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RÜCKBLICK

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Es war ein stinknormaler Samstagvormittag Ende Juli, genau ein Monat nach meinem vierundzwanzigsten Geburtstag. Die Menschen um mich herum erledigten ihre Einkäufe für das Wochenende, führten den Hund Gassi oder schlenderten einfach so durch die Straßen der Münchener Innenstadt, ohne ein konkretes Ziel vor Augen. Gerne hätte ich mit einem von ihnen getauscht, bliebe mir dann doch der bevorstehende Vorstellungstermin erspart. Aber da musste ich jetzt wohl durch.

Der Himmel verdunkelte sich zusehends. Starker Wind kündigte ein Gewitter an und brachte unbarmherzig meine roten Locken durcheinander, wodurch sich auch der letzte Hauch einer Frisur in Luft auflöste. Von der seriösen Business-Frau im Zweiteiler, die herausgeputzt vor einer knappen halben Stunde ihre Wohnung verlassen hatte, war nicht mehr viel übrig. Vielmehr sah ich aus, als wäre ich eben erst nach einer durchzechten Nacht aus dem Bett gepurzelt. Scheiße! Dabei hatte ich mich gerade heute so ins Zeug gelegt, meine äußere Erscheinung auf Hochglanz zu polieren. Wer wollte schon den Eindruck erwecken, als könne er sich den Friseur nicht leisten? Was für ein Desaster! Stundenlanges Föhnen und tonnenweise Haarspray für die Katz! Und wofür das alles? Dass mein Erscheinungsbild dem einer wandelnden Vogelscheuche gleichkam. Na ja, Schwamm drüber! Das war nicht der Moment, sich darüber aufzuregen.

Gehetzt lief ich die Liebigstraße entlang, während ich angestrengt nach der richtigen Hausnummer suchte. Mist! Man erwartete mich um 11:00 Uhr, und ich war mal wieder spät dran. Wie schaffte ich es nur immer, mich zeitlich in die Bredouille zu bringen? Meine Haare waren die eine Sache, aber einen weiteren Patzer durfte ich mir einfach nicht erlauben, wenn ich die Stelle haben wollte. Und ich brauchte den Job mehr als dringend. Mein letzter Kontoauszug, ein Stapel voller Mahnungen und die wenig charmanten Worte meines Vermieters hatten mich unsanft darauf hingewiesen, dass bei Amazon zu bestellen nicht nur ein schönes, sondern auch teures Hobby war.

Darum bemüht, eine nahende Panikattacke zu unterdrücken, betete ich still darum, doch noch rechtzeitig da zu sein. Bitte, bitte, bitte! Als Beamten-Tochter von klein auf darauf getrimmt, dass Unpünktlichkeit ein Vergehen war, erinnerte ich mich noch gut daran, wie oft es wegen meines Zuspätkommens Ärger in der Familie gegeben hatte. Denn jemanden warten zu lassen, fiel für meinen Vater in die gleiche Kategorie wie Autodiebstahl, Urkundenfälschung oder die FDP zu wählen. Insofern beeilte ich mich, soweit mir das auf High Heels, mit Umhängetasche um die Schultern und einer DIN A1-großen Präsentationsmappe unterm Arm eben möglich war.

Hier war sie endlich: die Nummer 18! Da musste ich hin! Abrupt blieb ich stehen und starrte auf die Zahl. Meine Nerven flatterten wie ein eingesperrtes Vögelchen. Jetzt ganz ruhig, Norma!

Auf die Minute drückte ich mit zitternden Fingern die Klingel unterhalb des Plexiglas-Schilds mit der Aufschrift „K-Messe“ und hoffte angespannt, dass sich meine Atmung wieder normalisierte. Das Schild gehörte zu einem angesehenen, mittelständischen Unternehmen, einer Messebau-Firma, die sich auf Parfum- und Mode-Präsentationen spezialisiert hatte.

Der Summer öffnete mir automatisch. Mit der Hüfte drückte ich die massive Eichentür auf und fand mich in einem Treppenhaus mit rot ausgelegten Teppichen und Wänden aus weißem Marmor wieder. „Magnifique“, würde der Franzose sagen, im Lehel jedoch eher gehobener Standard und somit nicht außergewöhnlich.

Die kühle Temperatur des Altbaus kam meinen feuchten Achseln wie gerufen, und ich gönnte mir eine kurze Verschnaufpause. Dann postierte ich mich vor der richtigen Tür am Ende des Korridors und wartete. Schritte hallten zu mir heraus, und als man mir schließlich aufmachte, stand er vor mir: Eine Mischung aus Johnny Depp und Bruce Willis in jungen Jahren.

Mit einem derart gutaussehenden Mann hatte ich wahrhaftig nicht gerechnet. Mein Mund war mit einem Mal so trocken wie Schmirgelpapier. „Lass mich dich glücklich machen!“, lag mir auf der Zunge, und ich errötete unwillkürlich wie ein Teenager. Wir schauten uns an, und ich ging geistig bereits die Liste unserer Hochzeitsgäste durch, als seine Augen ausgerechnet an meinen Haaren hängen blieben. Oh nein!

Schnell strich ich mir eine Strähne aus dem Gesicht, und nach ein paar Schmatzgeräuschen lächelte ich gezwungen höflich: „Ja – ich will, äh..., grugh..., guten Tag, mein Name ist Norma Rank, wir haben einen Termin!“ Oh weh! Hatte ich das wirklich gesagt?

Musste er auch so außerirdisch umwerfend sein? Mein Scannerblick wertete schlagartig aus: markantes Kinn, dunkles Haar, Dreitagebart und vermutlich Mitte dreißig. Genau meine Kragenweite.

„Mark Engel, hallo, kommen Sie rein!“ Seine Stimme war freundlich und sanft, sie hatte einen rauchigen Unterton, der in mir eine Vielzahl biochemischer Mechanismen ankurbelte. Und hätte er mich genau auf diese Art gebeten, mich auszuziehen, stünde ich nun splitterfasernackt vor einem wildfremden Mann.

„Es tut mir leid, dass Sie sich am Wochenende hierher bemühen mussten, aber wir sind momentan sehr viel auf Montage und unter der Woche kaum im Büro“, klärte mich dieser atemberaubende Mann zuvorkommend und gleichermaßen ungefragt auf, während ich ihm nervös den Flur hinunter folgte wie ein tollpatschiger Welpe.

Wie sich herausstellte, besetzte er die Rolle des Abteilungsleiters für dreidimensionale Markeninszenierung im Haus, was bedeutet, dass sein Know-how über Entwurf, Planung und Realisation bis hin zum fertigen Messestand reichte. Kurz gesagt: Er war ein Genie (wenigstens in meinen verklärten Augen) und damit die rechte Hand der Firmenchefin.

Von seiner Größe überaus beeindruckt, ich schätzte ihn auf knapp zwei Meter, kam ich mir vor wie eine Ameise. Seinen wohlgeformten Hintern, der förmlich dazu einlud, eine Sünde zu begehen, im Fokus, fuhr ich mit meiner Musterung zwanghaft fort.

Dabei fielen mir unweigerlich seine extravaganten Schuhe aus Schlangenlederimitat auf, die mich beinahe ebenso begeisterten wie die etwas weiter oben sitzende Ray-Ban-Brille. (Ich dachte an die Lesebrille von Fielmann auf meinem Nachtkästchen und überschlug kurz die Kosten für ein Markengestell. Mit einem Rahmen dieser Güte würde ich meinem finanziellen Ruin ein gewaltiges Stück näherkommen.) Der Mann hatte definitiv Geschmack! War er etwa schwul? Oh nein, bitte nicht! Es wäre wirklich ein Verlust für die gesamte Frauenwelt!

Unter einer dunkelblauen Kapuzenjacke von Adidas blitzte ein schlichtes, graues T-Shirt hervor, dessen Aufdruck ich nicht erkennen konnte, und seine Jeans waren „used“. Gesamturteil: Lässig und doch perfekt aufeinander abgestimmt! Warum, um Himmelswillen, hatte ich anstelle des mausgrauen Kostüms nicht einen knappen Minirock mit Netzstrümpfen angezogen?

Was immer ich erwartet hatte, Mark Engel war nicht der typische Vorgesetzte, sondern vielmehr jemand, mit dem man sich gerne auf ein Glas Wein trifft, um anschließend seine Briefmarkensammlung gezeigt zu bekommen.

Wir gingen in sein Büro, in dem (oh Schreck!) ein kleines Mädchen saß und mich neugierig beäugte. Sie schien mit einem Modell gespielt zu haben, das auf dem Tisch stand und offenbar auf eine Präsentation wartete.

„Das ist Ramona, sie ist sieben Jahre alt und mein ganzer Stolz. Meine Frau liegt krank zu Hause, deshalb wird mir meine Tochter heute bei den Vorstellungsterminen helfen.“

So viel Information an dieser Stelle hätte es nicht gebraucht. Ein herber Schlag mitten ins Gesicht! Ein Klavier, das auf meinen Kopf knallte und in seine Einzelteile zersprang! Wenngleich ihn das als Hetero enttarnte, so hatte es sich dennoch ausgeträumt vom großen Glück und heißen Liebesnächten! Fuck! Da traf man einmal auf einen Kerl, der der Richtige hätte sein können, und dann so was! Wie naiv ich doch war! Klar, dass so ein Typ nicht frei herumrannte, da auch andere Frauen Augen im Kopf hatten und das Potenzial eines Mr. Right erkannten. Aber schön wäre es schon gewesen. So vergingen einige Sekunden, bis der Druck aus meinen Lungen entwich, ich die Kontrolle wiedererlangte und mich auf mein eigentliches Anliegen besinnen konnte: den Job!

Aufgeschlossen sorgte die Kleine mit ihrem Gequatsche zumindest für eine lockere Stimmung, und das konnte mir nur recht sein. Es half mir unter anderem, nicht ständig zu dem Foto auf dem Schreibtisch zu starren, das eine Frau zeigte, die locker ihr Geld als Fotomodell hätte verdienen können. Denn das Bild machte mir eines augenblicklich und unmissverständlich klar: Es gab sie tatsächlich, die berühmte Zwei-Klassen-Gesellschaft!

Ein Teil davon bestand aus eher gewöhnlichen Menschen wie mir, ganz süß, aber durchschnittlich, mit schnell fettender Haut, die ständig nachgepudert werden musste, dafür jedoch zu Pickeln neigte. Der andere Teil setzte sich aus Leuten zusammen, die ebenso elegant wie erhaben aus der faden Masse herausstachen und mit ihrem unvergleichlichen Lächeln den Tag erhellten, nach denen man sich umdrehte und die bisweilen sogar beim Zähneputzen graziös wirkten. Die Frau in dem silbernen Rahmen gehörte zweifelsohne zu der zweiten Gattung.

Na ja, sei's drum! Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Herr Engel einen Ehering trug, machte ich einen Haken unter den letzten Hoffnungsschimmer und stellte mich der bitteren Wahrheit: Für uns würde es keine gemeinsame Zukunft geben, egal wie versaut meine Fantasien auch sein mochten! Also packte ich meine Zeichnungen und Fotos von Architekturmodellen aus (ich war gelernte Technische Zeichnerin), richtete meine Aufmerksamkeit auf die üblichen Einstellungsfragen, erzählte ein bisschen über meine bisherigen Tätigkeiten und versuchte dabei fachlich möglichst professionell zu sein.

Im Anschluss zeigte mir Herr Engel noch die großzügigen Räumlichkeiten: Im vorderen Bereich befand sich der Kundenempfang, etwas weiter hinten die bereits flüchtig besehenen Büro- und Präsentationsräume. Alles sehr geschmackvoll und stilsicher, in hellen Farben gehalten, nicht überladen, sondern mit Mut zur freien Fläche.

Über den Hof im Rückgebäude erstreckte sich die Werkstatt, die das umsetzte, was vorab am Zeichenbrett oder am Computer entwickelt und in der Controlling-Abteilung verfeinert wurde. Das konnte man durchaus als eine Besonderheit bezeichnen, da branchenüblich die Produktionsstätten außer Haus eingekauft wurden und sich Partnerfirmen nannten. Aber ich hatte mich im Vorfeld ausreichend informiert und war deshalb nicht weiter überrascht. Schließlich hatte ich Gründe, weshalb ich mich speziell für diese Stelle interessierte.

Als wir uns nach einer knappen Stunde voneinander verabschiedeten, versprach mir der Grund für eine nahende Kreislaufschwäche, sich in den nächsten Tagen bei mir zu melden – wie auch immer die Entscheidung ausfallen würde. Ich bedankte mich manierlich für seine Zeit und machte mich mit Knien aus Gummi auf den Weg zu meinem kleinen Fiat 500, der drei Straßen weiter parkte, weil sich das Navi mal wieder vertan hatte.

Draußen donnerte es mittlerweile laut, und die Sonne war hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden. Das nahende Unwetter trieb mich zur Eile, und ich war froh, endlich im Auto zu sitzen.

Auf der Heimfahrt überlegte ich fieberhaft hin und her, wurde mir jedoch immer sicherer, dass ich in dieser Firma arbeiten wollte. Und das unabhängig davon, mit wem ich es dort zu tun hatte oder weil mir das Altbauviertel nahe des Englischen Gartens imponierte. Indem ich mir plausibel einredete, dass die Stelle für meinen Lebenslauf eine wichtige Station sei, ignorierte ich zugleich die ersten offenkundigen Anzeichen einer Katastrophe.

Wieder zuhause, ließ ich das Geschehene noch einmal Revue passieren. Wie meistens, wenn ich daheim war, lief der Fernseher. Irgendeine dieser belanglosen Gerichtssendungen wurde gerade zum ich weiß nicht wievielten Male wiederholt, sorgte aber nicht dafür, all die eben erlebten Eindrücke wieder zu vergessen. Die Begegnung mit diesem beeindruckenden Mann blieb gedanklich vordergründig. Nachdem mein Magen sich langsam bemerkbar machte und mich darauf hinwies, dass außer einem Kaffee noch ein Frühstück fällig gewesen wäre, ging ich in die Küche, um mir ein Brot zu schmieren. Ein kleiner Nachmittagssnack. Völlig in Gedanken vertieft, mischte ich mir eine Apfelschorle. Mit Essen und Getränk bewaffnet, setzte ich mich aufs Bett. Dort lümmelte ich immer dann herum, wenn ich mich zurückziehen wollte und mich selbst sortieren musste. Nach dem letzten Bissen zündete ich mir eine Zigarette an. Langsam inhalierte ich den Rauch, der meine Lungen füllte, aber nicht bis zu meinem Hirn vordrang. Ich stellte mir vor, Mark Engel würde hier neben mir sitzen, mich anlächeln, mir einen Brotkrümel vom rechten Mundwinkel wischen und sagen, dass er mich liebte. Wie cool wäre das denn? Aber was war nun richtig und was falsch? Denn obwohl ich mit reichlich Fantasie gesegnet war, schaffte ich es nicht auszuklammern, dass dieser Mann bereits vergeben war. Eine bittere Pille. Und dennoch wollte ich sie schlucken. Oder nein? Ich vermute, dass mir die Tragweite des Ganzen zu diesem Zeitpunkt in keiner Form bewusst war.

Ruhelos stand ich auf und ging ins Bad. Dort ließ ich mir eine heiße Wanne ein. Versunken im Schaum, kam ich langsam ein wenig runter. Der Duft von Lavendel und die Wärme taten mir gut. Entspannt lehnte ich mich zurück, ignorierte das Buch, das ich schon seit Langem zu Ende lesen wollte, und versuchte nicht weiter nachzudenken. Leider funktionierte das nicht im Entferntesten so wie geplant. Für und Wider abwägend, sinnierte ich darüber, ob dieser Job das Richtige für mich sein konnte. Der Job war einfach perfekt, eine wirkliche Chance, meinen Lebenslauf gehörig aufzupeppen und einen riesigen Schritt auf der Karriereleiter nach oben zu steigen. Doch ob ich mich in Mark Engels Gegenwart wohl jemals würde konzentrieren können? War es tatsächlich eine so gute Idee, mich dieser Herausforderung zu stellen? Meinem Herz das zuzumuten? All diese Fragen und die Erinnerungen an das heutige Gespräch versetzten mein Hirn in einen absoluten Ausnahmezustand. Ich musste es irgendwie schaffen, all diese Gedanken beiseite zu schieben.

Aber dennoch: Es gab einen Mark Engel. Und ich fühlte mich magisch von diesem Mann angezogen. Dass ich Gefahr lief, mich ernsthaft in ihn zu verlieben, verweigerte meine Denke. So nahm ich bewusst oder unbewusst den Kampf gegen meine eigenen Gefühle auf.

Hätte ich mehr auf meine Antennen geachtet und mich selbst ein kleines bisschen realistischer eingeschätzt, wäre ich vielleicht nicht so dumm gewesen. Möglicherweise hätte ich es dann sogar eher in Erwägung gezogen, mich zur Bäckergehilfin umschulen zu lassen. Selbstüberschätzend ging ich stattdessen davon aus, dass ich gerade nur einen kleinen Hormonschub verspürt hatte, den man leicht wieder in den Griff bekam.

Schlampe, Opfer, Schwein.

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