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Unerwarteter Besuch

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Der große Gong erklingt. Sein dunkler Ton dringt in alle Räume des alten Gebäudes und ruft zum Abendessen in den Speisesaal. Die wenigen Bibliotheksbesucher klappen die Bücher zu und bringen sie zu Professor Mulham, bevor sie den Leseraum verlassen. Die im abgegrenzten Bereich bisher in ihre Schachpartien vertieften Schüler blicken erwartungsvoll zu Morwenna. Hat sie erneut eine Ausnahmeregelung fürs Abendessen vereinbart, so dass sie weiterspielen können? Die Bibliothekarin kommt hinter der Abgrenzung hervor und fordert die Spieler auf, sie zu begleiten.

»Es ist den Köchinnen und ihren Helfern nicht zuzumuten, für uns jeden Abend Zusatzarbeiten nach der offiziellen Essenszeit zu leisten. Wir unterbrechen die Spiele und treffen uns in einer Stunde erneut. Also beeilt euch!« In diesem Moment erklingt der Gong zum zweiten Mal. Alle erheben sich und drängen aus der Bibliothek in den Flur, um rechtzeitig den Saal zu erreichen. Sie wissen, wer beim dritten Ton nicht dort ist, bekommt kein Essen. Anna und Robin warten, bis die Professorin die Tür verriegelt hat.

»Kann ich etwas für euch tun, ihr Lieben?« Ihr Blick ruht fragend auf deren Gesichtern. Der Junge weiß zwar, was Anna brennend interessiert, er wagt es jedoch nicht, anzufangen. Diese wiederum ist unsicher, wie sie beginnen soll. Sie hat ihren rechten Fuß mit den Zehenspitzen auf den Boden gestellt und die Hacke weist nach oben. Anna dreht ihn hin und her, wie sie es oft beim Überlegen macht. Morwenna fragt nach. »Ist es so schwierig? Ich reiß euch schon nicht den Kopf ab. Lasst uns Richtung Speisesaal gehen, damit wir dort noch etwas bekommen. – Moment, ihr wollt mir jetzt aber keine Absage für den Vergleichswettkampf erteilen? Ich rechne fest mit euch!« Die Professorin bleibt nach den ersten Schritten erschrocken stehen. Ihr tiefdunkler, blauer Umhang, der im zügigen Gehen hinter ihr her wehte, schwingt noch etwas nach.

»Nein, natürlich nicht!« Beide Schüler protestieren und setzen sich zusammen mit ihr wieder in Bewegung. Dann beginnt Anna, wobei sie verlegen seitlich zu Morwenna schaut.

»Ich habe Robin von der Anderswelt und meinen Erlebnissen dort erzählt.« Der Schulleiter Iain Raven hat ihr dringend davon abgeraten. Er befürchtet, gefährliche Wesen könnten umso leichter die Übergänge zwischen den Welten nutzen, je mehr Menschen des Diesseits darüber wissen und sich leichtfertig über diese Kreaturen unterhalten. Den Troylingen ist der Wechsel hierher einmal fast gelungen, als er selbst etwas unachtsam den Übergang zwischen den Welten nutzte.

»Du hast WAS?« Morwenna bleibt erneut stehen und starrt ungläubig auf Anna.

»Es war nicht zu vermeiden. Wir sind schließlich Freunde und ich wollte ihn nicht anlügen!«

»Aber …! Hm. Du hast selbstverständlich richtig gehandelt, ihn nicht zu belügen, aber musstest du ihm dann gleich alles erzählen?«

Erleichtert über die unerwartet milde Reaktion entgegnet Anna mutiger: »Wo hätte ich mit den Erläuterungen aufhören können? Wenn Robin mich nicht für durchgedreht halten soll, MUSS ich doch alles berichten. Nur in der Gesamtheit ist die Wahrheit erkennbar!«

»Hm. Da ist schon was dran. – Warum erzählst du mir das jetzt? Hat Ainoa dich erneut um Hilfe gebeten? Ist euch dieser Seid Greif womöglich hierher gefolgt?« Das Gesicht der Professorin wechselt von Erstaunen zu einem besorgten Ausdruck. Eine fahle Blässe unterstreicht ihre Gefühle. »In dem Fall sollten wir besser nicht zum Essen, sondern sofort zu Auguste de Enaid gehen.« An Robin gewandt erklärt sie: »Das ist der Geheimname von unserem Schulleiter Iain Raven, den er in der Anderswelt nutzt.«

»Das ist mir bekannt«, entgegnet dieser.

»Was? Woher kannst du … Ach, ich vergaß, Anna hat dir ja alles erzählt.«

Die Schülerin stellt sofort klar, weshalb sie die Professorin sprechen will. »Im Moment ist mir nichts von einer Bedrohung durch die Cythraul bekannt. Ich möchte lediglich wissen, wie der Stand der Recherchen zu Seid Greif ist. Konntest du ermitteln, ob er ein Verwandter von Augustus Back ist, von dem ein Denkmal im Park steht? Deswegen bist du doch vermutlich in der Universitätsstadt gewesen, oder?«

»Das stimmt. Das, was ich herausbekommen habe, hilft uns leider nicht weiter. Ich schlage vor, wir reden nach dem Schach darüber. Wir sollten uns jetzt besser beeilen, wenn wir noch rechtzeitig im Speisesaal ankommen wollen.« Den erreichen sie, als gleichzeitig der Gong zum dritten Mal erklingt.

Nach den Schachübungen verlassen die Teammitglieder die Bibliothek. Als Morwenna mit Robin und Anna allein ist, schließt sie den Leseraum ab und verlässt mit ihnen das Internatsgebäude. Sie folgen den verschlungenen Wegen durch den Park, bis sie im hinteren Bereich vor dem Haus des Schulleiters stehen. Aus den seitlichen, kleinen Fenstern, dort wo sich die Wohnstube befindet, dringt gelblicher Lichtschein nach draußen. Die Professorin betätigt am Eingang den Türklopfer. Es dauert nicht lange, dann sind erst Geräusche und danach eine Stimme von innen zu hören.

»Was gibt es zu so später Stunde? Wenn es kein Notfall ist, hat es bestimmt Zeit bis morgen!« Die Stimme klingt nicht unfreundlich, die Tür wird aber nicht geöffnet. Wie bei den bisherigen Besuchen kann Anna die verschiedenen Nachtgeräusche plötzlich deutlicher vernehmen. Das Schuhu einer Eule erklingt nah und in der Ferne ein raues Krächzen. Sollte das Ainoa sein? Das Mädchen zieht die Augenbrauen hoch. Ist das ein übliches Begrüßungsszenario an der Tür dieses Hauses, das vielleicht durch irgendeinen Zauber des Professors aufgerufen wird?

»Iain, hier ist Morwenna Mulham. Bei mir befinden sich die Schüler Anna und Robin. Es ist kein Notfall, der uns herführt. Aber wir sollten Anna die Ergebnisse von unseren Recherchen mitteilen. Sie hat ein Recht darauf. Bitte öffne.« Erneut vergeht eine kleine Ewigkeit, dann rasselt ein Schlüssel und die Tür öffnet sich langsam. Ein greller Lichtschein fällt nach draußen und umhüllt die späten Besucher. Er stammt von einer Lichtkugel, die in Höhe der Hand des Professors schwebt, so dass sie leicht für eine starke Taschenlampe gehalten werden kann. Als Iain Raven sie gemustert und sich von der Wahrheit von Morwennas Äußerung überzeugt hat, schwächt er das helle Licht. Robin vermag seinen Blick nicht von der seltsamen Lichtquelle zu wenden, obwohl Anna ihm von Lichtkugeln berichtet hat. Etwas hören oder sehen, macht offenbar einen gewaltigen Unterschied.

»Warum kommt ihr zu so später Stunde und was hat der Junge hier zu suchen?« Die langen, weißen Haare stehen ihm wirr vom Kopf ab. Es wirkt so, als ob er sie sich gerade gerauft hätte.

»Ich habe Robin ALLES erzählt, Professor. Sie rieten mir zwar …«

»… das nicht zu tun, und das hat einen guten Grund!«, unterbricht Iain Raven sie. Unter den buschigen Augenbrauen sind seine Augen forschend auf das Mädchen gerichtet. Zuerst ist sein Blick ungläubig und auch ein wenig ärgerlich, weil es entgegen der Anordnung gehandelt hat. Dann glättet sich sein faltiges Gesicht und ein feines Lächeln erscheint. »Hm, ich sehe schon, auch du hattest einen guten Grund. Also kommt bitte herein! Wir sollten nicht im Freien und bei dunkler Nacht über diese Dinge reden.« Mit einladender Geste öffnet er die Tür und schließt sie, sobald sie eingetreten sind. Er eilt an ihnen vorbei und lässt den gerunzelten Blick durch seine Wohnstube streichen. »Wo sollen wir uns nur setzen? Ich habe zu so später Stunde mit keinem Besuch gerechnet«, murmelt er vor sich hin, während er beginnt, einige Bücherstapel vom Sofa auf den Boden zu stellen. Sein Blick wandert erneut umher. »Reicht das bereits? Nein. Der Stuhl dort muss auch freigemacht werden. Der Junge, wie heißt er noch …? Jedenfalls braucht er auch einen Platz.« Iain Raven vermittelt den Eindruck eines verwirrten Professors, was aber keinesfalls stimmt. Die vielen Bücher und Papiere sind in einem bestimmten System geordnet, das er durch den Platzbedarf für seine Besucher durcheinanderbringen muss. Während er vor sich hinmurmelt, versucht er gleichzeitig, sich die geänderte Position der verschiedenen Stapel einzuprägen. Ein letzter prüfender Blick, dann ist er zufrieden. »Bitte setzt euch, aber seid vorsichtig, damit ihr keinen Bücherstapel umwerft.«

Das passiert Robin beinahe, der immer noch von der Lichtkugel fasziniert ist. Die ist mittlerweile zur Zimmerdecke hinaufgeschwebt und leuchtet von dort in einem warmen, leicht gelblichen Schein auf sie herab. Mit dem Blick zur Decke gerichtet, stößt er gegen einen Bücherturm aus besonders dicken und alten Wälzern. Zum Glück reagiert er schnell und verhindert, dass der Stapel umkippt. Vor dessen Folgen graut es Iain Raven. Weitere Türme wären unweigerlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Das dadurch verursachte Durcheinander der Bücher und Papiere würde eine wochenlange Neusortierung erfordern.

Noch bevor der Schulleiter reagieren kann, ruft Robin: »Verzeihung! Ich … war etwas abgelenkt.« Erst als alle sitzen, atmet der Professor erleichtert auf.

»Darf ich euch etwas anbieten? Einen heißen Kakao vielleicht? Danach lässt es sich wunderbar schlafen!« Er nimmt die Zustimmung offenbar als gegeben hin, denn er erhebt sich gleich wieder und eilt geschäftig in den Nachbarraum. Robin schaut Anna erstaunt an. Sein Blick scheint zu fragen, ob sich der Schulleiter bei ihren Besuchen auch derart verhalten hat. Bevor sie etwas zu erwidern vermag, äußert sich Morwenna.

»Iain lebt für seine Recherchen, die sich oft auf historische Ereignisse beziehen. Das ist nicht weiter verwunderlich, da er Geschichte in den höheren Jahrgängen lehrt. Er tauscht sich darüber oft mit Professoren berühmter Universitäten aus. Das hat er in den letzten Jahren etwas vernachlässigt, weshalb er kaum noch Besuch von außerhalb bekommt. Die Ursache liegt in seinen Forschungen zur Anderswelt, über die er nicht mit anderen spricht. Ich bin bisher eine Ausnahme, obwohl ich lediglich einmal als junges Mädchen dort gewesen bin. Seit einigen Wochen redet er auch immer wieder mit Anna, besonders deshalb, weil das Rätsel um Seid Greif gelöst werden muss.«

»Ich befürchte, dass eine große Gefahr von diesem Mann ausgeht!« Das Hereinkommen des Professors haben sie überhört. Ob seine eindringlichen Worte sie deshalb erschauern lassen, ist nicht klar. Ihre Blicke richten sich auf ihn, der auf einem Tablett vier dampfende, große Tassen trägt. Er reicht jedem eine davon, die angenehm nach heißer Schokolade und etwas Zimt duftet. »Aber jetzt trinken wir erst einmal von diesem wunderbaren Getränk. – Habe ich euch schon verraten, dass ich ein Geheimrezept dafür nutze? Hm, möglicherweise habe ich das. – Sobald sich dessen Wärme wohltuend in unseren Körpern ausbreitet, werden Morwenna und ich euch mitteilen, was wir bisher erfahren haben.«

Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches

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