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Erste Aufgabe

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Luke folgt einem spontanen Einfall. Sie bieten für andere übers Internet Hilfe zur Lösung unterschiedlichster Rätsel an. Warum nutzen sie ihren Spürsinn dann nicht für die Suche nach ihrem gefiederten Freund? Der Junge ist überzeugt, dass sie Remus‘ ungewöhnlich lange Abwesenheit als erste, neue Aufgabe betrachten sollten. Da sich an externen Aufträgen immer noch nichts tut, ist er der Meinung, aus der Nachforschung nach dem Vogel einen »offiziellen« Vorgang für das Detektivteam zu machen. Er ruft mit einem verschmitzten Lächeln ihre Homepage auf und startet mit der Eingabe.

Unter dem Titel: »Kolkrabe entflogen!«, beginnt er, sein Anliegen im Kontaktformular zu beschreiben. Er fährt nach kurzer Überlegung mit erläuternden Angaben fort.

»Ein stattlicher, junger Kolkrabe wird vermisst. Der Vogel ist auf einem ehemaligen Gutsgelände aufgewachsen und seit dem letzten Sommer zu einem treuen Freund von drei Jugendlichen geworden.

Er hört auf den Namen Remus. Sein Alter wird auf zwei bis drei Jahre geschätzt. Die Farbe seines Gefieders ändert sich inzwischen von mattem Braunschwarz in Schwarz. Es glänzt, je nach Lichteinfall, metallisch grün bis Blauviolett. Sein Äußeres entspricht dem eines erwachsenen Jungvogels. Die Iris der Augen ist dunkelbraun und sein Schwanz ist keilförmig. An der Kehle hängen schmale, längliche Federn.

Das zutrauliche und kluge Tier besitzt ein ungewöhnliches Sprachtalent. Es vermag gezielt die Worte: »Hallo, Junge, Mädels, Hilfe holen, Gefahr, Hüpfen, Folge mir! Sei leise, mein Freund!«, anzuwenden.

Remus wurde zuletzt vor drei Tagen gesehen. Es ist zu befürchten, dass er gefangen oder auch verletzt worden sein könnte.«

Unter Kontaktdaten gibt er seine neue E-Mail-Adresse Luke@SPQR-Detektive.de an.

Luke hat mit den Eingaben gleichzeitig die Brauchbarkeit der Kontaktseite getestet. Dass keine Beschränkung der Anzahl an Zeichen für das frei formulierbare Beschreibungsfeld existiert, findet er gut. Es besteht zwar die berechtigte Gefahr, wie Emma es nannte, dass hier ganze Romane verfasst werden könnten. Wenn jedoch alle Daten in wenige Schlagworte gepresst werden müssten, würden womöglich wichtige Informationen wegfallen. Gerade unwichtig erscheinende Kleinigkeiten können den Unterschied ausmachen, ob ein Rätsel entschlüsselt werden kann oder eben nicht. Die Wichtigkeit dieser Details ist demjenigen oftmals nicht bekannt, der sie bewerten und angeben muss.

Luke nickt zufrieden und klickt auf den Sendebutton. Fast im gleichen Augenblick vernimmt er den Signalton seines Handys, der eine eingegangene E-Mail-Nachricht verkündet. Emma hat das Formular so eingerichtet, dass nach dem Klick auf »absenden« nicht nur der potenzielle Kunde eine Empfangsbestätigung bekommt, sondern zeitgleich eine entsprechende E-Mail mit den eingegebenen Daten auf jedem Handy der drei Freunde erscheint. Sie wollen unbedingt vermeiden, zu spät von einem Auftrag zu erfahren.

»Lange Reaktionszeiten sind schlecht für eine Detektei«, dozierte Emma beim Einrichten der Seite. Sie hatten vorsichtshalber das gewünschte Funktionieren überprüft, dennoch zuckt Luke beim Erhalt der Nachricht kurz zusammen. Er hatte schon nicht mehr an diese Eigenschaft des Formulars gedacht. Der Junge schaut auf das Display und kraust zuerst verwundert die Stirn. Warum bekommt er zwei Meldungen? Gleichzeitig zu der Erkenntnis, dass er in diesem Fall schließlich Auftraggeber und Detektiv ist, schießt ihm eine weitere durch den Kopf. Eine Fehlfunktion für die Übertragung der Eingaben kann also ausgeschlossen werden. Der einfache Grund, weshalb sie keine Anfragen erreichen, ist der, dass niemand das Kontaktformular nutzt! Und die Kontaktaufnahme per E-Mail ebenso wenig.

Sollte Britta mit ihrem Vorschlag recht haben, mehr Reklame auf den verschiedenen Social Media Seiten zu machen? Der Junge ist nicht davon überzeugt, zumal Emmas dagegensprechenden Argumente in seinen Augen zutreffen. Er denkt an die Liste abgeschlossener Fälle. Wenn es über Wochen keine neuen Aufgaben für die Detektive gibt, wirkt das auf mögliche Kunden wenig vertrauenerweckend. Deshalb ist er entgegen seiner ersten Auffassung der Meinung, Remus‘ Verschwinden doch als Aufgabenstellung in die Übersicht aufzunehmen. Das ist dann eben ein aktueller Fall, an dem die Freunde arbeiten.

Luke hat eine Idee. Er will durch Emma in der Gestaltung der Liste eine Änderung vornehmen lassen. Sie soll zusätzliche Statusmeldungen in die Tabelle integrieren. Er stellt sich vor, dass für ein Rätsel, beziehungsweise jeden Vorgang, zuerst eine Zeile angelegt wird. Darin wird die Aufgabe mit einem Begriff oder Schlagwort versehen. In diesem Fall ist das: »Kolkrabe entflogen«. Darunter kommt eine Reihe mit den Spalten »angefragt«, »gestartet«, »Erkenntnisse« und »abgeschlossen«. Hier wird das jeweilige Datum eingetragen, woraus indirekt die Schwierigkeit eines Auftrags abgelesen werden kann. Anschließend folgt eine dritte Zeile, in die abschließende Bemerkungen platziert werden sollen. Der neue Aufbau nimmt vor den Augen des Jungen bereits Gestalt an, da meldet sich sein Handy erneut.

Wie so oft reagiert Britta als Erste der Freundinnen. Sie nutzt den Gruppenchat ihres Messengers.

»Was ist los, Luke? Hast du nochmal einen Probelauf des Kontaktformulars gemacht?«

»Das war es natürlich auch. Ich bin aber der Auffassung, dass wir sozusagen offiziell mit der Suche nach Remus starten sollten.«

»Sorgst du dich so sehr um unseren Freund? Das verstehe ich durchaus, denn mir geht es ähnlich! Ich vermisse sein keckes und oftmals drolliges Verhalten.«

»Macht euch nicht lächerlich«, antwortet nun auch Emma. »Remus findet sich recht gut in der Welt zurecht. Das hat er in vielen Situationen bewiesen. Ihm ist es vermutlich einfach zu langweilig geworden, jetzt, wo wir keinen Fall bearbeiten. Ihr werdet es erleben, er wird quietschvergnügt auftauchen und nach uns krakeelen. Ich kann schon sein: »Hallo Mädels!«, hören.«

Das Mädchen beabsichtigt offensichtlich, mit diesen Worten nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst zu beruhigen.

»Schön wär’s«, denkt Luke. »Bis morgen. Wir sehen uns in der Schule«, sendet er zurück und schaltet sein Smartphone auf stumm. Er will versuchen, trotz seiner Sorge um den Freund, zu schlafen. Das gelingt nicht so einfach. Ihm gehen die bisher gelösten Fälle durch den Kopf, bei denen der Kolkrabe ebenfalls seinen Teil zur Lösung beigetragen hat.

Alleine drei von den vier Vorgängen beziehen sich auf den ursprünglich vor Jahrzehnten gefundenen, aber dann verschwundenen Schatz. Durch Remus‘ laute Rufe wurden sie auf das Mausoleum auf der Insel aufmerksam und konnten den viele Jahre zurückliegenden Diebstahl des Silberschatzes rekonstruieren. Das waren im Grunde genommen selbstgestellte Aufgaben. Der vierte Fall bezog sich dagegen auf das Verschwinden von Gisbert und Jens. Er ist der erste Auftrag, den sie von außen, nämlich von Ilse Lemkul erhalten hatten.

Lukes Gedanken driften in eine andere Richtung. Welches Anfangs- und Abschlussdatum ist für die einzelnen Vorgänge zu setzen, wenn die Seite, so wie vorhin überlegt, geändert wird? Soll der Tag genannt werden, an dem sie sich zum ersten Mal mit der Schatzsuche beschäftigten? Für den vierten Fall ist das einfach. Ilse Lemkul hatte sie am letzten Schultag vor den Herbstferien mit der Suche nach Jens beauftrag. Das Datum steht somit unzweifelhaft fest.

»Das ist alles unwichtig«, drängt er die Überlegungen in den Hintergrund. Viel wichtiger ist doch, wo Remus geblieben sein mag. – Soll er Kontakt zu Hiram Paltow aufnehmen? Das Tier könnte zu ihm geflogen sein. Auch wenn das nicht zutreffen sollte, hat der Leiter des Vogelparks womöglich eine Idee, wo die Freunde suchen könnten.

Der Junge schimpft mit sich, weshalb er dem Kolkraben beim letzten Fortfliegen nicht mit seinem Mofa gefolgt ist. Dann fällt ihm eine bessere, aber ebenfalls nicht genutzte Möglichkeit ein. Emma hatte den Vogel vor Monaten an das Tragen eines GPS-Tracker zu gewöhnen versucht. Die Freundin hatte lange nach einem besonders kleinen Exemplar gesucht und immer wieder mit Remus geübt. Obwohl der Tracker nur ein Gewicht von unter zwanzig Gramm besitzt und die Akkulaufzeit etwa eine Woche beträgt, sträubte sich der Kolkrabe meistens, das kleine Gerät zu akzeptieren. Es behinderte ihn keineswegs beim Fliegen, wie er beim bisher einmaligen Tragen unter Beweis gestellt hatte. Damals half gerade die Ortungsfunktion, den gefiederten Freund aus einer misslichen Lage zu befreien. Doch in den Tagen danach wollte Remus den Fremdkörper immer wieder entfernen, weshalb der Tracker seitdem ungenutzt in Remus‘ Prätorium herumliegt.

Luke schlägt sich vor die Stirn. Warum hatte er den Vogel nicht erneut an das Gerät zu gewöhnen versucht? Dann wüsste er vermutlich, wo der Vogel in diesem Augenblick steckt! Dabei wäre es egal, ob der vor Langeweile einfach nur ziellos in der Gegend herumfliegt. Das hatte Emma so ähnlich ausgedrückt. Wäre der Akku in dem Fall nicht bereits leer, bevor die Freunde den Vogel lokalisiert hätten?

Am Morgen wacht Luke völlig gerädert auf. Sein forschender Blick richtet sich sofort zum Fenster. Er springt aus dem Bett und öffnet es weit.

»Remus, komm zu mir!«, fordert er mit weithin schallender Stimme. Doch der Kolkrabe ist nirgends zu entdecken, und ein Krächzen ist auch nicht zu hören. Der Junge schließt die Fensterflügel und trottet enttäuscht erst ins Bad und dann nach unten. In der Küche wird er von seiner Mutter mit einem Morgengruß empfangen. Danach fragt sie:

»Ist er noch nicht heimgekehrt?«

Sie hat die Miene ihres Sohns richtig interpretiert. Der schüttelt den Kopf und lässt sich am Tisch auf einen Stuhl fallen.

»Ich habe kaum Lust, zur Schule zu gehen und würde stattdessen lieber nach Remus suchen.« Er spült einen ersten Bissen mit einem Schluck Orangensaft hinunter und fährt schnell fort. »Nein, keine Sorge, Mom. Ich fahre mit dem Mofa zum Gymnasium. Wir schreiben in der zweiten Stunde eine Mathearbeit, da möchte ich nicht fehlen. Obwohl ich mich vermutlich nur schlecht konzentrieren können werde. Aber möglicherweise haben Britta und Emma ja eine Idee …« Der Junge unterbricht sich und schaut schnell auf das Display seines Handys. Da er es auf lautlos gestellt hatte, hätte ihm eine Nachricht entgehen können. Doch es gibt nichts Neues. Er isst sein Brot, packt das für die Pause in seinen Rucksack und verabschiedet sich.

Draußen richtet Luke den Blick zum Himmel. Er ruft erneut nach dem Vogel, aber ebenso ohne Erfolg. Er schließt die Jacke und startet sein Mofa. Es ist Anfang April und noch empfindlich kalt, besonders auf dem Fahrzeug. Auf dem Schulhof warten die Freundinnen auf ihn. Sie beraten sich kurz, finden jedoch keinen Ansatz, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollten. Ihnen wird kaum etwas anderes übrigbleiben, als auf den Zufall vertrauend, systematisch in der Umgebung der ehemaligen Gutsanlage nach Remus zu fahnden. Sie stimmen aber sofort zu, auf jeden Fall weitere Möglichkeiten bei Hiram Paltow zu erfragen.

Die Mathematikarbeit gelingt Luke wider Erwarten besser als gedacht. Er ist sogar zuversichtlich, keinen Fehler gemacht zu haben. Der nachfolgende Unterricht fesselt ihn erneut. Es geht in Geschichte um den Übergang von der Merowinger Ära hin zum Aufstieg der Karolinger.

Gegen Ende der Stunde vibrieren die Handys der Freunde. Sie werfen verstohlen einen kurzen Blick auf die Displays. Sie glauben zu träumen. Es gibt offenbar jemanden, der das Kontaktformular genutzt hat. Oder sollte Luke aus Versehen zweimal auf »Senden« gedrückt haben? Doch es existiert kein Grund, weshalb die E-Mails derart viel Zeit brauchen könnten, um bei ihnen anzukommen. Sie verfolgen die letzten Minuten des Geschichtsunterrichts mit nachgelassenem Interesse. Die Freunde können es kaum erwarten, in der Pause die entsprechende Nachricht aufzurufen.

»Was für ein Auftrag mag das sein?«, fragt Britta auf dem Weg nach draußen mit blitzenden, grünen Augen. »Ich tippe auf einen entwendeten Schmuck«, flüstert sie, um nicht von anderen Schülern auf dem Schulhof gehört zu werden.

»Das ist es offenbar nicht«, entgegnet Luke.

Die Freunde erreichen eine ruhige Ecke und öffnen die E-Mail mit den Formularangaben.

»Jemand ersucht uns um Hilfe …«, beginnt Emma mit einer Zusammenfassung der Anfrage.

»…, weil er von Alpträumen heimgesucht wird«, ergänzt die Freundin. »Das muss doch wohl ein Scherz sein!« Britta wirft die langen, roten Haare unwirsch nach hinten.

SPQR - Der Fluch der Mumie

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