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Schach

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Die Treffen des Schachclubs finden in festgelegten Abständen in der Bibliothek statt. Viele der Spielpaarungen setzen sich aus etwa gleichstarken Teilnehmern zusammen. Das sind beispielsweise Anna und Robin, Benjamin und Caitlin oder Alexander und Harald. Professor Mulham achtet aber darauf, dass die Gegner regelmäßig wechseln. Es liegt auf der Hand, dass sie damit die schwächeren Spieler fördert. Einige der Teilnehmer reagieren zuerst frustriert. Die Stärkeren fühlen sich gelangweilt, nicht genügend gefordert. Sie merken aber schnell, dass sie trotz ihrer vermeintlichen Überlegenheit genauestens aufpassen müssen, um keine Fehler zu begehen. Bei den offensichtlich Schwächeren wird nach ersten Niederlagen deren Ehrgeiz geweckt. Sie konzentrieren sich, rufen Spielzüge der Gegner aus ihrem Gedächtnis auf und kopieren sie.

»Ja, ja, ja!«, jauchzt plötzlich Finn, ein zwölfjähriger Junge mit dichten, rötlich braunen, gelockten Haaren und vielen Sommersprossen. Er besucht den zweiten Jahrgang der Schule, bildet mit der rechten Hand eine nach oben gerichtete Faust und stößt den Ellenbogen ruckartig nach unten. »Ja, ich habe ihn!« Sein Gegenüber, Alexander, kann es nicht fassen. Er, der bislang unumstrittene Champion der Schule, ist von einem der jüngsten Spieler besiegt worden!

»Ich gratuliere dir!« Auch wenn dieser Satz etwas gepresst über die Lippen des 15-jährigen Schülers mit der schwarzen Lockenpracht kommt, reicht er dem Jüngeren die Hand. Der strahlt übers ganze Gesicht.

»Danke!«, ist alles, was der erwidern kann. Sein Blick schweift in die Runde und zeigt seinen Stolz über den unerwarteten Sieg. Professor Mulham räuspert sich und bittet mit erhobenen Händen um Aufmerksamkeit.

»Ich gratuliere dir, Finn!« Sie nickt in seine Richtung, dann blickt sie dessen Gegner an. »Alexander, dir möchte ich auch meinen Glückwunsch aussprechen. Halt, ich will dich nicht auf den Arm nehmen! Ich meine es ernst! Deine Gratulation an Finn zeugt davon, dass du ein guter Verlierer sein kannst, wenn du denn mal in diese Rolle schlüpfen musst.« Das Gesicht des Jungen schwankt kurz zwischen Verärgerung und Verwunderung. Dann überzieht es ein breites Grinsen.

»Ich verstehe jetzt, warum wir starken Spieler ab und an gegen scheinbar schwächere antreten sollen, Morwenna. Es soll uns helfen, nicht überheblich und leichtsinnig zu werden. In einem Schachspiel steht der Sieger nicht von vornherein fest. Es gibt unzählige Faktoren, die dessen Ausgang beeinflussen können.«

»Richtig!«, bestätigt die Professorin. »Ich bitte euch, immer daran zu denken!« Sie macht eine längere Pause, in der die anderen Mitglieder des Schachclubs ihre Glückwünsche Richtung Finn laut oder auch nur mit Gesten kundtun. »Das gilt besonders für die folgende Überraschung, die ich für euch habe. – Wir bekommen die Möglichkeit, in zwei Wochen an einem Vergleichswettkampf gegen die Schachgruppe eines Internats einer bekannten Universitätsstadt teilzunehmen.« Plötzlich ist es vollkommen still in der Bibliothek. Weder ein Scharren der Füße noch ein gelegentliches Husten oder Räuspern ist zu hören. Alle Schüler sind baff und starren Morwenna Mulham an.

Alexander fasst sich ein Herz und beginnt: »Sind wir … ich meine … wie?«

Die Professorin lächelt in die Runde. »Ich verstehe, dass euch das überrascht. Und um auf die Fragen zu antworten: Ja, ich glaube, ihr seid so weit. Und das Wie? Wir werden mit dem Zug fahren.« In der Folge erläutert Morwenna, wie es zu der Absprache für den Wettstreit gekommen ist, als sie wegen besonderer Recherchen in dieser Stadt war. Obwohl sie den Grund nicht nennt, zumal der den anderen nichts sagen würde, wissen Anna und Robin sofort, dass sich die Nachforschungen auf Seid Greif bezogen.

In dieser berühmten Universitätsstadt ist Morwenna einer ehemaligen Studienkollegin begegnet, die ebenfalls die Schachgruppe eines Internats leitet. »Das dortige Schachteam nimmt regelmäßig an nationalen Wettkämpfen teil. Als ich bei Tee und Gebäck berichtete, dass wir im Aufbau eines derartigen Teams begriffen sind, machte sie den Vorschlag eines Vergleichswettkampfs. Es ist so, dass viele Spieler ihres Internats in der Vergangenheit nationale Sieger geworden sind. Und in der Teamwertung schaffen sie es regelmäßig unter die ersten fünf Plätze.« Die Professorin blickt in gerötete oder blasse Gesichter, die, je nach Temperament des Schülers, derart auf die Neuigkeit reagieren. »Innocent Green, das ist meine Studienkollegin, ist eigentlich eine liebenswerte Person.« In Gedanken sieht sie erneut, wie sie gemeinsam beim Tee sitzen. Ihre Kollegin hat grüne Augen, eine leicht rundliche Gestalt und ist 60 Jahre alt. Aus Eitelkeit nutzt sie nur gelegentlich eine Brille und färbt ihre Haare kastanienbraun, die zu einem unsymmetrischen Pagenkopf geschnitten sind. Sie trägt einen schwarzen Umhang, den sie rafft, um ihre etwas aus der Form geratene Figur zu kaschieren. »Ich kann verstehen, dass sie auf die Erfolge ihres Teams stolz ist. Trotzdem ärgerte mich ihre Äußerung, dass wir noch einen langen und steinigen Weg vor uns haben, wenn wir so ruhmreich wie ihre Schützlinge werden wollen. – Sie sagte, falls wir Hilfe benötigen, wäre sie gern bereit, uns einige Trainingsstunden zu gewähren. Das klang so überheblich, dass ich nicht anders konnte, als ihr quasi den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen. Ich erwiderte, dass es Talente in unserem Team gibt, die zwar noch keine gekürten Champions, aber jedem Vergleich gewachsen sind.« Sie schlägt kurz ihre Augen nieder. Weshalb sie derart gereizt auf das überhebliche Gebaren ihrer Bekannten reagierte, ist ihr im Nachhinein schleierhaft. Als sie aufblickt, sucht sie den Blickkontakt mit Alexander, Robin und vor allem Anna.

»Das hast du richtig gemacht, Morwenna!«, bestätigt Anna sofort. »Überheblichkeit kann ich genauso wenig ausstehen.« Bei diesen Worten schaut sie Alexander an, der kurz schuldbewusst wirkt. Beide denken an die Situation, als Anna vor Wochen den Jungen im Speisesaal zu einem Match aufforderte. Seine damalige Antwort hat sich in ihr Gedächtnis eingegraben.

»Ich trete nicht gegen Babys an! Wenn ich auf deine Forderung eingehe, ist das Spiel schneller beendet, als es dauert, die Figuren aufzustellen. Ich will vom Gegner wenigstens etwas lernen, wenn ich schon Zeit opfere. Wenn du verlierst, und das steht für mich unumstößlich fest, wirst du vermutlich zu flennen beginnen. Wie kann das wohl meine Fähigkeiten weiterbringen?«

»Du weißt, dass ich mittlerweile nicht mehr so denke!«, antwortet Alexander auf ihre nicht ausgesprochenen Gedanken. »Vielleicht hätte ich damals tatsächlich verloren, so wie heute gegen Finn. Wer kann das schon wissen.« Beide grinsen sich etwas verlegen an. In der Zwischenzeit sind sie bereits mehrfach gegeneinander angetreten, doch bisher hat es zu keinem Sieg für Anna gereicht, lediglich zu einigen Unentschieden.

»Zurück zu unserem Wettkampf!« Morwenna blickt eindringlich nacheinander alle Schüler an. »Ich möchte, dass ihr in jeder freien Minute in wechselnden Paarungen übt. Das muss nicht unbedingt in der Bibliothek sein, auch wenn ich sie von nun an täglich für euch bis abends gegen zehn offenhalte. Falls jemand für die Übungen ausfällt, springe ich ersatzweise ein. Beim Wettkampf ist das allerdings unmöglich. Je Altersstufe wird mindestens eine Partie gespielt werden, wünschenswert sind jedoch zwei. Mit entsprechender Zustimmung sind Überschneidungen der Altersstufen und ein Mehrfachantreten einzelner Spieler möglich, doch darauf können wir uns nicht verlassen. Innocent wird dem höchstens zustimmen, wenn auf unserer Seite jüngere gegen ältere Schüler auf ihrer Seite antreten, nicht umgekehrt. Sie will sich keinesfalls blamieren und wird ihre besten Spieler teilnehmen lassen. Ich fürchte, sie hat eine größere Auswahl als wir, das muss unsere Motivation ausgleichen. Außer den Alterspaarungen gibt es drei Zusatzspiele, deren Teilnehmer ausgelost werden. Das wurde von Innocent mit huldvoller Miene vorgeschlagen, damit wir vielleicht doch einen Sieg verbuchen können. – Ich HASSE diese Überheblichkeit!« Die Augen aller Schüler ruhen auf dem Gesicht der Professorin, deren Gefühlsausbruch so gar nicht zu ihr passt.

»Gibt es einen Preis, um den wir kämpfen?« Finns Frage unterbricht die Stille. Er blickt mit rotem Gesicht erst in die Runde und dann zurück zu Morwenna. »In jedem Wettkampf wird etwas ausgelobt, dass den Ehrgeiz der einzelnen Spieler antreiben soll. Bekommen wir einen Pokal, eine Urkunde – oder nur einen herablassenden Händedruck?«

»Gut, dass du danach fragst. Wir kämpfen nicht nur um die Ehre, auch wenn das für mich bereits ausreichen würde, diese hochnäsigen Universitätsstädter …« Sie hüstelt verlegen und fährt dann ruhiger fort. »Das Team aus dem Internat hat im letzten Jahr den Siegerpokal der Mannschaftswertung bei den nationalen Schachmeisterschaften gewonnen. Sollten wir die Hälfte der Spiele gewinnen, wobei die unentschieden gewerteten nicht berücksichtigt werden, bekommen wir diese Trophäe für drei Monate ausgeliehen. Außerdem will sich Innocent dann für unsere Teilnahme bei den Meisterschaften zum Ende des Jahres einsetzen, obwohl die Bewerbungsfristen dafür bereits abgelaufen sind. – Ob sie das tatsächlich machen wird, ist abzuwarten. Schließlich würde dadurch die Aussicht ihrer Mannschaft sinken, den Pokal erneut zu gewinnen.«

Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches

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