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Ein Picknick

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Anna bemerkt keine Reaktion auf ihr Klopfen. War es vielleicht zu zaghaft, so dass es das Gespräch nicht übertönen konnte, das von innen zu ihr herausdringt? Die Schülerin zögert, soll sie heftiger gegen die Tür schlagen oder einfach eintreten? Die Stimmen klingen nur gedämpft durch die dicke Eichentür. Es ist unmöglich zu sagen, mit wem sich Professor Raven unterhält. Kurz entschlossen hämmert Anna mit der geballten Faust kräftig gegen das Türblatt. Sie fährt erschrocken zusammen, da das Klopfen lauter als erwartet ausfällt. Ihr rauschen die Ohren noch vom Laufen, so dass sie das sofortige Verstummen der Stimmen nicht mitbekommt.

Das: »Herein!«, vernimmt sie dagegen, da es laut und deutlich erklingt. Sie drückt die alte Messingklinke hinunter und öffnet die nach innen gehende Tür. Vorsichtig streckt sie den Kopf hinein.

»Entschuldigung, Herr Professor. Ich wollte keinen derartigen Lärm machen. Ich habe die Kraft meiner Schläge wohl unterschätzt. Oh, hallo Morwenna. Ähem, Entschuldigung, ich meine natürlich Frau Professor Mulham.« Verlegen über diesen Ausrutscher senkt das Mädchen den Blick. Doch sofort wird es aus seiner Unsicherheit gerettet.

»Hallo Anna«, begrüßt sie Iain Raven mit freundlichem Blick.

»Du darfst mich ruhig bei meinem Vornamen nennen«, beginnt fast gleichzeitig die Professorin. »Auch wenn wir jetzt nicht in unserem Schachclub sind, weiß Iain, dass ihr mich derart vertraulich ansprechen dürft, wenn wir unter uns sind. – Aber eine Frage hätte ich.« Die Bibliothekarin und Professorin für Strategie und Logik blickt das Mädchen aus ihren hellgrauen Augen durch die Brille mit den großen Gläsern streng an. Sie sitzt zusammen mit dem Schulleiter an einem großen Eichentisch, wobei sie wie stets die hagere Gestalt kerzengerade hält. »Warum versuchst du die Tür einzuschlagen? Ein leichtes Anklopfen hätte doch gereicht.« Im ersten Moment blickt Anna sie verdattert an, bis sie ein schalkhaftes Aufblitzen der Augen und Schmunzeln im Gesicht der älteren Frau zu erkennen meint. Deren früher schwarzen Haare sind schiefergrau und werden in einem Knoten auf dem Hinterkopf zusammengefasst.

»Aber«, beginnt Anna, »das habe ich doch versucht, wurde aber nicht bemerkt!« Sie ist sich nicht sicher, soll das jetzt doch eine Strafpredigt werden? Aber Morwenna lächelt sie verstehend an und Professor Raven schreitet vorsichtshalber ein.

»Lass mal gut sein, Morwenna. Vermutlich hat Anna mir etwas zu berichten vergessen, was zu den Ereignissen gehört, von denen sie heute Nacht erzählt hat.« Seine langen, weißgrauen Haare stehen wirr vom Kopf ab. Hellblaue Augen blicken kurz zur Professorin und richten sich anschließend auf das Mädchen. Die weißen, buschigen Augenbrauen scheinen fast mit dem zerzausten Eindruck der Kopfhaare konkurrieren zu wollen. Mit einer Handbewegung fordert er Anna auf, sich ebenfalls zu setzen. Doch sie lehnt ab und entschuldigt sich sofort.

»Danke. Ich möchte nicht unfreundlich sein, habe aber noch einen Termin, zu dem ich bereits zu spät komme. Ich habe tatsächlich noch eine wichtige Entdeckung gemacht, die bei der Suche nach der Identität von Seid Greif helfen könnte. Im Park steht ein Denkmal für den Errichter der Parkanlage, Augustus Back. Und ihm sieht der Mann aus der Anderswelt wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich.« Die beiden Professoren starren das Mädchen ungläubig an.

»Bist du dir ganz sicher?« Iain Raven staunt. »Morwenna und ich haben besprochen, wie wir am besten nach seiner Identität forschen können. Eine schnelle Suche im Internet führte bisher zu keinem Ergebnis. Hm. Wenn es stimmt, was du sagst, haben wir einen neuen Ansatz.«

»Es stimmt. Ainoa hat sich die Statue ebenfalls angesehen und bestätigt es.« Anna fühlt sich nicht beleidigt, weil sie ihre Aussage bekräftigen muss. »Ich verstehe nicht, wie sie etwas über diesen Seid Greif herausfinden wollen. Listen über Geheimnamen, die in der Anderswelt genutzt werden, gibt es doch sicher nicht, oder? In dem Fall wären sie vor unautorisierten Informationsabrufen sicher nicht zu schützen. Es wäre bestimmt irgendwelchen Hackerangriffen möglich, diese sensiblen Daten zu bekommen.«

»Das stimmt. Ich habe bisher die mir bekannten Informationen in verschiedene Suchmaschinen eingegeben. Dabei wurde mir der Vorschlag gemacht, ob ich statt »Seid« vielleicht »Said« meinen würde. Das ist ein im arabischen Raum üblicher Männername. Außerdem gab es Informationen über ein Fabelwesen, den Greif. Das ist ein mythisches Mischwesen mit meistens löwenartigem Leib, dem Kopf eines Adlers, mächtigem Schnabel und Flügeln. Mehr konnte ich bisher nicht herausbekommen und habe deshalb Morwenna um Mithilfe gebeten.«

»Einen Greif gibt es in der Anderswelt tatsächlich«, fügt Anna aufgeregt hinzu. »Katherin hat von ihm berichtet. Er wütet dort schlimmer als Eis- oder Feuerdrachen. Könnte es nicht sein, dass sich Seid Greif in diese Kreatur verwandelt. Sein Name würde dafürsprechen.«

Iain und Morwenna blicken anerkennend zu Anna.

»Du könntest mit dieser Vermutung richtig liegen«, der Professor wirkt hoffnungsvoll. »Wir suchen zuerst im Internet nach Verwandten von diesem Augustus Back.«

»Wenn das alles war, was du ins mitteilen wolltest, solltest du deine Verabredung nicht länger warten lassen«, lächelt Morwenna Anna wissend an. »Falls es um eine Schachpartie geht, ich lass mich heute in der Bibliothek vertreten, aber ihr könnt dort gerne spielen.«

»Wir treffen uns draußen, zum Picknick!«, erwidert das Mädchen sofort. Erst, als die Worte hinaus sind, bemerkt sie, dass sie mehr an Informationen preisgegeben hat, als sie vorhatte. Sofort kriecht eine leichte Röte ihren Hals hinauf. »Das war wirklich alles. Bis später, und viel Erfolg bei der Suche!« Anna dreht sich um und verschwindet hastig durch die Tür ins Vorzimmer. Dort atmet sie tief durch, bevor sie in den Flur hinaustritt. Auf dem Weg nach draußen ruft sie in Gedanken nach Ainoa. »Kommst du bitte dorthin, wo ich dich das erste Mal aus der Falle befreite? Ich habe eine Verabredung und bin viel zu spät.« Sie rennt durch die Flure und kümmert sich nicht um die erstaunten Blicke der anderen Schüler. Manche von ihnen schütteln den Kopf über das schlanke Mädchen mit dem schulterlangen, blonden Haar. Warum ist sie wohl wieder so in Eile?

Als Anna bei dem Haselbusch ankommt, wartet der Kolkrabe bereits auf sie. Er legt den Kopf schräg und krächzt:

»Wie soll ich dir nun helfen? Ein Wechsel in die Anderswelt und zurück könnte dir einen Zeitvorteil verschaffen. Willst du das?«

Das Krächzen versteht Anna nicht, wohl aber die Gedanken des Vogels, die dieser gleichzeitig sendet.

»Das ist nicht notwendig. Kannst du mich mit dem Portaro-Spruch zu einer bestimmten Stelle im Park bringen? Du setzt dich auf meine Schulter, ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf die entsprechende Stelle und du bringst uns dorthin.«

»Klaro. Das geht mit Leichtigkeit. Aber hast du keine Sorge, dabei gesehen zu werden?«

»Also, hier sehe ich niemanden und dort wird bis auf Robin niemand sein. Und ihm will ich sowieso von uns berichten.«

Der Kolkrabe flattert zu ihr und klappert mit den Augendeckeln.

»Bist du sicher, dass das klug ist?«

»Ja! Bitte, mach schon!«

Im nächsten Moment flirrt die Luft neben dem Haselbusch und sofort darauf direkt auf dem Platz in der Nähe des Flusslaufs, wo der Junge wartet. Das bläuliche Gleißen der Luft lässt ihn sich die Augen reiben. Als er erneut zu der Stelle hinschaut, steht dort Anna, die einen großen, schwarzen Vogel auf der Schulter trägt.

»Hallo Anna. – Ist das … ein Rabe?« Robin staunt. »Ich war schon in Sorge, unser Picknick würde ausfallen. Ist etwas passiert? Habe ich zu lange im Sonnenschein gesessen oder hast du auch das komische Glitzern der Luft bemerkt?« Der Junge ist auf dem sonnenbeschienenen Platz von der Decke aufgesprungen und starrt das Mädchen und den Vogel an.

»Entschuldige meine Verspätung. Ich werde dir gleich den Grund sagen, wenn ich von unglaublichen Ereignissen berichte. Hm. Ich hoffe, sie sind es nicht wirklich, sonst bringt es nichts, sie zu erzählen.«

Der Junge blickt sie verwundert an.

»Du sprachst heute Morgen schon so rätselhaft. Wenn ich mich richtig erinnere, fragtest du, was ich von magischen Wesen, Zauberern und Drachen halte. – Das hat jetzt nichts mit deinen Recherchen zu tun, die dich vor Tagen in der Bibliothek vom Schachspiel abhielten?«

Ainoa legt den Kopf schräg und krächzt: »Willst du mich vorstellen, oder soll ich euch vielleicht besser allein lassen. Junge Liebe will manchmal nicht …«

»Halt deinen Schnabel«, sendet Anna empört ihre Gedanken an den frechen Vogel. Erneut breitet sich eine feine Röte auf ihrem Hals aus. »Ich beginne gleich!« Laut fährt sie an Robin gerichtet fort: »Ich sagte doch, dass ich Teil eines unglaublichen Geschehens geworden bin. Darin hatte ich es mit richtigen, feuerspuckenden Drachen zu tun.«

»Du sprachst beim Frühstück von einem Eisdrachen, dem du im Traum begegnet wärst. Spuckt der denn Feuer? – Außerdem sagtest du, Professor Raven habe dich ermahnt, dass du trotz der erlebten Abenteuer kein unterrichtsfrei bekämst. Heißt das, er kennt die Ereignisse, von denen du berichten willst?«

»Spann den Jungen doch nicht so auf die Folter!«, krächzt Ainoa.

»Mach ich doch nicht!« Dieses Mal spricht Anna aus, was sie eigentlich nur gedanklich an die Elfe senden will. Den Fehler bemerkt sie an Robins fragendem Blick.

»Entschuldige, das war für Ainoa bestimmt. – Ich beginne am besten mit dem Anfang der Ereignisse.«

»Das ist keine schlechte Idee«, keckert der Vogel krächzend.

Das beachtet Anna jedoch nicht und setzt sich mit Robin auf die Decke. Sie zerbröckelt einen der Schokokekse, die der Junge mitgebracht hat und streut die Krümel auf die Unterlage. Sie deutet darauf und sendet gedanklich: »Das ist für dich, du solltest es probieren.« Sofort folgt der Vogel der Aufforderung und hockt im nächsten Moment auf der Decke. Er legt den Kopf schrägt, klappert mit den Augendeckeln und nimmt vorsichtig einen ersten Krümel. Sofort kollert er zufrieden und schnappt sich das nächste Stück.

Das Mädchen wendet sich jetzt an den Jungen.

»Robin, ich möchte dir diesen Kolkraben vorstellen. Sein Name ist Ainoa und in Wahrheit ist er, besser gesagt, sie, eine Elfe. – Jetzt schau mich nicht so an, als ob ich verrückt geworden wäre. Es begann alles damit, als ich vor einigen Tagen in der Nacht ein Krächzen hörte. Eine Elfe, also dieser Rabe, steckte in einer Durchlauffalle, die vom Gärtner unter einem Haselbusch aufgestellt worden war.« Die nächsten zwei Stunden berichtet Anna. Sie wird nur gelegentlich vom Krächzen Ainoas unterbrochen, um eine Ungenauigkeit in dem Bericht zu korrigieren. Als das Mädchen endet, blickt es den Jungen flehend an. »Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, ich sei verrückt geworden!« Robin schluckt mehrmals, so wie er es auch während des langen Berichts zwischendurch immer wieder gemacht hat. Dann wendet er sich zuerst an den schwarzen Vogel.

»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Ainoa!« Dann blickt er Anna an. »Warum hast du mich nicht früher eingeweiht. Ich hätte doch mitkommen und dir, ähem, euch helfen können.« Anna fällt ein Stein vom Herzen. Robin glaubt ihr, das ist klar. Doch im gleichen Augenblick spürt sie, wie sich ihre Fäuste unwillkürlich ballen.

»Warum meinst du, dass ich deine Hilfe benötigt hätte? Wie du soeben gehört hast, haben wir Saphira nicht nur gefunden, sondern auch sicher aus dem Nebelwald nach Hause …« Hier wird das aufgebrachte Mädchen, dass sich erhoben hat, von dem Jungen unterbrochen.

»Halt! Sei nicht empört. Ich wollte keinesfalls andeuten, dass die Aufgabe mit meiner Hilfe besser oder schneller hätte gelöst werden können! Ich hätte dich nur zu gern begleitet, um die Wunder der Anderswelt mit eigenen Augen zu bestaunen. Außerdem …« Er macht eine längere Pause und blickt Anna direkt in die Augen, die sich währenddessen etwas verlegen auf die Decke setzt. »Ich verspürte im Nachhinein Sorge um dich! Mein Herz wollte bei deinem Bericht mehrfach stehenbleiben, so sehr fieberte ich um dich mit.« Die letzten Worte werden immer leiser, so dass sie kaum zu verstehen sind. Doch Anna und auch Ainoa haben ein feines Gehör.

»Ich glaube, ich lasse euch doch allein«, krächzt der Vogel.

»Das ist eine gute Idee«, sendet das Mädchen und wendet sich laut an Robin. »Auch wenn deine Sorge um mich im Nachhinein unnötig ist, freue ich mich darüber. Aber jetzt sollten wir uns beeilen, wenn wir nicht zu spät in den Speisesaal kommen wollen.« Auf das Gekrächze des Kolkraben antwortet sie so, dass der Junge es auch verstehen kann. »Danke für dein Angebot, Ainoa. Aber diesmal nutzen wir besser keine Zauberkräfte. Wir sehen uns vermutlich morgen Nachmittag. Lass es dir bis dahin gut gehen.« Der Vogel krächzt laut und schwingt sich in die Abendluft. Die Freunde packen die Decke zusammen und eilen zum Internatsgebäude.

Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches

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