Читать книгу Anna Q und das Erbe der Elfe - Norbert Wibben - Страница 8
Auf zum Vergleichswettkampf
ОглавлениеDas kalte Wetter ändert sich nicht. Trotz der Minusgrade fällt an manchen Tagen immer mal wieder Schnee. Die Fahrt in die Universitätsstadt wird dadurch aber nicht behindert. Wie der erste Vergleichswettkampf findet dieser auch an einem Wochenende statt, allerdings beginnend am Donnerstag. Das ist ein Feiertag und der Freitag ein Brückentag, an dem kein Unterricht stattfindet. Auf der Fahrt in die Stadt wundert sich Anna, dass sie seit mehreren Tagen keinen Kontakt zu Ainoa gehabt hat. Als sie genauer nachrechnet, es war, kurz bevor der Wintereinbruch erfolgte, stellt sie erstaunt fest, dass es mittlerweile etwa drei Wochen sind. Erschrocken versucht sie, sofort einen Kontakt zur Elfe herzustellen, was jedoch misslingt. Liegt es daran, dass das unablässige Gerede vieler Mitglieder des Schachteams sie ablenkt? Besonders das affektierte Gehabe von Roya Robson dringt immer wieder in die Versuche. Seit ihrer lautstarken Herausforderung Robins vor acht Tagen versucht sie häufiger, dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das Match hatte sie schnell verloren, aber sofort eine Revanche verlangt und erhalten. Auch das Spiel endete vernichtend für sie, was sich aber keinesfalls nachteilig auf ihre Schwärmerei für den Jungen auswirkte.
Morwenna hat in den vergangenen Tagen die aktuelle Spielstärke aller Schüler bewertet und die Spieler festgelegt, die in der jeweiligen Jahrgangsstufe im Wettkampf antreten sollen. Das Team besteht inzwischen aus mehr Mitgliedern, als für den Vergleich notwendig sind. Dessen ungeachtet begleiten alle die ausgewählten Vertreter der Schule, damit nicht nur fremde Zuschauer bei den Spielen anwesend sind. Morwenna weiß, wie wichtig mentale Unterstützung sein kann.
Ein Grinsen stiehlt sich auf Annas Gesicht, als sie erneut Royas schrille Stimme vernimmt. Sie ist sicher, das Mädchen wird sich nicht scheuen, Robin lautstark zu unterstützen. Vielleicht feuert sie aber nicht nur ihn, sondern auch andere des Teams an, obwohl das bei einem Schachturnier völlig unpassend ist. Zuschauer sollen die Spieler nicht von ihrer Strategie ablenken. Bei zu großer Unruhe können die jeweiligen Personen des Raumes verwiesen werden. Diese Aufgabe obliegt Innocent Green und Morwenna Mulham.
Anna wirft einen Blick zur Bibliothekarin, die mit unbewegtem Gesicht dem Geplapper Royas zuhört, die laut und für alle hörbar, eine Prognose für Robins Spiel abgibt, ohne dessen Gegner zu kennen.
»Es steht außer Frage, wer in dem Match gewinnen wird. Auch wenn ICH natürlich kein Maßstab bin, habe ich doch die unvergleichliche Vari… Variosi… den Einfallsreichtum Robins kennengelernt. Daher kann ich voller Bewunderung feststellen, dass er seinen Gegner in kürzester Zeit vom Spielfeld fegen wird.«
»So so. Nach nur zwei Spielen kannst du das. Was bist du doch für ein Schachgenie«, denkt Anna. Bevor Roya noch mehr derartigen Unsinn von sich geben kann, erklingt von vielen Stellen lautstark Protest.
»Kannst du endlich mal still sein?«
»Wir versuchen, uns zu konzentrieren!«
»Im Gegensatz zu dir treten wir morgen gegen wahre Champions an.«
Anna, die Robin gegenübersitzt, bemerkt, wie ihm eine dunkle Röte den Hals hinaufkriecht. Ihm ist Royas Benehmen offenbar peinlich. Gleichzeitig wird er kleiner, da er seinen Kopf verlegen zwischen die Schultern hinabzieht und nach draußen schaut. Neben ihnen haben Alexander und Caitlin Platz genommen, weshalb Roya sich schmollend einen weiter entfernt suchen musste. Wegen der letzten Kommentare schweigt sie einige Zeit. Je nach Veranlagung gehen die Teammitglieder im Geist frühere Spiele durch, nutzen Reiseschachspiele, lesen oder schauen einfach nach draußen.
Eine weiße, überzuckerte Landschaft zieht schnell vorbei. An vielen Stellen sind die Bahngleise mit Schneefräsen freigelegt worden, so dass der Zug scheinbar durch Eisröhren fährt. Wenn der Blick in die Ferne möglich ist, meist in Bereichen von Brücken über Flüssen, sind Rauchfahnen zu erkennen, die schmal und senkrecht aus den Schornsteinen bewohnter Häuser nach oben in den grauen Himmel steigen. Anna überlegt mit zusammengekniffenen Augenbrauen, ob heute noch mehr Schnee zu erwarten ist. Als ob Robin ihre Gedanken gehört hätte, antwortet er.
»Wenn wir dem Wetterbericht glauben wollen, wird es heute keinen weiteren Niederschlag geben. Obwohl ich das bezweifele, so zugezogen wie der Himmel ist, haben die Wetterfrösche in den letzten Wochen erstaunlich oft recht behalten.«
Anna erinnert sich gut daran, wie alle vor über drei Wochen ungläubig der Wetterprognose lauschten. Sie dachte dabei an die Ergebnisse ihres Vaters und schüttelte vehement den Kopf.
»Die Forschungsergebnisse sagen etwas anderes. Wenn es hier doch Schnee geben sollte, wird er nur kurze Zeit liegenbleiben. Die Erderwärmung lässt zwar das Wetter verrücktspielen, aber einen Temperatursturz wird es sicher nicht geben!«, war ihre Erwiderung an Robin gewesen. Doch bereits am kommenden Tag wurde sie von den Tatsachen völlig überrascht.
»Sollen wir eine Partie Schach spielen?« Robin nimmt sein Reiseschach aus dem Rucksack und blickt sie fragend an.
»Gern!«
Sofort öffnet er den kleinen Kasten. Gemeinsam stecken sie die Figuren mit ihren Stiften in die Löcher, als es unerwartet völlig dunkel wird. Das Bild eines Drachen blitzt in Annas Kopf auf. Der Lindwurm hat sich auf einem Eisberg zusammengerollt. Bevor das Mädchen erkennt, ob es ein Eis- oder Feuerdrache ist, ändert sich die Szene. Eine gewaltige Burgmauer ragt kurzzeitig vor ihr auf, dann ist das Licht im Wagon stärker und überstrahlt das Bild. Anna runzelt verwundert die Stirn, während ihre rechte Hand automatisch zum Anhänger an der Kette fährt. Die trägt sie seit ihrem Geburtstag um den Hals. Erneut verblasst die Umgebung, um dafür ein großes Ei zu zeigen, das bläulich gemustert ist. Ein Riss zeigt sich in der Schale und etwas Silbergraues drängt nach draußen. Bevor sie erkennen kann, welches Wesen sich aus der Enge befreien will, wird sie von Robins besorgten Worten in die Gegenwart gerufen.
»… ist los mit dir? Du siehst blass aus und wirkst abwesend.«
»Mir … es ist nichts«, winkt Anna ab. Das Mädchen mit der jungenhaften Figur und einigen Sommersprossen auf und um die gerade, schmale Nase herum, lächelt. Der Junge beugt sich zu ihr vor, um ihr von anderen ungehört ins Ohr zu flüstern.
»Hat Ainoa soeben versucht, dir etwas mitzuteilen?« Da Robin von Annas Abenteuern in der Anderswelt weiß, kennt er auch ihre enge Verbindung zu dieser Elfe, die in der diesseitigen Welt stets als Kolkrabe auftritt. Das Mädchen schüttelt den Kopf.
»Ich habe schon vor einiger Zeit vergeblich versucht, sie zu kontaktieren. Doch das war nicht jetzt. Ich befürchtete, einen Migräneanfall zu bekommen, doch das trifft zum Glück nicht zu.« Den letzten Satz spricht sie lauter, damit Alexander und Caitlin eine Erklärung für ihr seltsames Verhalten bekommen.
»Könntest du in dem Fall morgen spielen?« Die besorgte Frage des anderen Mädchen zeigt, wie wichtig Annas Teilnahme an dem Wettkampf eingeschätzt wird. »Du weißt, wir zählen auf den Punkt, den du hoffentlich erkämpfst!«
»Wenn mir das misslingt, wirst du ihn für uns holen«, versucht Anna zu flachsen. »Nein, im Ernst. Ich habe seit dem Sommer erstaunlicherweise keinen Migräneanfall mehr gehabt. Ich werde morgen spielen.« Sie lächelt die fürsorgliche Vertrauensschülerin, dann Alexander und danach Robin an. »Und jetzt lass mich wählen, zeig deine Hände. Ich nehme die linke.« Der Junge öffnet sie und präsentiert einen weißen Bauern.
»Du eröffnest«, ist sein Kommentar, während er Anna einen kritischen Blick zuwirft. Sollte sie doch den Anfang einer Kopfschmerzattacke spüren? Dann sind Ruhe und Dunkelheit das Wichtigste.
»Mir geht es wirklich gut!«, entgegnet das Mädchen und macht seinen ersten Zug. Erneut blitzt ein Bild vor ihm auf.
In einem Nest auf einem schroffen Berggrat erkennt es erneut das Ei, dann ist es verschwunden. Anna schüttelt den Kopf und versucht, sich ganz auf das Match zu konzentrieren. Die Umgebung verschwindet scheinbar und nur das Spiel zählt. Die gegnerischen Figuren wachsen und sie verliert ihre Größe. Das ist ein Trick, den ihr Ainoa beigebracht hat. Dadurch kann sie alles um sich herum ausblenden und effektiver das Spiel bestimmen. Sofort steht sie auf dem Spielfeld, diesmal als Springer, der einen gegnerischen Bauern vom Feld schlägt.
In der Universitätsstadt werden sie wie im Herbst von Innocent am Bahnhof abgeholt. Die Fahrt durch die Stadt dauert dieses Mal doppelt so lange, obwohl weniger Verkehr herrscht. Die Ursache ist, dass die Straßen zwar geräumt, dafür an vielen Stellen aber nur einspurig befahrbar sind. Die Schneeberge an den Straßenrändern versperren nicht nur die freie Sicht auf die imposanten Gebäude, sie behindern in Kreuzungsbereichen auch den fließenden Verkehr. Beim Internat angekommen, verlassen sie den Bus und hasten auf das Bauwerk zu. Das imposante Gebäude ist aus rotem Backstein errichtet und besitzt eine beeindruckende Anzahl kleiner und großer Giebel, doch dafür haben die Schüler heute keinen Blick übrig. Sie wollen den schneidend kalten Wind hinter sich lassen und schnell ins Warme. Innen folgen sie der vorangehenden Innocent Green durch verwinkelte Gänge und über eine Treppe in einen Raum, den sie vom letzten Wettkampf her kennen. Er wird als kleiner Speisesaal genutzt. Dort ist für sie ein Abendessen als Büffet vorbereitet worden. Alle bis auf die beiden Teamleiterinnen setzen sich. Innocent Green begrüßt das Schachteam und heißt die Schüler, aber insbesondere ihre liebe Freundin und ehemalige Studienkollegin, willkommen. Anders als beim ersten Mal wirkt es heute ehrlich gemeint. Sofort bedankt sich Morwenna für die Einladung.
»Ich wünsche uns allen ein spannendes Wochenende und faire Kämpfe.« Dann fügt sie mit einem Grinsen hinzu, das über das ganze Gesicht zieht: »Vermutlich hast du diesmal deine Spieler intensiver vorbereitet. Hoffentlich schaffen wir trotzdem den einen oder anderen Sieg. Falls es nicht dazu reicht, haben wir wenigstens einen schönen Winterausflug gemacht.« Im ersten Moment schaut Innocent irritiert zu Morwenna, dann ist zu sehen, wie ihr die Erinnerung an fast die gleichen Worte kommt, die sie im Herbst herablassend an das gegnerische Team richtete. Sie senkt den Blick und wendet sich dann an Morwenna.
»Meine Begrüßung im Herbst ist völlig unpassend gewesen. Ich möchte mich nachträglich dafür entschuldigen. Aber jetzt genug der Worte, greift zu.« Mit verlegenem Lächeln tritt sie zurück und setzt sich, um den Gästen den Vortritt zu lassen.
Im Anschluss an das Essen führt Innocent alle in den Clubraum des Schachteams. Er ist sehr großzügig ausgestattet und in großen Vitrinen sind die gewonnenen Pokale ausgestellt. Hier warten die Spieler, gegen die sie antreten werden. Abschätzende Blicke fliegen hin und her, bevor sich die gegnerischen Jungen und Mädchen begrüßen. Anna sind vom letzten Vergleich die meisten bekannt, doch ihr damaliger Kontrahent Ciaran befindet sich nicht unter ihnen. Ihren suchenden Blick hat Britta offenbar bemerkt.
»Mein Cousin nimmt diesmal nicht teil, er liegt mit einer schweren Erkältung auf der Krankenstation.«
»Das tut mir ehrlich leid. Ich hätte mich gerne erneut mit ihm gemessen.« Brittas Blick ist nicht zu interpretieren. Sollte Anna das ernst meinen, vielleicht, weil sie einmal gegen ihn gewonnen und verloren hat? Dadurch könnte sich das Unentschieden in den Sieg einer Seite ändern. Die Vertrauensschülerin weiß nicht, dass dessen Sieg lediglich durch die Anwendung psychischer Tricks gewonnen worden war. Doch dafür hatte sich Ciaran nachträglich entschuldigt. Anna wäre gern erneut gegen den Jungen angetreten, der eigentlich gut spielt.
In der Nacht träumt Anna erneut die Sequenz, in der sie als weiße Dame in einem Match agiert. Sie wird durch einen vorwärtsziehenden Springer bedroht. Soll sie den gegnerischen Stein durch ihren seitlich von ihm stehenden Bauern schlagen? Sie könnte mit ihm den gefährlichen Kontrahenten wegfegen oder wäre es besser, dem Angriff auszuweichen? Manchmal ist ein Gegenangriff die beste Verteidigung. Wenn sie beides miteinander verbinden kann, wäre das eine verlockende Möglichkeit. Ihr Blick schweift über das Spielfeld. Genau, ist das die Lösung? Sie könnte mit großen Schritten mitten in die gegnerische Verteidigung eindringen und dort sowohl einen Turm als auch den danebenstehenden Springer bedrohen. Der Läufer, der sonst den von ihr anvisierten Bauern schützt, wurde vor zwei Zügen weiter aufs Spielfeld gezogen, wo er scheinbar verloren auf ein Opfer lauert. Sein scharfer Blick jagt Anna einen Schauer über den Rücken. »Irgendetwas stimmt mit diesem Spielstein nicht«, schießt ihr warnend durch den Kopf. Aus einem plötzlichen Entschluss heraus scheucht sie alle Bedenken fort und läuft los. Während sie dem schwarzen Bauern näherkommt, wächst dieser zu riesigen Ausmaßen an. Die Figur erinnert sie an … Bre-epil. Hat sie gerade einen verhängnisvollen Fehler begangen? Und wieso denkt sie an diesen Bergtroll, der ihr und Ainoa im Herbst im Nebelwald gefährlich wurde? Sollte dies eine hellgesehene Sequenz sein? »Halt!«, befiehlt sie und erwartet, dass die Bilderfolge stehen bleibt. Doch gerade in dem Moment, als sie diesen Befehl denkt, änderte sich das Bild. Ihr Blick ruht auf einem bläulichen Ei, in dessen Schale sich ein Loch gebildet hat. Ist es möglich, dass eine mit Krallen bewehrte Hand versucht, die Öffnung zu erweitern? Warum ändert sich nichts? Das wirkt wie eingefroren! Anna weiß die Erklärung im nächsten Moment, sie hat die Sequenz angehalten. »Weiter!« Sofort drängt sich die Krallenhand durch die Öffnung. Ein großes Stück Schale bricht ab und gibt den Blick ins Innere frei. Etwas bewegt sich dort, drängt offenbar hinaus. Dann ist ein ovales Auge zu erkennen, das forschend und offensichtlich vorsichtig in die neue Umgebung blinzelt. Das Mädchen wälzt sich auf seinem Lager und stöhnt leise. Schlüpft dort gleich ein Eisdrache? Das silberne Äußere, das aber auch ein helles Saphirblau sein könnte, scheint darauf hinzudeuten. Doch bevor Anna mehr erkennen kann, wacht sie schweißgebadet auf. Völlige Dunkelheit umgibt sie.
»Wo bin ich? Was hat der Traum zu bedeuten?« Im ersten Moment ist sie versucht, eine Lichtkugel aufzurufen, aber womöglich zeigt sie sich damit einem gefährlichen Gegner. Sie zögert und bemerkt leise Schlafgeräusche. Sollte sie mit Ainoa in einem neuen Abenteuer stecken? Plötzlich kennt sie die Erklärung. Sie schläft zusammen mit Caitlin in einem Besucherzimmer im Internat der Universitätsstadt. Sie bestreiten morgen den ersten Tag des Wettkampfes! Sie atmet erleichtert auf. Eine direkte Gefahr besteht nicht!
Das Bild mit dem Ei, aus dem neues Leben in eine unbekannte Welt drängt, hat sie bereits öfter gesehen, seit sie zum ersten Mal den Anhänger an ihrer Kette berührt hat. Automatisch greift auch jetzt eine Hand danach. Sie beruhigt sich, als sie die drei Zacken fühlt. Warum änderte sich die Schachsequenz in den Anblick eines schlüpfenden Wesens? Sie hatte erwartet, als Dame einen Blick zurück auf Turm, Springer und die anderen Steine zu werfen. So war das beim letzten Mal, als sie diese Bilder träumte. Das wölfische Grinsen auf dem Antlitz des gegnerischen Läufers fehlt ihr, genauso wie die Verwandlung des Königs Gesicht in das von Iain Raven, dessen Mund sich zu einem großen »O« öffnet.