Читать книгу Anna Q und das Erbe der Elfe - Norbert Wibben - Страница 7
Unerwartetes Treffen
ОглавлениеAnna durchquert mit schnellen Schritten den Lesesaal. Sie lächelt zu Robin hinüber, der bereits ihren üblichen Tisch für sie reserviert hat. Bevor sie bei ihm ist, erhebt er sich.
»Hey Anna. Was meinst du, wie lange hält diese Eiszeit wohl noch an? Ende kommender Woche müssen wir mit dem Zug fahren, um zum Wettkampf zu gelangen. Hoffentlich kommen wir durch, sonst sieht es womöglich aus, als ob wir kneifen wollten.« Bevor Anna etwas erwidern kann, verschafft sich Morwenna Mulham Gehör. Die leisen Gespräche verstummen schlagartig.
»Hört mir bitte zu. Wir haben nur noch wenige Tage, dann geht es zum Vergleich mit Innocents Team. Ich gehe davon aus, dass die Züge trotz des Schnees pünktlich sein werden. Uns bleiben acht Tage. Morgen in einer Woche fahren wir. Ich möchte, dass wir bis dahin intensiv trainieren, möglichst mit wechselnden Gegnern.« Ihr Blick wandert zu Anna und Robin, aber ebenso zu Alexander und Caitlin, die wie üblich gegeneinander antreten wollen. »Ihr wisst, wie wichtig es ist, mit neuen Situationen konfrontiert zu werden, um unvorhersehbare Schwierigkeiten meistern zu können.« Ihr Blick ruht auf Finn, dessen Gesicht mit den vielen Sommersprossen sich zu einem Grinsen verzieht. Er hatte im Herbst völlig unerwartet den Schulchampion Alexander besiegt. »Setzt euch also in neuen Paarungen zusammen!« Als ob sie nur auf diese Gelegenheit gewartet hätte, ruft ein Mädchen:
»Ich fordere Robin. Er soll mein Gegner sein.« Von den Lesepulten erklingt ein vielstimmiges »Psst«. Alle Schachspieler drehen sich in Richtung der Stimme und sehen das entschlossene Gesicht von Roya Robson. Die Schülerin wirft ihre langen, rotblonden, glatten Haaren theatralisch mit beiden Händen nach hinten und bahnt sich den Weg zum Tisch, an dem Robin neben Anna steht. Die Dreizehnjährige ist seit dem erfolgreichen Vergleichswettkampf ebenfalls Mitglied im Schachclub. Sie besucht den gleichen Jahrgang wie der Junge und strahlt ihn an. Mit einer Bewegung des Kopfes zur Seite wendet sie sich kurz und herablassend an Anna. »Du hast doch nichts dagegen, oder?« Gleichzeitig setzt sie sich auf einen der Stühle und sieht danach Robin auffordernd an, es ihr gleichzutun. Der schnappt verblüfft einmal nach Luft, blickt beide Mädchen abwechselnd an und zuckt mit den Schultern. Er fühlt sich offensichtlich von der forschen Art der Klassenkameradin überfordert. Zum Glück hilft Anna ihm aus der Patsche.
»Wir spielen später gegeneinander, einverstanden?« Seine Augen ruhen groß und fragend auf ihr. Doch das Mädchen lächelt ihn abwartend mit neutralem Gesichtsausdruck an. Der Junge fühlt sich erleichtert und nickt zur Bestätigung.
Während Robin sich an den Tisch setzt, dreht sich Anna schnell um. Sie verkneift sich mit Mühe einen bissigen Kommentar zu Royas Benehmen und hält nach einem Gegner Ausschau. Sie merkt nicht, wie Ihre geballten Fäuste verkrampfen. Die Glühbirne einer Deckenleuchte über ihr flackert mehrfach, um dann mit lautem Knall zu zerplatzen. Sie fährt erschrocken zusammen und presst die Lippen aufeinander, um das reflexartige Aufrufen einer Schutzglocke zu verhindern. Wenn die anderen Schüler mitbekommen würden, wie sie etwas murmelt und anschließend von einem goldenen Flirren umgeben ist, wird sie sofort zum Sonderling. Ihre ersten Wochen im Internat sind schwierig gewesen. Sie war als Einzelkind in der Obhut von Vater und Großmutter aufgewachsen und den Umgang mit Gleichaltrigen außerhalb schulischer Aktivitäten nicht gewohnt. Sie fühlte sich einige Zeit ausgegrenzt, bis sie Anschluss im Schachteam fand. Dessen Gründung durch die Bibliothekarin hat ihr den Weg in die Schülergemeinschaft geebnet. Da sie durch die Besuche in der Anderswelt inzwischen über erhebliche Zauberkräfte verfügt, muss sie aufpassen, sie nicht unbedacht anzuwenden.
»Anna?«, wird sie von der Stimme Morwennas aus ihrer Grübelei gerissen. »Du hast keinen Spielpartner gefunden, willst du gegen mich antreten?« Die Bibliothekarin schaut sie mit hellgrauen Augen durch die großen Gläser ihrer Brille an. Der Gesichtsausdruck wird fragend, als ihr Blick zur Lampe hinauf und dann zum Mädchen zurückwandert. »Komm mit zu meinem Platz auf der anderen Seite der Theke. Dort können wir spielen, nachdem ich die Glühbirne gewechselt habe. – Hast du mit deren Ausfall etwas zu tun?«
»Was sagst du?« Anna dreht sich um und blickt zur Deckenleuchte. »Das habe ich nicht mitbekommen. Ich weiß nicht. Ich habe mich vorhin etwas geärgert. Vielleicht …? Denkbar wäre es, obwohl ich versucht habe, mich zusammenzunehmen.«
»Du solltest deine Zauberfähigkeiten unbedingt besser unterdrücken. Vielleicht kann Ainoa dir zeigen, wie das möglich ist.« Auf einem kleinen Tisch mit Schachbrett sind die Figuren bereits aufgestellt. Die Bibliothekarin deutet auf einen der beiden Stühle. »Ich denke, du bist heute mit der Eröffnung dran. Ich komme gleich.« Sie bückt sich und holt unter der Theke eine Ersatzbirne für die Leuchte hervor. Nach einem Blick zur Decke schüttelt sie den Kopf und legt sie dann doch neben dem Computerbildschirm ab. Sie setzt sich Anna gegenüber. »Das ist mir doch zu riskant. Den Wechsel soll der Hausmeister machen. Außerdem besteht keine Dringlichkeit, die Helligkeit wird durch den Ausfall nur unwesentlich verschlechtert. Und jetzt wollen wir mit dem Spiel beginnen.« Anna nickt, nimmt einen Springer und setzt ihn vor die Bauernreihe.
Wellen klatschen gegen Felsbrocken und Gischt spritzt hoch. Schreie von Seevögeln schallen durch die Luft, während sie scheinbar wild durcheinanderfliegen. Einige von ihnen stürzen sich kopfüber ins Wasser. Kurze Zeit später tauchen die Tiere wieder auf und erheben sich mit ihrer Beute im Schnabel aus dem Nass. Ein schriller Schrei erklingt, ohne die Seevögel aufzuschrecken. Der wolkenverhangene, graue Himmel wird kurz darauf von einem Schatten verdunkelt, der sich schnell landeinwärts bewegt. Hagel prasselt aus den Wolken und eine breite weiße Spur zeigt die Zugrichtung des Schemens an. Genauso unerklärlich wie der engbegrenzte, eisige Niederschlag ist, was gleichzeitig am Boden geschieht. Unter dem Schatten gefriert das Wasser schlagartig. Sogar Seevögel erstarren und fallen vom Himmel, um auf die plötzlich vorhandene dicke Eisschicht zu treffen. Am Strand bilden sich große, bizarre Eiskristalle, deren gefährlich wirkende Spitzen in unterschiedliche Richtungen zeigen. Weiter im Landesinneren gefrieren Tiere, Gräser, Sträucher und ebenso Bäume. Auf einer etwa zwanzig Meter breiten Spur erstarrt jedes Leben, erlischt von einem Moment auf den anderen. Parallel dazu sinkt die Temperatur und rutscht weit unter den Gefrierpunkt. Die dicke Eisschicht auf dem Wasser zerbricht zwar in große Schollen, nachdem die Wellen sie mehrfach anheben und fallen lassen, doch sofort bildet sich eine neue Eisschicht. Erste Wasservögel schreien ihr Erstaunen über das seltsame Verhalten der Natur in die Welt hinaus. Feine weiße Rauchfahnen schlüpfen dabei aus ihren weit geöffneten Schnäbeln. Dann folgen die Tiere ihrem Drang nach Nahrungsbeschaffung und stürzen wie Pfeile vom Himmel. Das Wasser neben den Eisflächen brodelt, als ob es kochen würde, dabei wird das lediglich durch die abtauchenden Vögel verursacht.
Anna setzt sich im Bett auf und reibt den Schlaf aus den Augen. Was war das denn jetzt für ein Traum? Überziehen die Drachen auf Geheiß von Seid Greif das Andersland mit Schnee und Eis? Will er dadurch die Elfenkönigin zwingen, ihm den Übergang zwischen den Welten zu ermöglichen? Das Mädchen seufzt enttäuscht und streicht die schulterlangen, blonden Haare rechts und links hinter die Ohren. Es hat vergessen, den Test zu machen, ob die geträumte Sequenz hellgesehen ist. Sie war zu sehr von dem seltsamen Geschehen gefangen. Annas Gedanken wandern zu ihrem Vater. Ob sich das Wetter in Grönland auch geändert haben mag?
Sie lächelt, als sie sich an seinen Besuch erinnert. Anna war vom Schulleiter Iain Raven ins Büro gerufen worden, wo Aedan unerwartet und breit grinsend vor ihr stand. Er hatte vorher keine Nachricht geschickt, da er sie überraschen wollte.
»Hallo, meine Maus«, begrüßte er sie wie üblich. Die nächsten Sätze hat sie nicht mitbekommen. Sie war quasi in seine Arme geflogen und umklammerte ihn derart, als wolle sie ihn nie mehr freigeben. »Was ist los? Warum zitterst du so heftig?« Der Vater klang besorgt und Anna nahm sich zusammen. Sie bedankte sich bei Iain Raven und führte Aedan hinüber ins Mädchenhaus und in ihr Zimmer. Auf dem Weg dorthin überlegte sie, was sie ihm von ihren Erlebnissen in der Anderswelt mitteilen sollte. Schließlich entschied sie, besser nichts von den bestandenen Abenteuern zu erzählen. Sie weiß, Eltern machen zu leicht aus einer Fliege einen Elefanten und sie will nicht, dass er sich um sie sorgt. Sollte er ihr glauben, dass sie das Erzählte nicht nur geträumt hat, wird er von ihr das Versprechen fordern, der Anderswelt fernzubleiben. Davon ist sie überzeugt. Zumal dort große Gefahren auf ein kleines Mädchen lauern, von denen sie dann frisch berichtet haben würde. Was Anna nicht weiß, Aedan hätte ihren Bericht als Anlass genommen, sie über eine bisher unbekannte Seite ihrer Mutter Lapis zu informieren. So war er kurz davor, von ihrem fürsorglichen Wesen, aber auch von Heimweh und unerklärlichen Phänomenen in ihrem Umfeld zu erzählen. Doch das unterblieb und wurde mit einem schweren, lautlosen Seufzer auf später verschoben. Aedan war der Auffassung, Anna müsse erst erwachsen, zumindest aber ein paar Jahre älter werden.
Weihnachten feierten alle im Speisesaal des Internats. Der Raum war mit viel Grün und rotem Krepp geschmückt worden. Es gab ein üppiges Büffet, das auch für den folgenden Tag reichte. Die wenigen Schüler und Lehrer gestalteten zusammen mit dem Küchenpersonal einen gemütlichen Abend. Sie sangen einige Lieder und lasen sich abwechselnd Märchen oder kleine Weihnachtsgeschichten vor.
Zwischen Weihnachten und Sylvester wurde Anna zwölf Jahre alt. Mit ernstem Gesicht überreichte Aedan sein Geschenk.
»Dies ist die Kette, die Lapis bei deiner Geburt trug. Wie du weißt, starb sie kurz darauf. Sie hat den Schmuck immer getragen, bis kurz vor ihrem Tod. – Sie reichte ihn mir als Erbe für dich und ich finde, du bist mit zwölf Jahren jetzt alt genug, um ihn zu würdigen.« Die Tränen in Vaters Augenwinkeln zeugten davon, wie sehr ihm Annas Mutter fehlt. Verstohlen versuchte er, sie fortzuwischen. Das Mädchen war sprachlos und streichelte kurz dessen Handrücken. In dem Moment war Aedan erneut kurz davor, über die Eigenarten seiner großen Liebe Lapis zu erzählen. Dieses Mal hinderte ihn ein erstaunter Ausspruch Annas daran.
»Das Schmuckstück ist wunderschön! Ich habe es nie zuvor gesehen. Oma hat es mir nicht gezeigt, kannte sie es nicht?«
»Doch«, antwortete er sofort, »von ihr hatte Lapis die Kette ursprünglich bekommen, als sie etwa so alt wie du jetzt war. Und deshalb sollte sie so lange wohlverwahrt und behütet werden, bis du diesen Geburtstag feierst. Großmutter könnte dir vermutlich viel über den Anhänger berichten. Zumindest, welche Bedeutung er hat. – So liegt es nun an mir, zu erzählen, was ich darüber weiß. Aber sei nicht enttäuscht, das möchte ich noch etwas verschieben.« Aedan musste sich mehrfach räuspern und offensichtlich einen großen Kloß hinunterschlucken, so sehr wühlte ihn die Erinnerung an Lapis auf.
Im Bett sitzend hebt Anna eine Hand und betastet die Kette, die sie seit dem Geburtstag um ihren Hals trägt. Sie fühlt sich warm an und ist aus sehr stabilen, aber trotzdem feinen Kettengliedern gefertigt. Das Material ist Silber, aus dem auch der Anhänger besteht. Der stellt einen dreizackigen Stern dar. Mittig darin ist ein wasserheller, blauer Stein eingearbeitet, der einen makellosen Facettenschliff besitzt. »Das in der Mitte ist kein Diamant, sondern ein Aquamarin, die Variante eines Beryls. Wenn du in einen Spiegel schaust, wirst du sehen, dass er den hellblauen Pünktchen in deiner Iris gleicht. Die Augen von Lapis waren von einem leuchtenden Blau, passend zu ihrem Namen. Das ist die Kurzform …«
»… von Lapislazuli. Das weiß ich doch!« Anna stupste ihn dabei mit einer Hand an. Aedan ließ sich durch den Einwand nicht irritieren.
»Über den Anhänger erfuhr ich von deiner Großmutter Rätselhaftes. Eine derartige Form hatte ich bisher bei keinem Schmuckstück gesehen. Deshalb bat ich einen Juwelier um eine zusätzliche Bewertung. Der alte Mann deutete damals an, dass es ein verwunschenes Amulett sei, was ich als Versuch wertete, mir die Kette abzuschwatzen.«
Anna erinnert sich, wie ihr beim Anblick dieses Sternchens, denn der Anhänger hat lediglich die Größe von wenigen Zentimetern, ein angenehmes Kribbeln über den Rücken rieselte. Als sie es berührte, tauchten Bilder vor ihren Augen auf, die seltsam bekannt anmuteten. Sie wechselten allerdings sehr schnell und schienen in keinem Zusammenhang zueinander zu stehen. Sie blitzten spotartig auf und wurden von dem nächsten verdrängt. Anna versteht noch immer nicht, was ein riesiges Nest auf einem schroffen Berggrat mit einer düster wirkenden Burg, einer Szene aus einem Kampfgetümmel und ein bläuliches Ei, in dessen Schale sich zackige Risse zeigen, miteinander zu tun haben könnten. Eins steht aber unumstößlich fest, dies Erinnerungsstück an ihre Mutter will Anna nie mehr ablegen.