Читать книгу Der dritte Versuch Elfen und Menschen - Norbert Wibben - Страница 10
In den Süden
ОглавлениеIn Munegard herrscht noch tiefste Nacht, doch Fackeln und Laternen erleuchten den Innenhof, wo Dean mit seinem Pferd angekommen ist. Er verschwendet keinen seiner Gedanken an den zurückgebliebenen alten Elfen oder die Reiter, die die Wölfe attackierten. Er hat sein vor kurzem heftiges Streben nach Rache völlig verdrängt. Doch die junge Elfe taucht immer wieder vor seinem geistigen Auge auf. Was er bisher nicht für möglich gehalten hat, ist offenbar geschehen. Doch es sind nicht die Schnelligkeit ihrer Bewegungen oder der Eindruck ihrer schlanken Gestalt, die verantwortlich für die Unruhe in seinem Kopf sind. Er hat sich keineswegs in sie verliebt! So etwas geschieht ihm nicht, schon gar nicht in eine Elfe! Nein, ihn treibt die Sorge, ob sie es geschafft hat, den Drachen zu überwinden! Woher ist sie so unerwartet dem Alten zur Hilfe geeilt? Wenn sie zusammengehören, wie es ihm scheint, dann wird sie auch aus dem Gebiet des steinernen Meeres gekommen sein. Hat sie also den Lindwurm zerstört, zumindest kurzzeitig überwunden? Soweit er sich erinnern kann, ist das keinem noch so berühmten Zauberer vor ihr gelungen! In Gesprächen seines Vaters und Großvaters wurde Derartiges nicht berichtet. Jeder Gegner ist in dem alles vernichtenden Feueratem des Lindwurms gestorben. Keine komplizierte und ausgeklügelte Schutzglocke konnte ihm je widerstehen. Was hat die Elfe also gemacht? Obwohl er vor seiner Rückkehr Draco bereits wieder herbeigerufen hat, versucht er das erneut. Er muss sich einfach vergewissern, dass diese Elfe keinen bleibenden Schaden angerichtet hat. Seine rechte Hand berührt den Ring an der linken. Dean zögert nicht einen Moment und fordert mit lauter und fester Stimme:
»Draco!« Im nächsten Moment bildet sich im Innenhof von Munegard vor dem dunklen Nachthimmel ein irisierendes Licht, das sich zu einem strahlenden Weiß ändert. Daraus entsteht sofort die bekannte Gestalt des Ungeheuers. Schreckensrufe schallen von allen Seiten, als der in der Luft stehende Drache gesehen wird. Dadurch bemerkt Dean, dass er hier nicht allein ist. Eimer fallen polternd zu Boden und ebenso die Waffen einiger Soldaten. Diese flüchten wie die Bediensteten, die schon vor der Morgendämmerung Aufgaben zu erledigen haben. Das Geschrei will nicht enden, während sie zu den verschiedenen Gebäuden von Schmiede, Pferdestall und Backstube rennen. Die Krieger scheuen sich nicht, die anderen an die Seite zu drängen, damit sie sich als erste retten können. Dean grinst hämisch. Obwohl es ihn in den Fingern juckt, den Drachen seinen Feueratem spucken zu lassen, bremst er sich. Wenn er der Oberste der Zauberer des Mondes ist, was hoffentlich bald der Fall sein wird, ist er der Besitzer der Festungsanlage. Da wäre es widersinnig, den Drachen zum Test wüten zu lassen, und hinterher die Schäden beseitigen zu müssen. Der Ring funktioniert tatsächlich in gewohnter Weise. Der dunkle Magier ist erleichtert. Mit »Inhibeo« lässt er den Lindwurm verschwinden und führt sein Pferd zum Stall. Dort muss er mehrmals nach einem Pferdeknecht rufen, bevor ein verängstigter Mann zitternd aus dem hinteren Bereich nach vorne kommt. Die Laterne in der Hand schwankt hin und her. Ihm übergibt Dean sein Tier, dann beginnt er mit der Suche nach Connor. Auch wenn er sich nicht sicher ist, wie er seinem Cousin entgegentreten soll, eilt er im Schein einer Lichtkugel durch die verwinkelten Gänge und öffnet alle Türen auf dem Weg zu Connors Arbeitszimmer. In dem Flur zu diesem Raum ruft Dean sogar mehrfach nach ihm. Der verursachte Lärm ruft den alten Diener herbei, der ihn darüber informiert, dass der »Hochwohlgeborene und Oberste aller Zauberer des Mondes« nicht daheim weile.
»Mein Herr ist vor kurzem zusammen mit Soldaten und anderen Magiern in den Kampf gezogen. Wohin kann ich nicht sagen.« Obwohl der Mann heftig protestiert, verschafft sich Dean Zugang in das geheiligte Arbeitszimmer und trägt dem Bediensteten auf, ihm etwas zu Essen zu bringen. Dieser schüttelt empört über die Dreistigkeit den Kopf, bewegt lautlos seine Lippen, wagt es aber doch nicht, den Auftrag zu überhören. In wenigen Minuten kommt er schwerbeladen mit einem Tablett zurück, auf dem ein Krug mit Wein und einer mit Wasser stehen. Kaltes Fleisch, frisches, duftendes Brot und etwas Obst liegen darauf. Er breitet ein Tuch auf dem Tisch aus und stellt das Brett mit den Speisen ab. Schnell holt er noch einen Becher und gießt etwas von dem Wein ein.
Mit gesenktem Kopf und den Worten: »Wohl bekomm’s!«, bewegt er sich rückwärts zur Tür und verlässt den Raum.
Davon bekommt Dean wenig mit, da er überlegt, was er als Nächstes machen soll. Einerseits brennt es ihm auf den Nägeln, dem Cousin zu zeigen, dass der Ring wieder in seinem Besitz ist. Aber wäre das klug? Soll Connor sich doch um die Niederwerfung der Elfen und gegnerischen Zauberer kümmern. Falls dieser dabei zu Schaden kommt, muss er nicht gegen einen Verwandten vorgehen.
Es ist natürlich nicht so, dass er wegen der Familienbande davor zurückschrecken würde. Der Magier ist, wie jedes andere Mitglied dieser Zaubererdynastie, sich selbst der Nächste und die Erfüllung seiner Wünsche ist das oberste Ziel. Der Grund ist viel mehr der, dass er weiß, sein Cousin ist ein ernstzunehmender Gegner. Wenn dieser durch einen anderen Zauberer ausgeschaltet werden würde, wäre er nach außen hin zu Tode betrübt, aber innerlich erleichtert. Doch einfach hier zu sitzen, widerstrebt ihm auch. Was kann er also machen? In Gedanken versunken schneidet er dicke Scheiben vom Fleisch und nimmt gierig Bissen für Bissen zu sich. Beim Essen fällt ihm auf, wie hungrig er eigentlich ist. Fleisch und Brot spült er mit großen Schlucken des ausgezeichneten Rotweins hinunter. Der Diener hat das Begehren des Verwandten seines Herrn zwar missbilligt, ihm aber trotzdem derart viel an Speisen gebracht, dass Dean nicht alles aufbekommt. Zufrieden lehnt er sich in dem Arbeitsstuhl zurück, während seine Augen über die Papiere auf dem Schreibtisch huschen. Was mag Connor hier wohl ausgebrütet haben? Er nimmt sie in die Hand und wirft forschende Blicke darauf, doch er wird nicht schlau aus den oft nur bruchstückhaften Notizen. Teilweise wurden nicht einmal Worte genutzt, manchmal hat er Symbole oder seltsame Zeichen darauf gemalt, die fast wie sinnloses Gekritzel wirken. Dass sie das sicher nicht sind, weiß Dean, doch ihre Bedeutung vermag offenbar nur Connor zu erfassen.
Der Magier schreckt auf. Er ist tatsächlich eingenickt. Sein Cousin versucht in diesem Moment, ihn zu kontaktieren, was ihn geweckt hat, doch Dean lässt keine Verbindung zu. Er will sich erst darüber klar werden, wie sein Verhältnis zu ihm sein soll. Wenn Connor, anstatt eines Kontaktversuches jetzt zurückgekommen wäre, hätte er sich sofort entscheiden müssen! – Aber was sollte der ihm schon antun?
»Er könnte mir den Ring nehmen!«, schießt es Dean durch den Kopf. Er weiß zwar nicht, ob und wie weit sein Cousin in dessen Geheimnis eingeweiht ist, aber riskieren will er lieber nichts. Wenn er schon schläft, dann an einem Ort, wo er nicht zu einer leichten Beute eines möglichen Gegners werden kann. Er erinnert sich an die letzte Unterhaltung mit Connor, die genau hier stattgefunden hat. Damals hatte er von Glen und dessen erfolgreichem Feldzug im Süden gehört. Eine Idee formt sich in seinem Kopf. Ob es sinnvoll ist, sich zuerst in dieser Region einen eigenen Machtbereich zu schaffen? Möglicherweise kann er den Führer des dorthin gezogenen Heeres auf seine Seite ziehen. Glen ist zwar ebenfalls einer der oberen Fünf, doch einen klugen Eindruck hat er bislang nicht auf Dean gemacht. Schnell steht er auf und stöbert in den Regalen mit den Büchern. Es dauert nicht lange, und er findet, wonach er sucht. Connor hat ein Buch, in dem Wichtiges über die verschiedenen Regionen des Landes aufgeführt ist. Dazu gehören Abhandlungen über die dort vorhandenen Festungen und die dort stationierten Truppen, Informationen über hauptsächlich anzutreffende Volksstämme und Hinweise auf berühmte Zauberer. Er schlägt das Buch auf und liest, was dort über den Süden des Landes steht.
Schnell findet er heraus, dass keine der dort noch vor etwa einhundert Jahren zahlreichen Elfen den ersten Versuch der Zauberer des Mondes überlebten, als sie dort die Macht im Land übernahmen. Das erklärt auch, weshalb Glen in dieser Region relativ schnell erfolgreich war. Die Gegenwehr der wenigen Magier der Menschen konnte er brechen, obwohl dort viele Burgen einen ausgeklügelten Festungsgürtel bilden. Ohne den Schutz mächtiger Zauberer nützen auf Dauer keine noch so dicken Mauern gegen gegnerische Magier, weshalb die Menschen in den verschiedenen Orten sich dem Heer Glens ergeben haben.
Dean fasst einen Entschluss. Er stellt das Buch zurück an seinen Platz und wechselt in den Süden, in die ehemalige Elfenfestung Deasgard. Er will in ihren Ruinen noch einmal die Macht des Artefaktes überprüfen und dann die nächstgelegene Burg in Besitz nehmen. Notfalls will er sie mit Hilfe des Drachen angreifen und nach deren Eroberung Glen dorthin bestellen. Falls der sich weigert, will er die dort gelegenen Festungen eine nach der anderen dem Erdboden gleichmachen, selbst wenn das einige Zeit kostet.
Mittlerweile ist es heller Tag geworden. Dean ruft in den von Gestrüpp überwucherten Überresten der Burg seinen Drachen auf, und versucht ihn zu steuern. Es wäre fatal, wenn sich der tödliche Lindwurm während einer heftigen Auseinandersetzung mit gegnerischen Magiern als Schwachpunkt herausstellen würde. In seinem Hinterkopf nagt der Zweifel, dass der Drache einen Schaden genommen haben könnte, als ihn diese fremde Elfe überwunden hat. Dass sie es war, die ihn explodieren ließ, steht seltsamerweise für ihn fest. Er probiert erneut, ob der Feueratem wie gewünscht funktioniert. Die gewaltige Feuerwalze schickt er gegen die letzten Mauerreste, die zerbröckeln und zu Pulver werden. Verbrannte Ranken lassen feine Ascheteilchen aufwirbeln, die fast wie Schneeflöckchen in der Luft umher wirbeln. Als ihm der Test mehrmals nacheinander gelingt, lässt er den Drachen erleichtert mit »Inhibeo« verschwinden. Jetzt fühlt er sich sicher. Alle, die gegen ihn sind, sollen die Macht des Rings zu spüren bekommen! Er jubelt innerlich, schon bald wird er der von allen gefürchtete Herrscher in diesem Land sein.