Читать книгу Anna Q und das Erbe der Elfe - Norbert Wibben - Страница 9

Ein Rätsel

Оглавление

Anna atmet bewusst langsam und beruhigt sich dadurch allmählich. Seit dem ersten Aufblitzen der verschiedenen Bilder an ihrem Geburtstag hat sie mehrfach gegrübelt, was sie zu bedeuten haben. Mit Ainoa hat sie bisher nicht darüber gesprochen. Ob sie einen neuen Kontaktversuch unternehmen soll? Es muss früh am Morgen sein, weil die Sonne die Dunkelheit noch nicht vertrieben hat, doch vielleicht hat sie ja Glück und erreicht die Freundin.

»Ainoa, ich möchte mit dir sprechen.« Anna zuckt erschrocken zusammen, als sie völlig unerwartet die Stimme der Elfe in ihrem Kopf vernimmt, die sofort antwortet.

»Es ist offenbar nicht so früh am Tag, dass du nicht aufgestanden bist, Anna. Ich freue mich, von dir zu hören.«

»Ainoa! Die Annahme ist falsch. Ich liege noch im Bett. Ich hoffe, dir geht es gut. Können wir uns demnächst treffen? Ich möchte gerne deine Meinung hören. Ich sehe immer wieder verschiedene Bilder, die zumindest teilweise hellgesehen sind, für die ich keine Erklärung finde.«

»Das ist kein Problem. Besonders zum Jahreswechsel hatten wir größere Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Cythraul …«

»Du meinst, mit Seid Greif?« Annas Einwurf irritiert die Elfe nicht.

»Mit ihm nicht so oft, wie mit seinen Helfern. Sie hielten sich hauptsächlich im Norden auf und versuchten, die ansässigen Bewohner von dort zu vertreiben. – Aber im Moment ist es bei uns überall außergewöhnlich ruhig. Soll ich jetzt gleich zu dir kommen?«

»So eilig ist es nicht. Ich bin mit unserem Schachteam in der Universitätsstadt. Wir bestreiten ab heute einen zweiten Vergleichswettkampf gegen das hiesige Team. – Wir sollten uns treffen, sobald wir zurück sind. Ich melde mich Sonntagabend, einverstanden?«

»Jo. Mach das. Ich werde sofort zu dir kommen. – Ich habe aber eine Frage. Weshalb hast du seit mehreren Wochen nichts von dir hören lassen? Ich habe immer wieder einen Kontakt herzustellen versucht, kam aber nicht zu dir durch. Katherin meint, du würdest irgendeinen Abwehrzauber nutzen oder von jemandem verpasst bekommen haben, obwohl ich das für weit hergeholt halte. Hat sie recht?«

»Ich soll was? Nein, von einem Abwehrzauber weiß ich nichts. – Du wolltest mich mehrfach kontaktieren und bekamst keine Verbindung?«

»Genau so ist es.«

»Ich habe gestern versucht, dich zu kontaktieren, jedoch ohne Erfolg. Ich verstehe das nicht. Katherin meinte doch, wir hätten eine besondere Verbindung zueinander, weil du meine damalige Schwäche mit Beatha und Renovo beseitigtest.«

»Das stimmt. Somit bleibt nur der Schluss übrig, ein magischer Spruch oder etwas anderes stört unsere Kontaktaufnahme.«

»Das ist äußerst seltsam.« Die Freundinnen schweigen, bis sich Ainoa nach längerer Zeit wieder meldet.

»Hörst du mich?«

»Jo!«

»Kannst du mir sagen, was dich beunruhigt?«

»Das ist nicht so einfach. – Ich sehe immer wieder blitzartig auftauchende Bilder, die scheinbar nicht zueinander passen. Und das verrücktspielende Wetter irritiert mich ebenso, da es nicht zu den Forschungsergebnissen meines Vaters passt. – Apropos: Herrscht bei euch auch ein strenger Winter?«

»Woher weißt du? Ja, er ist ungewöhnlich hart und hat sogar Einfluss auf das Klima in unserem Wald. Vor Wochen hat es begonnen, immer wieder heftig zu schneien. Es gibt plötzlich SCHNEE im Elfenwald, wo sonst beständig Frühling herrscht. Das bringt Katherin aber nicht mit den bisherigen Ereignissen im Norden in Zusammenhang. Sie vermutet nicht, dass der Cythraul dahintersteckt. Sie kann sich einfach nicht vorstellen, wie er uns dadurch in die Knie zwingen will. Ich versuchte, dich deshalb zu erreichen, weil sie und die anderen im Elfenrat nicht glauben wollen, dass Seid Greif hinter der Ausbreitung des Eises stecken könnte. – Wir waren vor Wochen mit M hoch Zwei auf den Inseln des Nordens, wo wir nach Spuren von Seid Greif forschten.«

»Richtig.«

»Ich wollte dich um Hilfe bitten, mir bei einer neuen Suche zu helfen. Dazu müssten wir genau dorthin, allerdings hier in der Anderswelt.«

»Ich helfe dir gern. Es ist jetzt aber nicht so, dass Saphira erneut verschwunden ist, oder?«

»Nein. Dieses Mal müssen wir nicht in den Nebelwald. – Trotzdem könnte es gefährlich werden. Ich möchte mit dir im Norden Nachforschungen zu dem ungewöhnlichen Kälteeinbruch anstellen. Aber darüber reden wir am Sonntagabend, einverstanden?«

Als die Verbindung unterbrochen ist, liegt Anna grübelnd auf ihrem Bett. Sie beschäftigt die anstehende Reise in den Norden nicht so sehr, wie das Rätsel, was die Ursache für die Probleme beim Kontaktversuch zwischen den Freundinnen sein kann. Das Mädchen hält einen Abwehrzauber für mehr als unwahrscheinlich. Das liegt möglicherweise daran, dass sie keinen derartigen Spruch kennt. Aber noch etwas spricht dagegen: In dieser Welt vermag außer ihm nur Iain Raven zu zaubern. Welchen Grund sollte er aber haben, derart vorzugehen? Könnte andererseits Siegfried Back … Nein! Wäre dem der Übergang von der Anderswelt hierher gelungen, hätte Katherin davon etwas gewusst, oder nicht? Und warum sollte der Cythraul ausgerechnet ein für ihn unbedeutendes Mädchen mit derartigen Flüchen belegen? Nein! Das ist völliger Unsinn!

Anna schießt plötzlich die Frage in den Sinn, ob sie noch zaubern könne. Nach etwas Überlegung vermag sie nicht zu sagen, wann sie letztmalig Magie genutzt hat. Vielleicht verschwinden ihre magischen Fähigkeiten genauso schnell, wie sie nach den Besuchen in der Anderswelt auftauchten? Sie war seit einigen Wochen nicht mehr dort, genau genommen sind es seit dem Herbst sogar schon Monate.

»Ich muss das überprüfen, aber welchen Versuch kann ich machen? Caitlin könnte jeden Moment erwachen und darf das nicht bemerken! Hm. Ich ziehe die Bettdecke über mich und rufe darunter eine Lichtkugel auf. Diesen Zauber beherrsche ich, ohne ihn aussprechen zu müssen.« Schnell ist die Decke über ihren Kopf gezogen. »Solus.« Doch nichts geschieht. »Solus.« Auch der zweite Versuch misslingt. Beim dritten Mal spricht Anna die Worte lauter, als sie es beabsichtigt. »SOLUS!« Sofort erscheint eine hell leuchtende Kugel in der ausgestreckten Hand. Die magische Lichtquelle lässt sie mit »Inhibeo« wieder verlöschen, als sie eine Stimme vernimmt.

»Anna? Hast du mich gerufen?« Caitlin klingt verschlafen. Hat sie etwas gemerkt?

»Entschuldige, ich musste laut niesen. Habe ich dich geweckt?« Wird dieser Trick gelingen? Falls die Vertrauensschülerin nicht mehr geschlafen haben sollte, wird sie den Unterschied mitbekommen haben.

»Gesundheit! Ja, dein Niesen hat mich aus tiefem Schlummer geholt. Ich war kurz davor, meinen Gegner schachmatt zu setzen. Es ist aber gut, dass wir wach sind. Ich sehe gerade auf der Uhr, dass es Zeit zum Frühstück ist. Also lass uns eilen.«

Anna ist froh, dass ihre kleine List gelungen ist. Während sie sich ankleidet, grübelt sie, warum ihr bisher leichte Zaubersprüche plötzlich schwerer fallen. Ob das doch etwas mit der Dauer der Abwesenheit von der Anderswelt zu tun haben mag?

Wie im Herbst werden jeweils zwei Spielpaarungen in den sechs Jahrgangsgruppen ausgetragen, deren Teilnehmer vorher festgelegt wurden. Am ersten Wettkampftag gehört Anna zu den Zuschauern, da ein Junge aus ihrer Klasse das heutige Spiel ihres Jahrgangs bestreitet. Da Robin antritt, hält sie sich in unmittelbarer Nähe zu dessen Tisch auf. Direkt neben ihr hampelt Roya überdreht herum.

»Toi, toi, toi, Robin! Ich drücke dir ganz fest die Daumen!« Das Mädchen streckt aufgeregt seine Arme in Richtung des Jungen und richtet demonstrativ beide Daumen nach oben. Sie holt Luft und kichert. »Dabei brauchst du kein Glück, dein Können ist so einmalig, dass dein Gegner keine Aussicht auf den Sieg hat. Komm schon, Robin, feg ihn weg!« In diesem Moment fordern Morwenna und Innocent absolute Ruhe von den Zuschauern, wobei sich beider Blicke auf Roya richten. Anna bemerkt, wie unangenehm ihrem Spielpartner die lauten Aussprüche der Klassenkameradin sind. Seine Augen wandern zur Zimmerdecke und eine tiefe Röte zieht den Hals hinauf. Er atmet in der wohltuenden Stille tief ein und sein Blick streift kurz Annas Antlitz. Sie lächelt ihn an und konzentriert sich auf sein Match, als gestartet wird. Die Kontrahenten ziehen ihre Steine schnell vorwärts, erste Verluste entstehen auf beiden Seiten, ohne dass sich eine baldige Entscheidung abzeichnet. Anna hält mehrfach den Atem an, als sie befürchtet, Robin könne eine geschickt gestellte Falle nicht erkennen. Sie bemerkt, wie er die Augenbrauen zusammenzieht und offenbar kurz die Luft anhält. Doch dann hellt sich sein Gesicht auf. Er atmet langsam aus, um die Anspannung nicht zu deutlich zu zeigen und beseitigt durch Rückzug eines Läufers die Lücke in seiner Verteidigungsstellung. Mehrere Spielzüge später zittert Anna mit ihm, ob der Gegner Robins Falle bemerkt. Voller Konzentration presst der andere Junge die Lippen zusammen, durch die die Zungenspitze hin und her wandert. Er will seinen Springer bereits hinter die Frontlinie ziehen, als er den Zug geschickt abwandelt und zum Gegenangriff übergeht. Das Hin und Her sorgt dafür, dass diese Partie trotz des forschen Beginns am längsten von allen dauert. Es wird mittags unterbrochen und endet schließlich unentschieden.

Von den sechs Spielen konnte lediglich Alexander seines gewinnen. Da Britta ebenfalls ein Unentschieden erreicht hat, gehen drei Siege auf das Konto der Gegenseite. Dies ist exakt das Ergebnis des letztjährigen Vergleichs zwischen den Teams. Trotzdem jubelt keine der beiden Gruppen. Sie hatten sich diesmal mehr vorgenommen. Für das Team des CC führte das Ergebnis im Herbst zu einem ersten vorsichtigen Hoffnungsschimmer, mehr als nur einen Achtungserfolg zu erzielen. Sollten es bei diesem Wettkampf nicht für den Gesamtsieg reichen, obwohl sie so sehr darauf hoffen?

Den Rest des Nachmittags verbringen die Schüler des CC in ihren Zimmern. Eine Erkundung der Innenstadt fällt wegen der eisigen Temperaturen aus. Lediglich Morwenna verschwindet in Begleitung von Innocent bis zum Abend. Anna bekommt mit, wie sie sich gegen den Wind durch die Außentür kämpfen. Bevor diese geschlossen ist, wehen Schneeflocken in den Flur, wo sie in der Wärme schnell zu vielen Wassertropfen schmelzen.

Was mag Morwenna vorhaben? Ob sie mit ihrer ehemaligen Studienkollegin in Ruhe alte Zeiten heraufbeschwören möchte und dafür ein Café aufsuchen will? Im Speisesaal des Internats, auch in dem kleineren, der vom Team des CC genutzt wird, ist eine private Unterhaltung kaum möglich. Doch Anna glaubt das nicht. Dann hätten sie sich in einem ihrer Zimmer treffen können. Sie vermutet, die beiden könnten irgendeiner Spur Siegfried Backs nachspüren.

Sie weiß nicht, wie recht sie damit hat.

Die Professorinnen haben ein Treffen mit einem Hausmeister vereinbart, der sie in die Wohnung dieses Mannes lassen soll. Morwenna hat sich als besorgte Cousine Siegfrieds ausgegeben, der sich seit Jahren nicht mehr bei ihr gemeldet habe. Sie möchte sich vergewissern, dass er nicht gestorben ist und seit Monaten in einem der Räume liegt. Die zwei Frauen sind aufgeregt, da sie nicht sicher sind, ob der Hausmeister sie ohne Beweise für die Richtigkeit ihrer Behauptung in die Wohnung lassen wird. Doch der ist wegen der möglichen Leiche derart aufgewühlt, dass er lediglich einen schnellen Blick auf Morwennas Ausweisdokument wirft. Sie hatte sich eine plausible Erklärung ausgedacht, weshalb sie bisher nie in dem Haus gesehen worden war. Doch das ist nicht notwendig. Der Hausmeister wundert sich lediglich darüber, dass sie sich derart viel Zeit gelassen hat, bis sie mit ihrer Nachforschung gestartet ist. Das erklärt sie mit einer längeren Reise ins Ausland, von der sie erst letzte Woche zurückgekehrt sei.

Anna Q und das Erbe der Elfe

Подняться наверх