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Wintereinbruch

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Eine Handvoll Elfenkinder tobt jauchzend aus dem Schulgebäude, das etwas abseits von den Wohnhäusern im Elfenwald steht. Die mahnenden, aber nur halbherzigen Rufe der Lehrerin werden in dem lauten und ausgelassenen Lachen von den Kindern nicht gehört oder einfach ignoriert. Obwohl nur wenig Schnee auf dem Boden liegt, fliegen bereits die ersten Schneebälle zwischen den sich schnell gebildeten zwei Gruppen hin und her. Die Augen der sich flink bewegenden Schüler glänzen. Sie können sich nicht erinnern, überhaupt schon einmal Schnee gesehen zu haben, trotzdem wissen sie dies überaus seltene Geschenk der Natur für sich zu nutzen.

Beryl ist für die üblichen Verhältnisse der Elfen sehr jung, um die Aufgabe einer Ausbilderin und Lehrerin der Kinder zu übernehmen. Sie hat schwarze, lange Haare, die sie geflochten und um den Kopf gelegt trägt. Das Blau von Beryls Augen ist anders als bei den meisten ihrer Artgenossen nicht tief dunkel, sondern wasserhell. Sie ist eine von den Kindern geachtete Autorität. Der unerwartete Schnee hat nur kurzfristig, dafür umso heftiger, die sonst bei allen Elfen ausgeprägte Selbstbeherrschung außer Kraft gesetzt.

Beryl ist selten unsicher, wie sie sich verhalten soll, sie urteilt und reagiert schnell. Sie lässt die Schüler sich austoben, dann steht die Lehrerin mit wenigen Schritten zwischen den Fronten der sich mit Schnee bekämpfenden Parteien und hebt energisch beide Arme. Sie fordert mit ruhiger Stimme von den Anführern der Gruppen, dass unter deren Aufsicht die Kinder in die Schulräume zurückkehren und sich dort aufwärmen sollen.

»Ich will nur kurz zu unserer Königin. Ich muss ihr dringend eine Beobachtung mitteilen. Ich bin gleich zurück und verlasse mich auf euch, dass ihr bis dahin keinen Unsinn macht!« Einige Schüler ziehen maulige Schnuten, doch ohne laut zu protestieren. Wohingegen die Kleineren unter ihnen froh aufblicken. Deren Kleidung zeugt mit mehreren feuchten Stellen davon, dass sie von den Schneebällen der Gegner oft getroffen wurden. Obwohl es deren Trägern dementsprechend kalt sein muss, hätten sie noch nicht aufgegeben, um nicht als Weichlinge zu gelten. Die Hände aller sind mittlerweile blass-weiß und werden an einzelnen Stellen dunkelrot, somit ist das Aufwärmen in den Schulräumen inzwischen dringend angezeigt. Die Anführer geben kurze Befehle, dann setzen sich die zwei Gruppen in Bewegung. Beryl nickt zufrieden, doch die dunkle Wolke auf ihrer Stirn verschwindet dadurch nicht. Sie betrachtet verwundert die Schneedecke, die inzwischen eine handbreit hoch liegt. Die Luft flirrt bläulich, dann ist die Lehrerin verschwunden.

Zur gleichen Zeit im Internat Cinnt caisteal, das von den Schülern CC abgekürzt wird. Seit zwei Wochen türmen sich ungewöhnlich große Schneemassen in dieser Region des Landes. Das drei Tage dauernde Schneetreiben führte zu Schneeverwehungen auf allen Straßen, somit auch auf der vom nächsten Ort zur Schule. Die Verbindung dorthin konnte erst vor zwei Tagen wiederhergestellt werden. Im Park sind die Wege schneller geräumt worden. Der stets grummelige Hausmeister hätte das nicht allein schaffen können, weshalb ihm in den ersten Tagen nach dem Schneefall während der Sportstunden Schüler der oberen Jahrgänge mitgeholfen haben.

Anna schaut aus ihrem Fenster auf das verzauberte Parkgelände. Dicke Schneemützen bedecken die meisten Bäume, aber ebenso Säulen, Pfosten und sogar die Spitzen der Stäbe im Eisengitter, das das Schulgelände umschließt. In der Schneedecke sind Spuren unterschiedlicher Tiere zu erkennen. Sie stammen vornehmlich von kleineren Vögeln, aber auch von Mäusen, die sich auf der Suche nach Nahrung der Gefahr aussetzen, von Greifvögeln geschnappt zu werden. Annas Blick sucht den Haselbusch, unter dem sie im Sommer erstmalig mit Ainoa ins Andersland gereist ist. Dort laufen sternförmig viele Spuren zusammen.

»Es ist kaum zu glauben, aber das war bereits im letzten Jahr!« Sie erinnert sich noch gut an die aufregenden Ereignisse, als sie dort zusammen nach der Tochter der Elfenkönigin suchten und sie schließlich aus dem Nebelwald befreien konnten. Sofort denkt sie auch an das zweite Mal, als sie im Herbst in diesem verzauberten Wald nach Iain Raven, den Schulleiter, suchten. Sie verpassten ihn und wären beinahe von einem Bergtroll gefressen oder von Wölfen geschnappt worden. »Ich bin sicher, die grauen Raubtiere wurden von Siegfried Back geschickt, um Elfen zu fangen, die in den Nebelwald verschlagen werden.« Zu diesem Schluss sind nicht nur Anna und Ainoa gekommen, sondern ebenfalls der Schulleiter, Morwenna Mulham und die Elfenkönigin Katherin. »Zum Glück sind wir entkommen, bevor Seid Greif, wie sich Siegfried Back dort nennt, uns erwischen konnte.« Das Mädchen schüttelt sich. Ein eisiger Schauer rieselt ihr den Rücken hinunter. Allein der Gedanke an den Cythraul führt dazu, dass sich ihre Nackenhaare aufstellen. Sie schüttelt sich noch einmal und versucht energisch, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Als sie an den Besuch ihres Vaters denkt, ändert sich ihr Gesichtsausdruck. Die düsteren Wolken werden von hellen Sonnenstrahlen vertrieben. Aedan Qwentiz war zu Weihnachten überraschend im Internat aufgetaucht. Er hatte bis zum Jahresanfang Urlaub und sich in einem Gasthof im nahen Ort eingemietet. Die gemeinsame Woche verging wie im Flug. Der Vater zeigte viele Bilder vom Nordlicht, die atemberaubend schön und mystisch wirkten. Er berichtete aber auch vom Schmelzen des polaren Eises und dem Rückgang vieler Gletscher.

»Wenn sich der Umgang des Menschen mit Natur und Umwelt nicht ändert, wird es nur noch wenige Jahrzehnte dauern, bis Grönland eisfrei sein wird. Am Südpol gibt es ebenso Hinweise auf den Rückgang des Eises. Das globale Wetter wird sich gravierend ändern, stärker als bisher schon. Abgesehen vom Steigen des Meeresspiegels mit seinen Folgen für alle Küstenregionen, wird die Änderung des Klimas die schlimmsten Auswirkungen haben. Beides wird zu Hungersnöten und Massenfluchten, mit daraus resultierenden Kämpfen um die zur Verfügung stehenden Ressourcen führen.« Trotz dieser verheerenden Prognose reiste Aedan mit Zuversicht zu den Forschungen zurück. Er ist davon überzeugt, nicht nur die eigene Regierung, sondern die Herrscher aller Länder mit seinen Ergebnissen von der Notwendigkeit überzeugen zu können, endlich gemeinsam wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Anna lächelt ob dieses kindlichen Vertrauens, das ihr Vater in den logischen Menschenverstand aller Staatenlenker setzt. Sie hofft, nicht zuletzt für sich, dass er recht behält.

Annas Gedanken wandern zu Robin. Sie weiß noch genau, mit welch sorgenvoller Miene er sich für die Weihnachtsferien von ihr verabschiedete.

»Nutze die Ferien nicht wie im Herbst, um mit Ainoa Abenteuer zu bestehen. Halt, das ist Quatsch. Ich wollte sagen: Gerate nicht wieder in Gefahren. Wenn es doch dazu kommen sollte, überwindest du sie hoffentlich. – Irgendwie ist das völlig verdreht. – Ich mache mir einfach Sorgen! Pass gut auf dich auf.« Den folgenden Satz: »Und halte dich von der Elfe fern!«, hat sie fast überhört, da er nur geflüstert worden war. Sofort protestierte sie:

»Ainoa ist meine beste Freundin! Sie würde mich nie bewusst in Gefahr bringen.« Sie wollte sich bereits empört abwenden, als Robin sie verlegen lächelnd festhielt.

»Entschuldige, das wollte ich damit nicht sagen. Ich glaube, wenn du in Ruhe nachdenkst, weißt du, was ich meine. – Auch wenn du während der Feiertage fast allein hier sein wirst, wünsche ich dir schöne Weihnachtstage.« Dann umarmte der Junge das Mädchen. Obwohl das nur wenige Augenblicke dauerte, und der einfahrende Zug viele Blicke auf sich zog, war es in der Menschenmenge am Bahnhof für alle sichtbar. Eine verräterische Röte stieg an Robins Hals hoch. Anna bewunderte ihn in diesem Augenblick für den Mut, das in der Öffentlichkeit zu tun. Versöhnt und ein wenig verschämt lächelte sie zurück.

»Ich wünsche dir auch schöne Weihnachten!« Dann stieg der Junge in den Wagen. Das Mädchen winkte kurz darauf dem fortfahrenden Zug hinterher.

Fast das erste, nach dem sich Robin nach seiner Rückkehr aus den Ferien erkundigte, war, welche neuen Abenteuer Anna und Ainoa bestanden hätten. Obwohl die Frage flapsig klingen sollte, konnte das Mädchen die Angst erkennen, die ganz hinten, tief in den Augen des Jungen lauerte.

»Er macht sich wirklich Sorgen um mich!«, schoss es Anna durch den Kopf, als sie schon auffahren wollte. Ihre Antwort fiel wegen dieser Erkenntnis anders als ursprünglich beabsichtigt aus.

»Ich freue mich auch, dich gesund vor mir zu sehen!« Sie lacht über sein verdutztes Gesicht kurz auf. »Mein Vater hat mich besucht. Da hatte ich keine Zeit für Abenteuer! Und auch danach bin ich brav gewesen. Ainoa hat mich nicht verführt.« Es dauerte etwas, bis Robin sich entspannte und erleichtert aufatmete. Sie verabredeten sich zum Schachspiel um drei.

Ende Januar begann dann dieser ungewöhnlich heftige Schneefall mit anhaltendem Frost, wodurch die weiße Pracht den Kindern über viele Tage erhalten blieb. Die Schüler verhielten sich die ersten Tage anders als sonst. Sie verbrachten möglichst viel Zeit draußen, um Schneeballschlachten auszuführen, auf entsprechend hergerichteten Plätzen Schlittschuh zu laufen oder Iglus zu bauen. Auf der großen Rasenfläche direkt im Anschluss vom Internatsgebäude zum Park hin, entstand dadurch eine kleine Eskimosiedlung. Die unterschiedlich großen Schneemänner, die dazwischen aufgestellt worden sind, scheinen fehl am Platz zu sein. Sie wirken mit den dunklen Augen und den riesigen Mündern aus Kohlestücken und den krummen, roten Möhrennasen fast wie Bergtrolle, schießt es Anna durch den Kopf, als ihr Blick zum ersten Mal auf die modellierten Gestalten fällt. Im Dunkeln wirken sie aber auf viele Schüler bedrohlich, obwohl sie nie einem Troll begegnet sind. Besonders Wagemutige aus Robins Klasse brüsteten sich an einem Abend in der Öffentlichkeit des Speisesaals damit, eine Nacht in den Iglus verbringen zu wollen. Von den ursprünglich fünf Jungen blieben schließlich drei übrig, die das Vorhaben ausführten. Von da an waren sie für eine Woche der Schwarm vieler Mädchen der unteren Jahrgänge.

Nach zwei Wochen mit Schnee und Eis kommt allen der dicke Überzug schon fast normal vor. Bei den beständig eisigen Temperaturen haben die Aktivitäten draußen nachgelassen. Inzwischen brüten die Schüler lieber im Warmen über Aufsätzen, Referaten und Ausarbeitungen. Viele nutzen die Bibliothek, um notwendige Informationen in den Büchern zu recherchieren.

Anna dreht sich vom Fenster weg und betrachtet ein Bild ihres Vaters, das über ihrem Schreibtisch an der Wand hängt.

»Du hast recht mit der Wetteränderung. Ich kann mich an keinen Winter erinnern, in dem bei uns so hoher Schnee für eine derart lange Zeit gelegen hätte. Ist das ein Signal, das uns zum letzten Mal mahnen will?« Anna weiß, darauf wird sie keine Antwort erhalten. Sie seufzt tief. »Pass auf dich auf, Dad!« Dann dreht sie sich um und verlässt ihr Zimmer. Auf dem Weg zum Treffen des Schachteams begegnen ihr Schüler. Sie tauschen manchmal nur einen schnellen Blick, nicken sich zu oder wechseln ein paar kurze Worte, doch Anna hört kaum richtig hin. Sie ist mit den Gedanken bei etwas anderem.

Anfang Dezember schickte Innocent Green eine Nachricht an Morwenna Mulham. Sie ist nicht nur Bibliothekarin und Lehrerin für Logik und Strategie, sondern gleichzeitig die Gründerin des Schachclubs am CC. Innocent ist die Professorin eines Internats einer berühmten Universitätsstadt und wie Morwenna Leiterin eines Schachclubs. Anna sieht die Frau mit der leicht rundlichen Gestalt vor sich, wie sie der schlanken und sich geradehaltenden Morwenna den Pokal übergibt, den sie mit dem Unentschieden im Vergleichswettkampf beider Teams gewonnen hatten. Die Nachricht Innocents sorgte für Enttäuschung unter den Schachspielern. Sie hatte beim Wettkampf versprochen, sich für die nachträgliche Zulassung des Schachteams vom CC für die nationalen Meisterschaften zum Ende des Jahres einzusetzen, obwohl die Bewerbungsfristen dafür bereits abgelaufen waren. Der Antrag war genau wie der telefonische Versuch abgewiesen worden.

Innocent hatte als Alternative einen erneuten Vergleich beider Teams vorgeschlagen und als möglichen Termin Anfang des neuen Jahres genannt. Auf den Wettkampf bereitet sich das Team intensiv vor. Sie wissen, Innocent wird dieses Mal ihre besten Spieler antreten lassen, die nicht unbedingt die vom ersten Vergleich sind. Deshalb trainieren Morwenna und die Teammitglieder härter als je zuvor. Statt körperlicher Aktivitäten im Schnee haben sie sich zu ihren üblichen Übungsstunden im abgetrennten Bereich des Lesesaals getroffen. Durch den Erfolg beim ersten Wettkampf angeregt, haben sich weitere Schüler zum Team gemeldet. Ein Mehrfachantreten eines Spielers ist somit nicht mehr erforderlich. Anna findet das schade. Sie hat in den drei Partien, die sie bestreiten durfte, wichtige Erfahrungen gesammelt.

Vor der Tür zur Bibliothek atmet sie einmal tief durch, dann drückt sie die große Messingklinke hinunter und öffnet die alte Eichentür.

Anna Q und das Erbe der Elfe

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