschen erwartet. Welche das sein mag, weiß sie nicht. Wenn diese Ungeheuer derart versessen nach etwas forschen, bedeutet das nichts Gutes für uns.« Ainoa macht eine Pause, um der aufgeregt gestikulierenden Anna Gelegenheit für eine Bemerkung zu geben.

»Die Erwähnung eines Haselbusches erinnert mich daran, was du mir sagtest, als du mich zum ersten Mal in die Anderswelt gebracht hast. Wenn ich mich richtig erinnere, sagtest du damals zu mir:

Der Übergang zwischen unseren Welten gelingt durch Höhleneingänge oder im Bereich besonderer Bäume oder Büsche. Unter einem Haselstrauch ist die Verbindung von eurer zu unserer Seite sehr eng. Dort können Menschen durch Beschwörungen zwischen den Welten wechseln, oder von einem Anderswelt-Bewohner hergebracht werden, so wie du von mir.

Könnte das zumindest teilweise die Erklärung für das seltsame Gehabe des Mannes sein, oder gibt es sonst noch ein Geheimnis? – Aber noch etwas anderes. Weißt du, wie der Mann aussieht? Hat Katherin etwas darüber berichtet, ob er möglicherweise diesem Seid Greif ähnelt?«

»Du meinst …?« Die Elfe verstummt. Sie ist von dieser Möglichkeit offenbar völlig überrascht. »Wenn das stimmt, was bedeutet das für uns?«

»Vermutlich wirkt sich das nicht direkt nachteilig für uns aus. Falls es aber so ist, hätten wir einen weiteren Ansatz, um die Identität von Seid Greif zu klären. Wie dir bekannt ist, meinen auch Professor Raven und Morwenna, dass dieser seltsame Mann mit Augustus Back verwandt sein könnte. Wenn das stimmt, stammt er somit aus unserer Welt. – Bitte doch Katherin, dass sie von den Elfen im Norden eine Beschreibung des Mannes verlangt! Sie hat Seid Greif doch auch bei Saphiras Wiedersehensfeier gesehen. Dann müsste sie ihn leicht erkennen können.«

»Hm. Da ist was Wahres dran. Ich werde sie gleich morgen früh aufsuchen. Berichtest du mir, was ihr bisher herausgefunden habt?«

Anna denkt an die lange Besprechung in Iain Ravens Haus vom vergangenen Abend. Sie weiß, dass ihr Bericht nicht besonders kurz sein wird, versucht ihn jedoch soweit möglich zu raffen.

»Die Informationssuche ist bisher erfolglos verlaufen. Als Ausgangspunkt wurde Augustus Back genommen, der den Park des Internats gestaltet hat. Aus seinem Leben ist nicht viel bekannt, zumindest gibt es in unserer Bibliothek kaum Aufzeichnungen über ihn. Er hat während der Ausbildung für einige Gastsemester in einer bekannten Universitätsstadt studiert. Damals muss etwas vorgefallen sein, da er von dort für lange Zeit spurlos verschwand. Bisher fehlt von möglichen Verwandten jede Spur. Da weder Eltern oder Geschwister bekannt sind, ist Professor Mulham für Nachforschungen direkt in diese Stadt gereist.

In alten Aufzeichnungen fand sie einen Vermerk, dass Augustus Back die Tochter eines Dekans verführt haben soll. Bei der Verfolgung dieser Spur, die sie in eine bekannte Bibliothek führte, traf Morwenna auf eine ehemalige Studienkollegin, die zeitweise dort als Bibliothekarin arbeitet. Nach der langen Zeit hatten sich Innocent Green und sie viel zu erzählen, zumal es außer ihrem Beruf eine weitere Parallele im Leben der Frauen gibt. Der Schachclub eines Internats wird von Professor Green geleitet und schnell befanden sie sich in einer angeregten Diskussion. Sie verlegten den Ort ihrer Unterhaltung in eine Teestube und verbrachten dort den Nachmittag. Die Recherche wurde leider nicht bis zum möglichen Ende durchgeführt, da Professor Mulham in großer Eile den letzten Zug erwischen musste. Aber die beiden haben einen Termin für einen Vergleichswettkampf zwischen den Schachteams vereinbart. An dem dafür vorgesehenen Wochenende wird Morwenna die Möglichkeit haben, außerhalb der Öffnungszeiten in der Bibliothek weiterzuforschen.«

»Das hört sich gut an. Wann ist es soweit? Ich hoffe, dass uns der Cythraul nicht vorher eine unangenehme Überraschung bereitet. Er könnte eine Möglichkeit entdeckt haben, wie er den Übergang in eure Welt bewältigen kann. Er sucht nicht umsonst derart angestrengt in den Steinkreisen, die eine besondere Mystik ausstrahlen.«

»Ich finde diese alten Anlagen auch geheimnisvoll, aber ob sie eine Verbindung in unsere Welt darstellen? Hm. Ich spreche Morwenna darauf an, vielleicht hat sie eine Idee. – Der Wettkampf findet in etwa zwei Wochen statt. Die Zeit bis dahin hört sich nicht so lang an, trotzdem wäre mir wohler, wenn die mögliche Verwandtschaft schneller geklärt werden könnte!«

»Bietet uns eine familiäre Bindung Vorteile? Und was ist, wenn Seid Greif nicht mit Augustus Back verwandt ist? Wie können wir überhaupt gegen den Cythraul vorgehen, egal ob er von hier stammt oder nicht? Er ändert die Gestalt, wie es ihm beliebt. Er wird zur wilden Bestie mit riesigen Kräften, die alles Erreichbare um sich herum zerstört. Im nächsten Augenblick ist er ein harmlos aussehender älterer Mann, der in der Menge untertaucht, ohne eine Entdeckung befürchten zu müssen.«

»Ich hoffe, wir finden durch eine bestätigte Verwandtschaft einen Ansatz, wie diesem Ungeheuer beizukommen ist. Was wir im anderen Fall machen können? Ich weiß es nicht. Das überlegen wir, wenn es so weit ist. Einverstanden?«

»Ich stimme dir notgedrungen zu. Ich werde Katherin bitten, jedes Bisschen an Informationen von den Elfen des Nordens zu sammeln. Außerdem soll sie den Elfenrat zusammenrufen. Wir müssen eine Abwehrstrategie entwickeln. Vielleicht sollten wir alle Übergänge mit zusätzlichen Zaubern sichern. Hm. Aber möglicherweise dauert das länger, als uns lieb ist.«

Die Freundinnen drehen ihre Köpfe erstaunt zum Fenster. Immer lauteres Vogelgezwitscher erklingt von draußen und kündet den baldigen Morgen an. Tatsächlich ist es auch bereits nicht mehr so dunkel.

»Ainoa, du kannst dich am besten sofort zu Katherin auf den Weg machen. Vielleicht solltest du in den Norden reisen, um einen Blick auf den Cythraul zu werfen. Möglicherweise erkennst du diesen Mann als Seid Greif. Warte!« Erschrocken unterbricht sich Anna und streckt eine Hand aus, als ein feines, bläuliches Flirren den Kolkraben umgibt. »Wechsele nicht sofort in eure Welt. Wenn du dich auf die Suche in den Norden begibst, möchte ich dich unbedingt begleiten. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn dir beim Nachspüren dieses Ungeheuers etwas passiert. Zusammen sind wir vermutlich nicht unbesiegbar, aber auf jeden Fall ein eingespieltes Team, oder nicht?« Ein entschuldigendes Lächeln umspielt Annas Lippen, als sie forschend zu Ainoa schaut. Die gemeinsame und erfolgreich verlaufene Suche nach Saphira ist noch nicht allzu lange her.

»Ich habe mich schon gewundert, ob du mich wirklich allein dorthin schicken willst.« Ein keckerndes Krächzen schallt laut durch das Zimmer. Das Mädchen hält sofort einen erhobenen Finger vor seine Lippen, woraufhin die Elfe etwas zerknirscht erwidert: »Ja, ja. Ich weiß, ich soll nicht so laut sein! – Ich werde jetzt zu Katherin wechseln. Falls ich den Auftrag zur Suche im Norden bekomme, hole ich dich ab. Versprochen!«

»Danke!«

Im nächsten Moment flirrt die Luft um den Kolkraben und hüllt ihn mit einem bläulichen Schimmer ein, dann ist Ainoa verschwunden. Die Lichtkugel unter der Zimmerdecke erlischt ebenfalls. Die Dunkelheit wirkt zuerst größer als bisher, dann erhellt die Morgendämmerung die Gegenstände in dem kleinen Raum.

Anna überlegt, was sie jetzt machen soll. Zum Einschlafen ist sie zu aufgeregt. Irgendetwas von der Unterhaltung spukt ihr im Kopf herum. Es war ein Satz oder doch eher ein Detail, ein Begriff? Aber jedes Mal, wenn sie den Gedanken fast zu fassen bekommt, entschwindet er wieder. Anna fühlt sich unbehaglich, denn das, was sie nicht klar zu erkennen vermag, stellt einen wichtigen Hinweis dar, ist sie sicher. Wie sie es auch früher schon gemacht hat, versucht sie nicht, weiter nach diesem Gedanken zu forschen. Sie weiß, wenn sie sich mit etwas Anderem beschäftigt, wird sie urplötzlich wissen, worum es sich handelt.

Also konzentriert sie sich auf Schach. Das Mädchen spielt in Gedanken eine Partie Zug um Zug durch, bei der sie es fast geschafft hätte, Alexander zu schlagen. Es will die Stelle finden, an der ein anderer Spielzug erfolgversprechender gewesen wäre.

Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches

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