Читать книгу SPQR - Der Fluch der Mumie - Norbert Wibben - Страница 11
Einfacher Fall für die Kripo
ОглавлениеKriminalkommissarin Inge Husmann ist noch relativ jung. Durch die Zusammenarbeit mit Clas Hinnerk hat sie jedoch gelernt, welches Vorgehen in einem Kriminalfall erfolgversprechend ist. An vorderster Stelle steht, die Fakten unvoreingenommen zu sammeln. Das bedeutet, sie beim Feststellen nicht sofort auf ihre Wichtigkeit hin zu bewerten. Nach einer Tatortbesichtigung und Durchsicht aller Umstände, können sie im Gesamtbild eine völlig andere Wertigkeit erlangen. Das ist unabhängig davon, um welch ein Delikt es sich handelt. Dennoch erstaunt es die Beamtin, zu einem Fall wie diesem gerufen zu werden. Warum sollte die Kriminalpolizei zur Aufklärung eines einfachen Handtaschenraubs hinzugezogen werden? Zumal der offensichtliche Dieb bereits festgenommen werden konnte.
Sie schaut kurz bei ihrem älteren Kollegen vorbei, doch dessen Büro ist leer. Könnte er auch zu dem »Tatort« gerufen worden sein? Dass gleich zwei Kriminalkommissare angefordert werden könnten, hält sie jedoch für mehr als unwahrscheinlich. Nein, Clas wird in einer anderen Angelegenheit unterwegs sein.
Inge Husmann verlässt den ersten Stock und wendet sich im Erdgeschoss zum Ausgang in den Innenhof. Die dort stehenden Dienstfahrzeuge können, nach vorheriger Anmeldung, von den Beamten genutzt werden. Sie öffnet die doppelflügelige Tür und läuft Richtung Fahrradstand. Auch wenn sich der auf einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Areal befindet, gibt es hier verschließbare Boxen, in denen die Räder optimal gegen Diebstahl geschützt sind. Es ist kaum zu glauben, aber bis zur Anschaffung dieser geschlossenen Unterstände kam es tatsächlich immer mal wieder vor, dass ein Zweirad gestohlen wurde. Und das direkt unter den Augen der Polizei! Das beeinflusste die Aufklärungsquote leider nicht. Sie war auch nicht besser als die für die gleichen Delikte im Bahnhofsbereich.
Die Kriminalkommissarin kommt seit der verbesserten Sicherung des Fahrradunterstandes mit ihrem Sportrad zum Dienst. Da es ein superleichtes Rennrad ist, das jeden neuen Besitzer erfreuen würde, ist Inge Husmann über die Sicherungsmöglichkeit sehr froh. Sie öffnet mit einem Schlüssel das Sicherheitsschloss und setzt den farblich zum Erscheinungsbild des Rads passenden Fahrradhelm auf. Ihre dunklen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare bilden dabei kein Hindernis. Sie schauen unter dem Helm hervor. Die junge und sportliche Frau hat sich vorgenommen, soweit möglich ihr Fahrrad zur Fortbewegung einzusetzen. Sie will die CO2-Belastung der Umwelt durch die Nutzung eines Dienstwagens vermeiden. Solange das Wetter mitspielt, ist dagegen nichts zu sagen, äußern sich manche Kollegen. Bei Regenwetter sieht das schon anders aus, da ist das kein Spaß mehr. In der Wismarer Bucht weht des Öfteren Wind über die Wasserfläche der Ostsee herein, wobei kurz andauernde Regenschauer durch die Straßen getrieben werden. Den Dienst mit nasser Kleidung anzutreten, kann schnell mit Krankheit enden, winken sie ab. Doch so denken nicht alle und Inge auch nicht. Dafür gibt es geeignete Regenkleidung, die sie in einem abschließbaren Koffer auf dem Gepäckträger verstaut oder im Büro für diesen Fall aufbewahrt hat. Sie verschließt ihre Fahrradbox und fährt los.
Wenn Clas nicht zu diesem Fall gerufen wurde, und davon geht die Kommissarin aus, was wird sie dann gleich erwarten und wie ist vorzugehen? Sie tritt in die Pedale und sondiert die bereits erhaltenen Informationen. Ein fremdländisch aussehender junger Mann soll versucht haben, einer älteren Frau die Handtasche zu entreißen. Diese war unterwegs, um sich eine neue Sommerjacke für den Frühling zu kaufen und stöberte in den angebotenen Frühjahrsmodellen herum. Da sie dadurch abgelenkt war, hatte das nach ihren Worten verdächtige Subjekt die Gelegenheit genutzt, ihr die Tasche zu stehlen. Auf ihre beherzte Gegenwehr und ihr Geschrei hin, hatten einige Kunden eingegriffen und den verhinderten Dieb bis zum Eintreffen eines Polizisten festgehalten.
Die herbeigerufene Streife hatte die Aussagen der Frau und des jungen Mannes aufgenommen. Der stellte das Ereignis abweichend von der aufgebrachten, älteren Kundin dar. Er erklärte, über deren Einkaufstrolley gestolpert zu sein, weil der völlig unerwartet in den Gang geschoben worden sei. Um seinen Sturz abzufangen, hatte er nach dem erstbesten Halt gegriffen und dabei den Arm und die Handtasche der Frau erwischt. Er beteuert, keinen Diebstahl beabsichtigt und sich sofort für den Griff entschuldigt zu haben. Doch die Kundin wollte davon nichts wissen und bestand darauf, einen Dieb auf frischer Tat ertappt zu haben.
Inge schüttelt unwillkürlich den Kopf. Auch wenn sie zugibt, dass ein versuchter Handtaschendiebstahl durchaus denkbar ist, warum sollte der junge Mann das in einem gut besuchten Kaufhaus versuchen? Er musste damit rechnen, auf das Geschrei der Bestohlenen hin schnell an einer Flucht gehindert zu werden. Die Kommissarin schärft sich ein, unvoreingenommen an den Fall heranzugehen. Einen möglichen Täter schon vor Besichtigung des Tatortes freizusprechen passt keinesfalls dazu. Die zunehmende Verwendung von Einkaufstrolleys durch ältere Mitmenschen ist zwar nachvollziehbar, birgt aber durchaus auch Gefahren. Ihr ist es auf dem Wochenmarkt im Gedränge gelegentlich passiert, dass sie um Haaresbreite über ein derartiges Transportmittel gestolpert ist. Daher klingt die Beteuerung des jungen Mannes nicht aus der Luft gegriffen, könnte jedoch ebenso eine geschickte Behauptung sein. Sie schüttelt erneut den Kopf.
»Du solltest erst vor Ort entscheiden, welche Aussage wahrscheinlicher erscheint. Außerdem gibt es womöglich Zeugen, die den Hergang mitbekommen haben. Da ist es besonders wichtig, deren Beobachtungen festzuhalten, solange sie frisch sind.«
Sie blickt auf ihre Armbanduhr. Die Meldung erfolgte vor mehr als zwanzig Minuten. Daher scheint es fast unwahrscheinlich, im Kaufhaus noch einige Kunden anzutreffen, die zum Zeitpunkt des Geschehens anwesend waren. So lange wird kaum jemand …
Urplötzlich dreht sich die Welt um Inge. Der Blick auf ihre Uhr hat sie abgelenkt. Die extrem schmalen Reifen ihres Rennrades sind nicht gut für das Fahren auf dem alten Kopfsteinpflaster der Altstadt geeignet. Die Fugen zwischen den Steinen sind manchmal derart breit und tief, dass die Gefahr besteht, mit dem Rad hineinzugeraten. Und genau das passiert in diesem Augenblick.
Die Kommissarin versucht, den Sturz abzufangen, doch das misslingt völlig. Was im Einzelnen geschieht, bekommt sie nicht mit. Auch im Nachhinein vermag sie die Details des Unfalls nicht abzurufen. Sie stellt lediglich erstaunt fest, dass sie sich unerwartet auf dem Boden befindet. Inge richtet sich erschrocken auf. Sie starrt dabei auf die rechte Hand. Dort steht der kleine Finger in ungewöhnlichem Winkel ab. Schnell entschlossen fasst sie diesen unwillkürlich mit Links und zieht ihn in die ursprüngliche Stellung zurück. Er musste aus dem Gelenk gesprungen sein. Schmerzen verspürt sie seltsamerweise nicht, obwohl er bereits anschwillt.
Passanten treten besorgt zu ihr und fragen, ob sie Hilfe benötigt. Doch die scheint nicht nötig, da sie von allein aufstehen konnte. Gebrochen ist offenbar nichts! Sie tastet sich vorsorglich ab, klopft den Staub von der Hose und betrachtet anschließend das Fahrrad mit kritischem Blick. Das hat nur wenig abbekommen, wie sie schnell feststellt. Eine Beschädigung ist lediglich am hinteren Schaltwerk der Kettenschaltung erkennbar, das leicht verbogen und dadurch aus der Spur gebracht ist. Mit etwas Druck gelingt es, das zumindest notdürftig zu richten. Gummihandschuhe aus dem Koffer verhindern dabei, dass ihre Hände vom Kettenöl beschmiert werden.
Inge schimpft innerlich, nur durch ihre Unachtsamkeit diesen Sturz verursacht zu haben. Sie ist froh, offenbar derart glimpflich davongekommen zu sein. Sie steigt auf und fährt zu ihrem ursprünglichen Ziel weiter.
Bei der Ankunft am Kaufhaus verschließt sie das Rad mit einem Bügelschloss. Aus dem Koffer nimmt sie ein vorbereitetes Hinweisschild, dass sie zusätzlich durch das Schloss sichert. Auf dem Schild steht: »Polizei im Einsatz. Finger weg!« Sie hofft, dass das mögliche Fahrraddiebe abschreckt und nicht nur zu deren Belustigung beiträgt. Als sie den Helm wegschließt, stellt sie fest, dass an ihm Spuren vom Sturz zu erkennen sind. Anders als vorhin wahrgenommen, muss sie doch mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen sein. Der Schutzhelm hat seine Funktion offensichtlich bestens erfüllt, sonst hätte sie jetzt vermutlich mindestens Abschürfungen und eine heftige Gehirnerschütterung, wenn nicht gar Schlimmeres.
Der mögliche Fall eines versuchten Handtaschenraubs konnte inzwischen aufgeklärt werden. Einer der zwei hinzugerufenen Streifenpolizisten hatte in der Zwischenzeit genau das gemacht, was die Kommissarin vorgehabt hat. Während der vermeintliche Täter und sein Opfer unter Aufsicht des einen Beamten im Büro des Kaufhausleiters auf das Eintreffen von Inge Husmann warteten, hatte der andere den Tathergang recherchiert. Dabei stellte sich heraus, dass die Behauptung des jungen Mannes am wahrscheinlichsten erschien.
Auf den Vorschlag des Polizisten, auf eine Anzeige zu verzichten, wollte die ältere Frau jedoch nicht eingehen. Sie schüttelte vehement den Kopf und schimpfte lauthals darüber, dass die Täter von der Polizei geschützt würden, anstatt diese außer Landes zu verweisen.
Inge Husmann lässt sich von dem Beamten die Ermittlungsergebnisse mitteilen und tippt einige Fakten in ihr Handy. Das vermeintliche Opfer ist kaum zu beruhigen. Die Kommissarin erkennt, dass sich die Dame, vom fremdländischen Aussehen des Mannes beeinflusst, beständig mehr in Rage redete. Deshalb schließt sie die Ermittlungen vor Ort und wendet sich mit entschlossenem Blick an die zeternde Kundin.
»Unserer Meinung nach trifft den von ihnen Verdächtigten keine Schuld an dem Vorfall. Von Zeugen des Geschehens wird bestätigt, dass er durch ihren Hackenporsche, ich meine natürlich Einkaufstrolley, zu Fall gebracht wurde. Lediglich sein Griff an ihren Arm, liebe Frau, rettete ihn davor, unsanft auf dem Boden aufzuschlagen und sich möglicherweise zu verletzen.«
»Das ist eine Unverschämtheit«, beginnt diese aufzubegehren. »Ich bleibe dabei, dass er mir die Handtasche zu entreißen versuchte. Ich habe doch sein heftiges Zerren, um sie mir zu stehlen, genau gespürt! Daran hinderten ihn nur mein lautes Geschrei und das Eingreifen anderer Kunden.«
»Die haben jedoch seine Version des Geschehens bestätigt und zu Protokoll gegeben. Ihnen bleibt natürlich frei, den jungen Mann anzuzeigen. Das müssten sie auf dem Polizeirevier machen. Ich rate jedoch davon ab. Ich verfasse einen Bericht, genau wie dieser Kollege, in dem die ermittelten Fakten aufgeführt werden. Sollte Herr …«, sie blickt auf ihre Notizen im Handy, »…, wenn Herr Murat Osakin seinerseits Anzeige gegen sie erstatten will, beispielsweise wegen versuchter, fahrlässiger Körperverletzung, hat er eine gute Chance, von dem Vorwurf eines misslungenen Handtaschendiebstahls freigesprochen zu werden. Deshalb mein Rat, belassen wir es dabei, dass zum Glück niemand zu Schaden gekommen ist!« Einen kurzen Moment vergleicht die Kommissarin die Frau gedanklich mit einem Goldfisch. Deren Mund öffnet und schließt sich, ohne einen Laut von sich zu geben. Danach dreht sich diese wortlos um und stampft schnaufend von dannen.
Auf der Rückfahrt vom Kaufhaus denkt Inge Husmann an die Dankesäußerungen des jungen Mannes, der bereits befürchtete, wegen seines ausländischen Aussehens keine Aussicht auf eine gerechte Untersuchung des Vorgangs zu haben. Sie ermahnt sich, ihre Aufmerksamkeit in die Gegenwart zu richten und besser auf die Straßenverhältnisse zu achten. Ihr kleiner Finger ist inzwischen dick und blau angelaufen. Er schmerzt derart stark, dass sie beschließt, nach einem in die PC-Tastatur getippten Bericht zum Krankenhaus zu fahren. Sie sucht Clas Hinnerk noch schnell vor dem Hinausgehen auf.
»Ich hatte einen Fahrradunfall«, teilt sie ihm mit. Sie will ihn darauf vorbereiten, dass sie womöglich ein paar Tage ausfallen wird. »Bis auf einen Schlag gegen meinen Helm und einen ausgerenkten, kleinen Finger, ist mir nichts geschehen. Die Hand möchte ich vorsichtshalber röntgen lassen.«