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Anreise zum Turnier

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Alle Mitglieder des Schachteams sind aufgeregt. Sie haben in den letzten Tagen bis gestern spät abends Schach gespielt, wobei die Spielpaarungen mit jeder neuen Partie wechselten. Der vor zwei Wochen angekündigte Vergleichswettkampf findet zu Beginn der Herbstferien am Freitag, Samstag und Sonntag statt. Die Anreise mit der Eisenbahn erfolgt deshalb am Donnerstagnachmittag. Der Schulleiter Iain Raven lässt es sich nicht nehmen und verabschiedet die Vertreter seiner Schule am Bahnsteig.

»Ich bin überzeugt, ihr werdet euer Bestes geben, um eurer schulischen Heimat, dem Internat Cinnt Caisteal, Ehre zu machen. Ich freue mich, dass ihr dafür sogar den ersten Ferientag opfert.« Sein Blick wandert über die Gruppe und ruht kurz auf Anna, wobei er ihr unbemerkt zuzwinkert. Schließlich schaut er die Teamleiterin an. »Morwenna. Innocent Green wird alles versuchen, damit ihre Schützlinge gewinnen. Ob sie dazu notfalls psychologische Tricks nutzen wird, weiß ich nicht, erwarte aber, dass ihr keine derartigen Kniffe anwendet. Ich drücke euch die Daumen. – Denk an den Wahlspruch unseres Internats: »Scientia potestas est.« Nutze die Zeit dort klug.« Professor Mulham nickt anstelle einer Antwort, dreht sich zu den Schülern und fordert sie auf, in den wartenden Zug zu steigen. Als sich diese im Wagon auf die Sitze verteilt haben, fragt Anna Robin:

»Was sagte Iain Raven zu Morwenna? Ich habe erst seit wenigen Wochen Latein. Kannst du es übersetzen?«

»Es bedeutet: Wissen ist Macht. Will er sie damit auf die notwendigen Recherchen hinweisen?«

»Das könnte der Grund sein«, stimmt sie ihm zu. »Morwenna muss er aber sicher nicht daran erinnern, da sie weiß, wie wichtig ihre Aufgabe ist. Trotzdem wird unsere Teamleiterin vielleicht durch mögliche, fiese Tricks dieser Innocent Green davon abgelenkt werden. Wenn ich daran denke, wie aufgebracht sie noch im Nachhinein auf deren hochmütige Art reagierte, könnte das eine letzte Ermahnung Professor Ravens sein.« Beide erinnern sich an den verkniffenen Gesichtsausdruck Morwennas, als diese von der Begegnung mit der anderen Teamleiterin berichtete.

Die Zugfahrt dauert etwa drei Stunden und wird verschieden genutzt, um sich mental auf die kommende Aufgabe vorzubereiten. Einige Schüler schauen aus dem Fenster und lassen die vorbeifliegende Landschaft auf sich wirken, andere halten die Augen geschlossen und gehen in Gedanken mögliche Eröffnungsvarianten für die kommenden Tage durch. Morwenna betrachtet ihre Schützlinge mit wohlwollendem Lächeln. Sie haben nur wenig Gepäck dabei, das ordentlich in den Ablagen über ihnen verstaut ist. Das sind entweder kleine Koffer oder einfach nur Rucksäcke. Für drei Übernachtungen benötigen sie nicht viel, zumal ihnen in den Gästezimmern des Internats alle benötigten Dinge zur Verfügung gestellt werden. Deshalb müssen sie lediglich Wäsche zum Wechseln und persönliche Dinge mitbringen.

Die Professorin bereitet sich auf das erneute Zusammentreffen mit Innocent Green vor. Sie ruft sich die überheblichen und herablassenden Blicke ihrer ehemaligen Studienkollegin vor Augen, um sich dagegen zu wappnen. Sie möchte dadurch erreichen, die Spiele objektiv verfolgen und bewerten zu können. So wird es möglich sein, daraus Verbesserungsansätze für ihre Schützlinge zu gewinnen. Aber auch die notwendige Recherche nach Augustus Back kann nur mit ruhigem Blut zum Erfolg führen. Ihr Blick richtet sich nach draußen in die Landschaft. In der Spätnachmittagssonne glitzern unzählige Insekten in der Luft. Noch besitzen viele der Bäume, die scheinbar am Zug vorbeiziehen, ihre bunten Blätter. Sie leuchten in warmem Rot, Braun oder Gelb. Das Sonnenlicht fällt ebenso auf das bereits am Boden liegende Laub, das vom nahenden Winter kündet. Obwohl das jetzt kaum vorstellbar ist, wird in einigen Wochen morgens weißer Raureif Blätter und Gräser überziehen.

Da die Ankunftszeit des Schachteams bekannt ist, wartet Innocent Green am Bahnsteig. Beide Frauen begrüßen sich. Es liegt lediglich ein kurzer Fußmarsch vor ihnen, bevor sie mit einem Bus der öffentlichen Verkehrsmittel zum Internat in den Norden des Ortes fahren. Die Schüler des CC sind zum ersten Mal in dieser Stadt, die für ihre Ausbildungsstätten im Land berühmt ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass ihre Blicke zu den Gebäuden aus hellgrauem oder gelblichem Stein gezogen werden. Sprossenfenster, Türme, Statuen auf Gesimsen und Verzierungen geben dem Ort ein ehrwürdiges Aussehen. Anna sitzt neben Robin und hinter Morwenna. Die dreht sich zu ihnen um und deutet auf ein imposantes Gebäude.

»Das ist das Queens College, das für seine Bibliothek berühmt ist, zu der mir Innocent Green den Zutritt ermöglicht.«

Die Schüler betrachten staunend den Eingang zum Inneren des Gebäudes. Von dem Gehweg an der Straße führen ausladende Stufen hinauf zu einer verzierten, zweiflügeligen, breiten Eichentür. Die Fassade wirkt fast tempelartig, da sie auf beiden Seiten des Tores mit jeweils zwei Säulen geschmückt ist. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, da sich darüber eine von mehreren Doppelsäulen getragene Kuppel als Torhüter befindet, unter der eine große Statue in wallendem Umhang steht. Der Bus muss kurzzeitig langsamer fahren, deshalb erhaschen sie einen kurzen Blick ins Innere. Nach Durchschreiten des Eingangs gelangt man in einen rechteckigen Innenhof, durch dessen grüne Rasenfläche mittig ein Weg verläuft.

Die Schüler haben kaum Zeit, die vielen Eindrücke auf sich wirken zu lassen, da die Fahrt zum Internat schneller vergeht, als ihnen lieb ist. Das imposante Gebäude ist aus rotem Backstein errichtet und besitzt eine beeindruckende Anzahl kleiner und großer Giebel. Sofort nach der Ankunft werden sie zügig durch eine Tür ins Innere des Gebäudes, durch verwinkelte Gänge und eine Treppe in einen Raum geführt, der als kleiner Speisesaal genutzt wird. Dort ist für sie ein Abendessen als Büffet vorbereitet. Innocent Green fordert alle auf, sich zu setzen. Sie begrüßt das Schachteam und insbesondere ihre liebe Freundin und ehemalige Studienkollegin erneut und heißt sie willkommen. Sie beendet die darauffolgende, kleine Ansprache mit den Worten:

»Ich wünsche uns allen ein spannendes Wochenende und faire Kämpfe.« Dann fügt sie mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu: »Falls es für keinen deiner Schützlinge zu einem Sieg reicht, liebste Morwenna, dann hattet ihr wenigstens einen schönen Ausflug in unsere berühmte Stadt. Aber gebt deshalb nicht auf. Dein Team besteht erst seit wenigen Wochen, da liegt noch ein weiter Weg vor euch, bis ihr bei landesweiten Wettkämpfen erfolgreich sein werdet. Und nun greift zu.« Mit süffisantem Lächeln fordert sie alle auf, jetzt mit dem Essen zu beginnen. Anna ballt ihre Fäuste und beobachtet Professor Mulham. Zwischen deren Augenbrauen hat sich eine steile Falte gebildet. Morwenna verharrt mit versteinerter Miene auf ihrem Platz neben der sich wieder setzenden Professor Green. Sie schluckt und atmet mehrfach tief ein und aus. Ihr Blick trifft auf den von Anna, die in deren hellgrauen Augen flackernden Zorn zu sehen meint. Oder ist das eine Lichtspiegelung auf den großen Brillengläsern? Doch das dauert nur wenige Momente, dann überzieht ein feines Lächeln Morwennas Gesicht. Sich ihrer Kollegin zuwendend antwortet sie mit ruhiger Stimme, jedoch so, dass alle sie hören können.

»Danke, Innocent. Wir kommen gern auf dein Angebot zurück, dass wir bei dir einige Übungsstunden bekommen werden. – FALLS es denn notwendig sein sollte. Aber jetzt wollen wir wirklich essen.« Anna hatte sich, genau wie die anderen Schüler, vor Empörung nicht zu bewegen gewagt. Alle schauen zu den ungleichen Professorinnen. Ihre Teamleiterin hält die hagere Gestalt gerade aufgerichtet. Sie wappnet sich offensichtlich für eine mögliche, neue Äußerung, die jedoch ausbleibt. Die fülligere Innocent Green nickt nur kurz. Ihr ist die gegen sie gerichtete, feine Spitze offenbar entgangen.

»Stimmt, das hatte ich versprochen. Aber jetzt lasst uns wirklich essen. Der Fußweg zum Bahnhof und die Fahrt im Bus waren doch anstrengender, als ich gedacht hätte.« Sie erhebt sich erneut, zieht verstohlen eine Brille aus ihrem wallenden Umhang und blickt kurz zu der Tafel mit den vorbereiteten Speisen. Sie nickt, steckt die Sehhilfe schnell zurück und steuert auf den Stapel Teller zu. Zusammen mit Morwenna Mulham erheben sich alle und reihen sich hintereinander auf, um sich zu bedienen.

Im Anschluss an das Essen führt Innocent Green alle in den Clubraum des Schachteams. Er ist sehr großzügig ausgestattet. In großen Vitrinen sind die gewonnenen Pokale ausgestellt. Die Anzahl ist beeindruckend groß! Hier warten die Spieler, gegen die sie antreten werden. Abschätzende Blicke fliegen hin und her. Anders als Professor Green wirken die Jungen und Mädchen nicht überheblich. Sie zeigen den Gästen aber voller Stolz die vielen Siegerpokale. An den Wänden gibt es Tafeln mit berühmten Namen, die demnach Mitglieder in diesem Club waren. Auf einem Messingschild steht das Gründungsjahr vermerkt: 1869! Da scheint es ein bisschen verständlich, dass die Professorin auf ihren Schachclub stolz ist, obwohl das herablassende Gebaren eine völlig falsche Einstellung offenbart. Während erste, zögerliche Gespräche zwischen den Schülern stattfinden, erklingt ein überraschter Ruf: »Britta, was machst du denn hier?« Die helle Stimme passt zu dem Jungen, der sich durch die verschiedenen Gruppen der Schüler zu dem Mädchen drängt.

»Ich gehöre zum Schachteam unseres Internats. Ich wusste gar nicht, dass du dieses Spiel derart gut beherrschst, Ciaran.« Da er bei dem Treffen anwesend ist, liegt das auf der Hand. Die beiden sondern sich von den herumgehenden Grüppchen ab und setzen sich an einen der Tische. Sie unterhalten sich angeregt, während Anna und Robin die Widmungen auf den Pokalen von einem rothaarigen Jungen erklärt bekommen.

Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches

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