Читать книгу SPQR - Der Fluch der Mumie - Norbert Wibben - Страница 12
Déjà-vu?
ОглавлениеInge wundert sich beim Aufwachen, dass sie offenbar in einem fremden Bett liegt.
»Wo … bin ich?«, fragt sie sich, dabei kommt kein Laut über ihre Lippen. Ihre Augenlider versuchen, sich zitternd zu heben. Sie kraust ihre Stirn. Weshalb gelingt das nicht? Dass sie sich nicht zu Hause befindet, spürt sie an der ungewöhnlichen Härte der Matratze. Es muss fast Mittag sein, so hell, wie es durch ihre geschlossenen Lider schimmert. Warum liegt sie derart lange in einem Bett, wo immer das auch steht? Denn wo sie ist, will ihr nicht klar werden.
Plötzlich blitzten die Bilder vom Sturz mit dem Rennrad in ihrem Kopf auf. Dann ändert sich die Szene. Sie sieht die Situation im Kaufhaus und ebenso die Rückfahrt zum Kommissariat im Zeitraffer. Am Schreibtisch hatte sie ihren Bericht geschrieben und dabei Aussetzer beim Blick auf den Bildschirm gehabt. Da sie außerdem zunehmende Schmerzen in der rechten Hand spürte, wollte sie ihren Kollegen informieren und danach zum Krankenhaus fahren.
Inge nickt kurzzeitig ein und wacht erschrocken wieder auf. An die Fahrt zum Spital hat sie keinerlei Erinnerung. Sie weiß nur, von Clas Hinnerk auf den Innenhof begleitet worden zu sein, wo sie taumelte. Womöglich brach sie sogar zusammen, denn die Bilder setzen an dieser Stelle aus. Sollte sie sich inzwischen in einem Krankenhausbett befinden? Sie hatte die Absicht, dort … Plötzlich erinnert sie sich.
»Genau, ich wollte meinen Finger röntgen lassen. Warum schmerzt der nicht mehr, sollte ich den Sturz nur geträumt haben?«
Ihr Kollege könnte sie zum Hospital gebracht haben, wo sie sich auf einer Liege in der Notaufnahme befindet. Dann stammt die Helligkeit womöglich von einer starken Untersuchungslampe. Oder liegt sie bereits auf einer OP-Liege oder in einem Stationsbett? Sie hat nicht viel Erfahrung mit Situationen in Krankenhäusern. Sie ist zuletzt als Besucherin in einer Klinik gewesen. Wie war das noch? Genau! Sie hatte in Schwerin am Bett von Clas Hinnerk gesessen, dessen einbandagierter Kopf und blasses Gesicht kaum von dem weißen Laken zu unterscheiden waren. Sie seufzt.
»… da bist ja wieder!«, ist das Nächste, was Inge Husmann vernimmt. Die Stimme kommt ihr bekannt vor.
»Clas, bist du das? Wo bin ich?«, versucht sie zu sagen.
Ihre Worte werden nicht gehört, so leise erklingen sie. Anstatt ihres Kollegen antwortet eine fremde Frau.
»Sie möchten vermutlich wissen, wo sie sind. Richtig?«
Inge beabsichtigt, mit dem Kopf nickend, die Bestätigung zu geben. Sofort spürt sie eine aufsteigende Übelkeit und einen Brechreiz. Dem will sie vor einer Fremden und einem Kollegen keinesfalls nachgeben. Sie schluckt ein paar Mal würgend.
»Langsam, meine Liebe. Sie sollten sich besser nicht schnell bewegen. Versuchen sie lediglich, die Augen zu öffnen, dann vergeht ein mögliches Unwohlsein. So ist es gut.«
Inge schafft es, die Augenlider zu heben, doch sie muss heftig blinzeln. Das Licht der Deckenleuchte blendet stark und lässt sie die Lider wieder schließen. Nur nach und nach gelingt es ihr, sie offenzuhalten. Ihr zu Beginn verschwommenes Sehvermögen bessert sich im gleichen Maße. Sie blickt in das wohlwollende Gesicht einer Fremden und dreht den Kopf langsam in die Richtung, aus der sie die Stimme ihres Kollegen vernommen hat. Der sitzt auf einem Besucherstuhl und lächelt sie an. Ihm ist deutlich anzusehen, dass er über ihre Rückkehr in die Realität froh ist.
»Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt. Auf dem Innenhof brichst du auf dem Weg zum Fahrzeug ohne ein Wort zusammen. Ich schaffte es kaum, dich ins Auto zu bugsieren und hierher zu fahren …«
»Jetzt mal langsam«, unterbricht die Krankenschwester den Kommissar. »Ich habe noch andere Patienten zu versorgen und muss meine knappe Zeit einteilen. Frau Husmann hat vermutlich Fragen, die ich ihr gerne beantworte. Doch danach muss ich sie verlassen.« Sie wendet sich an die im Bett Liegende, deren Gesicht offensichtlich ein einziges Fragezeichen ist. »Ihr Kollege berichtete, dass sie einen Unfall mit dem Fahrrad hatten. Er hat sie, besorgt durch ihre körperliche Verfassung, sofort ins Krankenhaus gebracht. Er wollte keine Zeit mit dem Warten auf einen Rettungswagen ungenutzt verstreichen lassen. Sie hatten sich nach seinen Worten zuvor ungewöhnlich verhalten und bei ihm eingehakt. Das sprach für ihn dafür, dass sie beim Sturz einen Schlag gegen den Kopf erhielten, der heftig gewesen sein muss. Ein Blutgerinnsel im Schädel hätte die Ursache sein können. Da sie nur noch unverständlich gelallt haben, machte ihr Kollege einige notdürftige Angaben. Der diensthabende Arzt der Notaufnahme unternahm daraufhin eine schnelle, aber keineswegs oberflächliche Untersuchung. Sie wurden anschließend sofort im CT durchleuchtet. Dadurch konnten innere Verletzungen ausgeschlossen werden.
Sie sind durch ihren Helm glimpflich davongekommen. Trotzdem war die Gehirnerschütterung sehr heftig, die auch für die leichte Verwirrtheit die Ursache ist. Darum werden sie eine Nacht zur Beobachtung hierbleiben. Dass sie ihren Finger selbstständig eingerenkt haben, ist mutig gewesen. Das war möglich, weil der Adrenalinausstoß nach dem Sturz das Schmerzempfinden herabgesetzt hatte. Jetzt hilft das Schmerzmittel, das sie über die Infusion erhalten. Das Fingerglied wird noch viele Tage dick und blau sein. Doch wenn sie den Finger nicht bewegen und belasten, wird das ohne Probleme abklingen und heilen. Dabei wird die Fingerschiene helfen, mit der wir ihn ruhiggestellt haben.«
Inge wirft einen Blick auf die angehobene rechte Hand und nickt. Es stimmt, Schmerzen empfindet sie keine. Sie hüstelt, um den Kloß im Hals loszuwerden.
»Wa… wann werde ich nach Hause können, morgen früh?«
»Ihr Kollege sagte, dass sie bei der Kriminalpolizei arbeiten. Der Unfall fand im Dienst statt, richtig? Gut. Trotzdem sollten sie nicht voreilig handeln. Die von ihnen bearbeiteten Fälle ruhen besser eine Zeit lang. Der Stationsarzt wird sie morgen im Anschluss an die Visite untersuchen. Wenn er mit ihrem Zustand zufrieden ist, können sie entlassen werden.« Die Krankenschwester kontrolliert die Einstellung des Tropfenreglers. Inge schließt die Augen. »Das ist eine gute Idee«, fährt sie fort. »Schlafen sie. Das beschleunigt die Heilung und ist bei einer Gehirnerschütterung sehr zu empfehlen.« Die Stimme der Frau wird leiser. Sie wendet sich an den Kommissar. »Sie können gerne noch einen Augenblick bleiben, sollten sie aber ruhen lassen. Also keine Informationen zu aufregenden Kriminalfällen! Versprochen?« Sie wartet die Antwort nicht ab, entfernt sich vom Bett und verlässt das Zimmer.
Inge sinkt jedoch nicht in den angekündigten Schlaf. Sie öffnet die Augen erneut. Diesmal ohne Sorge, dass das Licht schmerzen könnte. Sie dreht den Kopf in Richtung ihres Kollegen.
»Clas, ich danke dir!«
Der winkt mit einer Handbewegung ab.
»Du hättest für mich das Gleiche …« Er macht eine Pause und grinst. »… versucht. Aber bei meinem nicht geringen Körpergewicht …« Der Kommissar lässt den Satz unvollendet. Trotz dieser Witzelei ist er schlank, körperlich fit und besitzt eine normale Statur. Inge wirkt dagegen zierlich und zerbrechlicher, als sie ist. Er weiß aber, sie ist drahtig und zäh.
Sie lächelt ihn an, erwidert jedoch nur: »Danke!«
Anschließend schweigen beide. Clas will schließlich aufstehen, um dem Rat der Krankenschwester zu folgen. Doch seine Kollegin hindert ihn daran.
»Wurdest du zu einem neuen, interessanten Fall gerufen? Bevor ich zu einem vermeintlichen Handtaschenraub fuhr, schaute ich in dein Büro. Du warst nicht dort.«
»Sollte ich dich begleiten?« Sein fragender Blick deutet an, dass er das für eher unwahrscheinlich hält.
»Nein, das war nicht der Grund. Ich wollte …« Sie schweigt verlegen. Hinnerk gibt ihr Zeit und wartet, dass sie fortfährt. Ruhe und Geduld sind zwei seiner herausragenden Eigenschaften. Er nähert sich Kriminalfällen nie hastig, und genauso verhält er sich, wenn es nicht um seinen Beruf geht. Aber die eingetretene Pause stößt inzwischen an die zumutbare Grenze.
»Falls du mir das später mitteilen möchtest …«, gibt er ihr eine Hilfestellung. Er erhebt sich und stellt den Besucherstuhl unter den Tisch, wo dieser vor seinem Besuch gestanden hat.
Inge kraust die Stirn. Warum fällt es ihr plötzlich schwer, dem Kollegen zu sagen, was sie von ihm wollte? Sie räuspert sich.
»Ich habe in den Jahren, die ich mit dir zusammenarbeiten durfte, viel gelernt. Dafür möchte ich danken. Außerdem will ich festhalten, dass ich hoffe, so unvoreingenommen wie du an Kriminalfälle heranzugehen. Das ist meiner Meinung nach dein hervorstechendstes Merkmal und befähigt dich, auch schwierigste Fälle zu lösen.«
Bei diesen Worten blickt Inge auf ihre linke Hand, mit der sie beständig und vorsichtig über ihren rechten kleinen Finger streicht. Jetzt hebt sie die Augen und schaut erstaunt zu Clas hinüber, weil der verlegen hüstelt und tatsächlich leicht rot angelaufen ist.
»Das …«, stottert der Kommissar, »hast du schön gesagt. – Das war aber hoffentlich nicht die Einleitung, um zu sagen, dass du dich versetzen lassen willst. Wenn es nämlich nach mir geht, möchte ich noch viele Jahre mit dir zusammenarbeiten dürfen.«
Die junge Kommissarin stammt aus Stralsund. Sie hat im Anschluss an Ausbildung und Studium in Wismar während inzwischen fünf Dienstjahren praktische Erfahrungen gesammelt. Mittlerweile wäre es durchaus denkbar, dass sie sich um eine freigewordene Stelle in ihrer Heimat beworben hat.
»Hey, du bist ja richtig weiß geworden. Nein, keine Sorge. Ich arbeite äußerst gern in dieser Stadt, aber insbesondere mit dir, Clas Hinnerk, zusammen.«
Beide grinsen sich erleichtert an, dann verabschiedet sich der Kommissar.
»Wenn du morgen entlassen wirst, ruf mich einfach an. Ich hole dich ab. Bis dahin, schlaf dich gesund!«
Sobald sich die Tür hinter ihrem Kollegen geschlossen hat, sucht Inge mit Blicken das Zimmer ab. Hier gibt es zwar ein weiteres Bett, doch das ist leer. Sie wird also weder von anderen Besuchern, noch von einem Patienten gestört werden. Wenn sie die Augen schließt, wird sie voraussichtlich gut schlafen können. Sie schaltet das Deckenlicht durch einen Knopf an der Patientenkonsole ab. Sofort umgibt sie lediglich ein leichtes Dämmerlicht und sie gleitet schnell in den inzwischen herbeigesehnten Schlaf.
Inge träumt, dass sie sich in einem Krankenhaus aufhält. Doch dieses Mal ist nicht sie, sondern Clas der Patient. Es muss etwas mit seinem Kopf passiert sein. Das wäre eine Erklärung für den Verband, der diesen umhüllt. Die Kommissarin erinnert sich im Traum, weshalb ihr Kollege in der Helios-Klinik in Schwerin liegt. Er wollte einen Verdächtigen in einem Bootsschuppen stellen. Dabei stolperte er in der Dunkelheit über ein Hindernis und verletzte sich heftig.
Inge hört das Schließen der Zimmertür und reißt erschrocken ihre Augen auf. Sollte nicht sie, sondern Clas in diesem Krankenhausbett liegen? Sie tastet nach dem Lichtschalter. Helles Licht flutet das Zimmer. Sie blinzelt und schaut sich um. Es ist offensichtlich, sie ist die Patientin und hat kein Déjà-vu! Sie atmet erleichtert auf, runzelt aber sofort darauf verwundert die Stirn.
»Ich habe eine Infusion bekommen, doch die ist inzwischen fort. Wird die Krankenschwester den Tropf abgenommen haben? Davon habe ich nichts gemerkt!«
Die Schwester hatte gesagt, dass sie sich nicht erschrecken solle, weil ihr Blutdruck und die Körpertemperatur alle paar Stunden kontrolliert werden würden. Und das auch während der Nacht. Das sollte sicherstellen, dass ihr Kreislauf stabil ist und sie durch die Gehirnerschütterung nicht doch noch einen größeren Schaden nimmt.
Ihr Schlaf muss sehr tief gewesen sein, da sie davon bisher nichts mitbekommen hat. Das mit der Infusion erhaltene Schmerzmittel wird vermutlich seinen Teil dazu beigetragen haben. Darüber wurden ihrem Körper zusätzlich Wasser, Salze und Nährstoffe zugefügt, weshalb sie inzwischen dringend die Toilette aufsuchen möchte.
Inge richtet sich vorsichtig auf und schiebt zuerst nur die Beine über die Bettkante. Sie wartet, ob ihr womöglich schwarz vor Augen wird. Das kann bei ihrem sonst niedrigen Blutdruck schnell passieren. In dem Fall hätte sie nach der Nachtschwester klingeln müssen. Da das nicht eintritt, wagt sie es, allein zum WC zu schlurfen.
Trotzdem sinkt sie anschließend ermattet aufs Bett. Auch wenn sie nicht umgekippt ist, sie hat sich an dem zweiten Bettgestell und dem Türrahmen festgehalten, war die Aktion erstaunlich anstrengend. Ihr Atem geht flach und das Herz pocht heftig in ihren Ohren. Sie spürt kalten Schweiß auf den Handrücken und atmet langsam ein und aus. Das hilft und stabilisiert den Kreislauf, wie sie weiß. Sie hofft, trotz ihrer Schwäche nach der Visite am kommenden Morgen entlassen zu werden. Inge will durch einen Blick in das polizeiliche Intranet sicherstellen, dass die Frau aus dem Kaufhaus nicht doch noch auf dem Polizeirevier eine Anzeige gegen Murat Osakin erstattet hat. Falls das jedoch geschehen ist, möchte sie dem ausländischen Studenten raten, sich einen Anwalt zu nehmen. Seine Adresse im Studentenwohnheim ist ihr bekannt. Sie will verhindern, dass der junge Mann einen falschen Eindruck von den Bewohnern Wismars bekommt. Fremdenfeindlichkeit verabscheut sie zutiefst. Mit diesen Gedanken schläft sie traumlos ein.