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BONGO BAR

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Um mein Leben nicht rein auf „K-Messe“ und Mark zu reduzieren, will ich ein bisschen aus meinem Privatleben erzählen und aus dem Nähkästchen plaudern. Ein Exfreund namens Tom probierte derzeit, mich immer wieder zu kontaktieren.

Die einstige On-Off-Beziehung zwischen uns lässt sich leicht in zwei Sätzen zusammenfassen: Er war – und ist es wohl immer noch – etwas jünger als ich, und vom Kopf her bei Weitem noch nicht so weit, wie ich stets geglaubt hatte. Der ewige Leonardo- DiCaprio-Typ, als dieser mit Titanic berühmt wurde – hübsch, aber von Alters wegen leider auch unbeständig! Drei Jahre lang machten wir in regelmäßigen Abständen miteinander Schluss und vertrugen uns dann in der Kiste wieder, nur um zu erkennen, dass es – bei allen Gefühlen – doch nicht funktionierte. So eine Art des Zusammenseins war gleichzeitig anstrengend und nervenaufreibend. Anders ausgedrückt: Es ging mir nicht sonderlich gut damit.

Wann immer ich mich emotional von Tom löste, spornte ihn das an, mich aufs Neue zu umwerben. So auch jetzt, als er merkte, dass ich mich in einen anderen Mann verknallt hatte. Keine Ahnung, ob es für ihn einen sportlichen Aspekt hatte, mich zu halten oder ob er mich wirklich liebte. Fakt war, dass wir längerfristig nicht miteinander konnten. Der Sex war durchaus passabel, und ich dachte lange Zeit, wir würden es schaffen, wurde aber systematisch eines Besseren belehrt. Jung und wild wie ein Fohlen wollte Tom das Leben ausschöpfen, während mir Verlässlichkeit und Geborgenheit fehlten. Jetzt aber fielen zwei Dinge aufeinander: Mark beschäftigte mich mehr, als er es hätte tun sollen, und Toms Ausdauer beeindruckte mich letztendlich dann doch. Kurzum: Wir hatten uns ewig nicht gesehen, und ich ließ mich zu einem Essen einladen.

Als wir uns eines Abends in einem Restaurant gegenüber saßen, wurden mir drei Dinge sofort klar: Irgendwie mochte ich ihn, wir passten nicht zusammen und: Tom wollte mit mir schlafen. Somit fiel das Dessert aus, und wir gingen stattdessen zu mir, da er noch bei Mama wohnte, um dort die Fleischeslust zu befriedigen – ein Schema, das ich zwar bereits kannte, aber was soll’s?

Erst machten wir es in der Dusche, das zweite Mal kullerten wir über den neuen Teppichboden, und am Schluss brachte mich Tom auf meinem französischen Bett zum wohlverdienten Höhepunkt. Wie sehr ich das vermisst hatte!

Auf angenehme Weise erschöpft, wurde mir klar, dass es durchaus von Vorteil war, wenn ein Kerl schon vorab wusste, was einem gefiel, und man nicht bei Null anfangen musste. Der Sex mit Tom war echt in Ordnung, treffsicher und rundherum eine höchst befriedigende Angelegenheit, was die körperliche Ebene betraf.

Fest stand natürlich, dass eine Beziehung mit ihm für mich trotzdem nicht mehr in Frage kam. Und daran war nicht Mark alleine Schuld! Mit Tom machte es schlichtweg wenig Sinn, über die Zukunft nachzudenken, auch wenn er immer wieder über Kinder sprach. Er lebte von heute auf morgen, was darüber hinausging, nervte ihn nur. Der Zerstreuung durch ihn stand ich dennoch offen gegenüber. Wie ein Kätzchen umgarnte er mich, und seine Vehemenz beweihräucherte mein Ego. Für den Augenblick erfüllte er somit seinen Zweck, ohne dass wir uns etwas schuldig blieben. Wir einigten uns auf ein sporadisches „Light-Verhältnis“, trafen uns, wann immer wir Lust aufeinander hatten, was auch Toms Vorstellungen entgegenkam, der ebenfalls nichts Festes wollte. Der Zeitfaktor wurde somit relativ gering gehalten und das Gegenüber nicht mit dem Seelenmüll des Anderen überladen.

Bisweilen fühlte ich mich durch Tom etwas weniger einsam, zumal wir im Punkt Erotik recht gut harmonierten. Zwar hatte ich grundsätzlich kein Problem mit dem Alleinsein, aber es gab doch Phasen, in denen ich mir vorkam, als säße ich auf der Strafbank. Gestritten haben wir natürlich nach wie vor, und häufig lag eine erhebliche Zeitspanne zwischen unseren Verabredungen, aber das störte nicht weiter. Genau genommen führte ich ein typisches Single-Dasein. Ich hatte jede Menge Zeit, die ich meist mit Freunden, aber auch manchmal mit einem Joint oder einer Flasche Wein zu Hause verbrachte. Beides füllte mich nicht zu hundert Prozent aus, hatte aber unbestritten einen gewissen Spaßfaktor. Und Mark gegenüber konnte ich – mit Tom im Rücken – zumindest so tun, als wäre ich „besetzt“!

Mittlerweile hatte ich mich mit meiner Kollegin Marion angefreundet, und sie entpuppte sich als grandiose Zuhörerin, was in meiner Gesellschaft durchaus von Vorteil sein konnte, ohne sich über das Gehörte in irgendeiner Weise kritisch zu äußern, und auch diesen Charakterzug schätzte ich sehr. Damit meine ich nicht, dass sie automatisch zu den „Jasager-Typen“ gehörte, sondern vielmehr eine extrem diplomatische Art hatte, an die Dinge heranzutreten.

Sie schaffte es, komplett wirre Geschichten, die aus mir herausgesprudelt kamen, in einem Satz zusammenzufassen und das sogar meist mit einem Lösungsvorschlag im Gepäck. Wenn ich mir ihr Alter vor Augen hielt, staunte ich jedes Mal nicht schlecht, dass sie erst zwanzig war. Der Unterschied von vier Jahren spielte kaum eine Rolle – im Gegenteil! Manchmal verblüffte es mich, ihren Rat so dringend zu brauchen.

Wir verbrachten relativ viel unserer Freizeit gemeinsam. Und da Marion etwas außerhalb wohnte, übernachtete sie an den Wochenenden gerne bei mir. Wir gingen in angesagte Diskotheken, hatten Spaß, tranken viel und nahmen gelegentlich Genussmittel zu uns, die unter dem Namen Partydrogen gehandelt wurden. Anfänglich störte mich die Häufigkeit, in der sie das Zeug nahm, da sie immer etwas einstecken hatte, merkte aber bald, dass sie mit mir weit weniger einschmiss als ohne mich. Nun, sie war kein Kind mehr und musste selber wissen, was sie tat, zumal sie Bevormundungen verabscheute. Dennoch behielt ich sie im Auge.

Die Freundschaft mit Marion tat mir auch in der Arbeit gut, denn dort wurde ich inzwischen ganz schön gemobbt. Die Kollegen glaubten, bei Mark hintenanzustehen, und nervten damit sowohl ihn als auch mich grenzenlos. Marion, die nur darauf wartete, ihr Praktikum bei „K-Messe“ abzuschließen, um dem verhassten Job endlich den Rücken kehren zu können, verstand meinen Unmut diesbezüglich bestens. Sie konnte die Leute dort pauschal nicht ausstehen und plante mal wieder einen beruflichen Wechsel – Journalismus sollte es dieses Mal werden.

Ich erzählte ihr relativ offen von der Sache mit Mark, soweit man das als „Sache“ bezeichnen konnte. Was ich allerdings für mich behielt, war die Info, wie tief ich bereits in dieser Gefühlsduselei steckte. Sie ging also davon aus, dass wir befreundet waren und die Anderen sich den Rest der Gerüchte schlichtweg nur zusammenreimten. Gerne hätte ich ihr mehr verraten, traute mich aber nicht. Es war so schon kompliziert genug. Denn: Je besser Mark und ich uns verstanden, desto eifersüchtiger wurde meine Abteilung, und in dem Zusammenhang nahmen auch die spitzen Bemerkungen mir gegenüber zu. Von daher zog ich mich immer mehr zurück, in der Hoffnung, mich auszublenden und den Jungs kein weiteres Futter zu liefern.

Der reizenden Gerlinde kam ich allerdings nicht so einfach aus. Seit der Messe hatte meine Antipathie ihr gegenüber deutlich zugenommen. Doch wie geht man seiner Chefin längerfristig aus dem Weg?

Privat schien sie – wie Mark erzählte – ganz in Ordnung zu sein, in der Firma zeigte sie sich im Gegensatz dazu als wahre Tyrannin. Denn hatte Frau Sackser einen schlechten Tag, wollte sie diesen grundsätzlich mit all ihren Angestellten teilen – frei nach dem Motto: „Geht’s mir schlecht, soll es euch auch schlecht gehen!“

Ihre Gefühlsausbrüche donnerten meist so unerwartet über einen herein, dass jeglicher Schutz zu spät kam. Vergleichbar mit dem Aprilwetter sahen wir meist nicht einmal, wie sich die Wolkendecke zusammenzog, es prasselte einfach los, und der Überraschungseffekt gehörte ihr.

Bildlich stellte ich mir das so vor: Jeder von uns bekam mit dem morgendlichen Aufwachen einen Gute-Laune-Ballon vom Leben geschenkt – ähnlich einem Luftballon. Dieser Ballon begleitete einen bis zum Abend, schwebte unsichtbar neben einem und brauchte höchste Achtsamkeit. Er war nur durch ein dünnes Schnürchen mit seinem ganz persönlichen Menschen verbunden, meist am Handgelenk befestigt, und würde dieses Band reißen, würde der Ballon davonfliegen. Gleichzeitig bestand immer die Gefahr, dass er platzte – weswegen man doppelt aufpassen musste. Es gab ja nur einen pro Tag.

Wir reden also von einem Geschenk, das wohlbehütet sein wollte. Wichtig dabei war außerdem, wenn man in der Früh, verschlafen und nichts Böses ahnend, in die Firma kam, zu vermeiden, Frau Sackser in die Arme zu laufen, denn diese betrat die Räumlichkeiten meistens bewaffnet bis unter die Hutkrempe.

Zu ihrem Handwerkszeug gehörten beispielsweise kleine spitze Steinchen und ein Strohhalm. Störte man ihre Kreise, benetzte sie erst ihre Lippen kurz mit der Zunge, bevor sie sorgsam das Röhrchen in den Mund nahm. Dann legte sie einen der Kiesel hinein und spuckte diesen mit voller Wucht in Richtung eines Ballons. Vorzugsweise natürlich von einer Person, die ihr gerade quer im Hals steckte.

Dabei konnte man in ihrem Gesicht weder Spaß am Spiel noch einen Funken Humor erkennen. Gerlindes Blick spiegelte eher eine aggressive Form von Besessenheit wider, wie man sie von einem Pitbull kennt. Sie wollte um jeden Preis die Ballons ihrer Angestellten zerstören, um mit ihrer schlechten Stimmung nicht alleine dazustehen.

Und jetzt raten Sie mal, wie hoch ihre Trefferquote war! Gerlinde traf zuverlässig jedes Mal, begleitet mit dem Satz: „Nehmen Sie es nicht persönlich!“. Einfach unglaublich! Wegrennen oder sich schützend vor das Heiligtum zu schmeißen, zählten zu den üblichen Gegenmaßnahmen – leider immer zu spät. Laut zerplatzte auch mein Ballon regelmäßig, und weg war sie, die gute Laune. Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen sah man erschüttert zu, wie die Gummireste langsam zu Boden segelten, dort geräuschlos landeten – reduziert auf ein Abfallprodukt.

Auch Mark fühlte sich von jenen Attacken zeitweise extrem genervt und ließ immer häufiger Kommentare wie „Lange mache ich das nicht mehr mit“ fallen. Allerdings muss man dabei – der Vollständigkeit halber – auch sagen, dass er sich beim Zusammentreffen mit Gerlinde häufig einfach äußerst ungeschickt anstellte. Nicht, dass er seinen Ballon ebenso gut hätte verstecken können, nein – Mark hielt ihn der Angreiferin mit ausgestreckten Armen bereitwillig unter die Nase. Frau Sacksers Jagdtrieb fühlte sich dadurch aber empfindlich gestört und wenig ernst genommen, was ermüdende Diskussionen nach sich zog. Und erst nach ausgedehnten Wortgefechten drehte sie sich im Gehen nochmals zu Mark herum und spuckte entspannt seinen Ballon kaputt. Allein bei ihm brachte sie dabei erstaunlicherweise sogar ein Lächeln zustande.

Marks Bemerkung, „K-Messe“ möglicherweise zu verlassen, trieb mir förmlich den Angstschweiß auf die Stirn. Bedeutete das, dass er vorhatte zu kündigen? In welchem Zeitrahmen? Und was wäre dann? Was sollte ich in der Firma ohne Mark? Auch wenn mein Tätigkeitsfeld unverändert bleiben würde, so blieben die Kollegen doch dieselben, und die Chefin blieb mir natürlich auch nicht automatisch erspart.

Ohne meinen „Superhelden“ Mark erschien mir der Job plötzlich gar nicht mehr attraktiv. Ohne ihn fühlte ich mich aufgeschmissen, und bei der Vorstellung, einen neuen Abteilungsleiter zu bekommen, wurde mir ganz schlecht. Mark war nicht so leicht zu ersetzen! Dazu gesellte sich natürlich auch die Panik, ihn überhaupt nicht mehr zu sehen, weder beruflich, noch privat. War das bereits das Ende?

Er musste mir angesehen haben, wie sehr mich dieses Thema mitnahm, da ich zeitnah eine E-Mail – mit dem Betreff „Wichtig“ – erhielt, die mich aufforderte, in sein Büro zu kommen. Als ich reinkam, stand Mark auf und ging auf mich zu. Mit seinem gütigsten Lächeln sah er mir in die Augen, strich wie beiläufig mit seinen Fingern über meine Wange und sagte ruhig: „Falls ich hier jemals weggehen sollte, nehme ich dich selbstverständlich mit!“

Ungläubig starrte ich ihn an. Hatte ich mich verhört? Jetzt war es so weit: Ab in die Klapse – eine ausgewachsene Halluzination musste behandelt werden! Der noch warme Veggieburger von McDonald’s in meinem Bauch fing massiv an zu rebellieren, und ich setzte mich auf den nächstgelegenen Stuhl.

„Wenn ich gehe, kommst du mit“ wiederholte er, da ihm aufgefallen sein musste, dass die Nachricht bei mir nicht ganz bis zum Stammhirn durchgedrungen zu sein schien.

Ich versuchte, Mark irgendwie mitzuteilen, dass ich verstanden hatte. Die Funktion zu sprechen versagte jedoch nach wie vor ihren Dienst. Mein Mund ging auf und wieder zu, heraus brachte ich nur eine Art Stöhnen. (Würde man ein Lebewesen dieser Erde auf einen fremden Planeten schicken, um die Intelligenz der Rasse zu repräsentieren, wäre ich sicher die erste Wahl!)

Mark erklärte, dass er zwar nicht wusste, wie lange seine Nerven noch ausreichend Potenzial dafür boten, sich kontinuierlich mit Frau Sackser auseinanderzusetzen, stellte aber klar, dass eine berufliche Veränderung momentan nicht anstand. Er arbeitete jetzt seit fast drei Jahren für die Firma und überlegte vielmehr, diese zu gegebener Zeit zu übernehmen.

Ob er es durchhielt oder es irgendwann leid sein würde, sich dauerhaft von Frau Sackser nerven zu lassen, wusste er allerdings auch nicht. Und sollte sie ihn mit ihrer giftigen Ader überstrapazieren, wäre ein Wechsel der Arbeitsstelle für ihn durchaus naheliegend und nichts, was ihm Sorgen bereitete. Würde dieser Umstand eintreten, sollte ich Mark begleiten. So viel dazu.

Aufschlussreich an dem Gespräch war die mir bisher unbekannte Information, dass „K-Messe“ für Mark nur einen seiner Kunden darstellte. Einige andere große Firmen wurden ebenfalls von ihm als „Freelancer“ betreut. Wurde ihm das Arbeitsvolumen zu viel, nahm er sich Hilfe aus einem Netzwerk an Kollegen, die aus der gleichen Branche kamen. Zusätzlich hin und wieder Jobs anzunehmen, galt in unserem Beruf nicht als Besonderheit, sondern gehörte zum guten Ton, wenn man nicht auf der Strecke bleiben wollte. Und einer Eingebung folgend, fragte ich Mark, ob er sich vorstellen könne, mich außerhalb der Firma ebenfalls mal einzusetzen.

„Warum nicht?“, kam prompt die Antwort, und auch er setzte sich.

Meine Begeisterung stieg ins Unermessliche, und als ich hörte, wie hoch der Stundenlohn lag, musste ich mich förmlich dazu zwingen, nicht völlig abzudrehen. Schuhe, Handtaschen oder vielleicht doch besser ein neuer Auspuff? Im Geiste gab ich die noch nicht verdiente Kohle bereits schwungvoll mit beiden Händen aus, überschlug kurzerhand ein paar Zahlen und hörte dabei die Kasse, die ansonsten weitestgehend an chronischer Leere litt, fröhlich klingeln. In meiner Euphorie bekam ich gerade noch mit, dass Mark mir von einem Projekt erzählte, das alsbald starten würde. Er hatte aufgrund des Arbeitsvolumens ohnehin überlegt, sich hierfür Unterstützung zu besorgen – da kam ihm meine Frage wie gerufen.

Dass es so schnell gehen würde, überraschte mich dann zwar doch, aber ich hatte selbstverständlich keine Einwände. Es ging um die Sanierung und den Ausbau eines Altenheims. Von einer Stiftung finanziert, sollte „Das Seniorensitz“ von Grund auf wieder auf Vordermann gebracht werden und in altem Glanz neu erstrahlen. Schon in meiner Bewerbungsmappe waren Mark die Entwurfszeichnungen meiner imaginären Sanitäranlagen positiv aufgefallen – ein Schwerpunktthema meiner Ausbildung, das mich immer schon begeistert hat.

Die Vorstellung, ihm bei einem seiner Jobs zur Hand zu gehen, reizte mich ungemein. Was für ein Wahnsinnskompliment und endlich eine Möglichkeit, mein Talent im Innenausbau unter Beweis zu stellen!

Ein paar Tage später ging es los. An einem regnerischen Freitag im Oktober, drei Wochen vor dem Familienurlaub der Engels, klingelte am frühen Nachmittag das Telefon auf meinem Schreibtisch. Als ich mich deprimiert meldete und Marks sonore Stimme erkannte, fiel mir wie üblich erst mal gar nichts mehr ein. Man muss mir allerdings zugutehalten, dass ich es mir diesmal nicht anmerken ließ. Was wollte er? Er war heute früher als sonst gegangen und musste gerade zu Hause angekommen sein.

„Hast du nach der Arbeit schon was vor?“, kam es ohne Einleitung aus dem wunderbaren Apparat. Wenn sie jenen Kasten nur für diesen einen besagten Anruf erfunden haben, hatte es sich schon gelohnt. Plötzlich in Feierlaune überlegte ich rasch, was mein Terminkalender heute noch für mich geplant hatte, und fragte parallel, um was es ging.

„Toilettenräume!“ Mark, der dem Geräusch zu urteilen gerade Kartoffelchips kaute, war kaum zu verstehen.

„Schwuletten-Träume?“, fragte ich deshalb blöd.

„Nein! T-o-i-l-e-t-t-e-n-r-ä-u-m-e!“ Ach du meine Güte, er meinte das Altersheim! Wie behämmert konnte man sein? Der Auftrag war also Anlass für seinen Anruf – so viel dazu. Hatte ich etwa geglaubt, dass Mark mich in die Oper einladen wollte?

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Helga Bescheid wusste – aus irgendeinem Grund war das wichtig für mich – sagte ich zu, und wir verabredeten uns für 18:30 Uhr in einer Pizzeria mit Blick auf die Isar.

Drei Stunden trennten mich noch von der Fahrt zu meinem neuen Nebenjob. Vorher heimzufahren war zeitlich nicht drin. Unruhig und nervös kramte ich in meiner Handtasche. Verzweifelt suchte ich dort mein Schminktäschchen – leider vergeblich. Dieses hielt ausgerechnet heute mit Nagellackentferner, Handcreme und der neuen Puderquaste auf dem Badregal in meiner Wohnung seinen Nachmittagsschlaf! Wie könnte es anders sein?

Normalerweise lag es immer zuverlässig in meiner Tasche, nur heute hatte ich es sinnigerweise vergessen. Aber gut, mit meinem natürlichen Look lag ich voll im Trend, von einigen Pickeln, die sich rot schimmernd auf meiner Backe versammelten, mal abgesehen. Jeans und T-Shirt halfen mir leider auch nicht aus der Klemme, sorgten jedoch dafür, dass man mich gewiss nicht mit einem It-Girl verwechseln würde. Mit anderen Worten: Ich fühlte mich saumäßig unwohl und war null vorbereitet auf das bevorstehende Treffen. Ginge ich jetzt auch noch auf meine Frisur näher ein, müsste ich weinen. Nur so viel: Von der Farbe mal abgesehen, kam ich mir wie „Lisa“ von den Simpsons vor.

Während ich mein Auto vor dem Italiener parkte, erspähte ich Mark bereits hinter der großen Fensterfront, vertieft in die Speisekarte. Als ich an den Tisch trat, erhob er sich höflich, während ich mich anstrengte, meine Nervosität abzuschütteln. Zwar waren wir keine Fremden mehr, doch ein Treffen unabhängig von „K-Messe“ war immer noch neu für mich.

Auch Mark wirkte unsicher und konnte mir kaum in die Augen sehen. Um peinliches Schweigen zu vermeiden, gab er mir daher die Karte und fingerte in seinem Aktenkoffer umständlich nach Papier und Bleistift. Wir bestellten bei einem jungen Kellner, empfanden dabei die Situation gleichermaßen exotisch und übten uns in Smalltalk. Nachdem wir uns dann ein paar Minuten unterhalten hatten, kehrte die alte Vertrautheit jedoch zurück und ich freute mich einfach nur noch, ihn zu sehen.

Die Getränke wurden serviert, woraufhin wir mit Apfelschorle und Spezi anstießen, als Mark bereits versuchte, das Thema auf die Arbeit zu lenken, was mich ein klein wenig enttäuschte. Andererseits war mir das auch wieder recht, denn so konnte ich zuhören, ohne dass jemand eine sinnvolle Antwort meinerseits erwartete.

Seinem Bericht zufolge plagte ihn anscheinend seit einigen Stunden ein heimtückischer Migräneanfall, der es bisher geschafft hatte, jeglichem Ansatz von zeichnerischer Kreativität entgegenzuwirken.

Trotz Kopfschmerzen versuchte Mark ganz offensichtlich, sich mir gegenüber möglichst unverbindlich auszudrücken, so gingen wir beide recht vorsichtig miteinander um. Ich ließ ihn erzählen und stocherte indessen konzentriert in meinem Salat herum, der mit seinen ungeschnittenen Riesenblättern eine Herausforderung darstellte. (Glücklicherweise war Mark derart in das Briefing vertieft, sodass ihm nicht auffiel, wie ich versuchte, den Sprühessig linkisch über das Grünzeug zu kippen! Woher, bitteschön, sollte ich wissen, dass man Essig neuerdings sprühen musste?) Mir hingegen fiel sehr wohl auf, dass er sich nichts zu essen bestellt hatte. Woran lag das?

Ich traute mich nicht, ihn zu fragen. Irgendwie schien mir dieser coole Typ heute verdächtig unlocker, was auf mich durchaus abfärbte. Selbst unsere Blicke trafen sich kaum, deshalb haute es mich beinahe um, als Mark ganz plötzlich seine Hand auf die meine legte und meinte: „Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist.“

Dies geschah ohne jeglichen Zusammenhang, was mich am allermeisten verwirrte. Schüchtern, als fürchtete er, geschimpft zu werden, wartete er meine Reaktion ab. Stille herrschte zwischen uns.

Bis gerade eben hatte ich die Tatsache, hergekommen zu sein, fast ein bisschen bereut. Unumstritten gehörte ich einfach nicht in diesen Rahmen und ebensowenig in seine Nähe. Ich bangte darum, Helga durch mein Dasein irgendwie den Respekt zu verweigern, den sie verdiente, kam mir außerdem töricht und dumm vor, mit ihrem Mann an einem Tisch in einem Lokal zu sitzen. Sollte nicht sie hier sein und Salat futtern? Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte! Aber woher der Gedanke? Machte ich mir etwa Sorgen?

Nun aber hockte ich Mark gegenüber, der mich erwartungsvoll ansah. Und um ein Lächeln bemüht, erwiderte ich: „Ich find’s auch toll, dass du diesen Job mit mir machen möchtest. Was genau soll ich tun?“

Fachlich auf gewohntes Gebiet zu stoßen, half mir enorm und verlieh meinem Gefühlswirrwarr wieder ein wenig Struktur. Er ging darauf ein, der Moment der Nähe war vorbei, und nach einer halben Stunde wusste ich genau, was ich zu tun hatte. Im Anschluss legten wir noch die Schwerpunkte der drei zu entwerfenden Badezimmer fest, die sowohl behindertengerecht, benutzerfreundlich, aber auch modern und einladend aussehen sollten.

Geistig schwebte mir bereits eine kleine Wellnessoase vor. Dazu zählten Duschen ohne Kabine, stattdessen mit Ablaufvorrichtungen im Boden, Sprudelbadewannen mit versteckten Treppchen zum besseren Einstieg und Haltegriffe aus Chrom, wo immer sie unterzubringen waren. Ich sah das Endprodukt schon genauestens vor mir: Die Kacheln in Pastelltönen, die dazugehörigen Handtücher und die älteren Herrschaften, die davon schwärmten, noch nie eine so luxuriöse Badelandschaft gesehen zu haben.

„Ach, übrigens“, riss Mark mich aus meinen Gedanken, „Helga und die Kleine kommen bald, Ramona bestand auf Spaghetti, als sie erfahren hat, dass ich dich bei unserem Stammitaliener treffe.“ Autsch! Die Landung war unsanft! Deshalb hatte er bisher also noch nichts essen wollen!

Jäh rutschte ich meinen Stuhl ein wenig vom Tisch weg, glotzte blass in Richtung Tür und nahm rasch einen großen Schluck von der Schorle. Hat hier jemand eine Flasche Schnaps und einen Trichter für mich? Oder noch besser: einen Vorhang, der unsichtbar macht?

Würde ich rechtzeitig aufwachen aus diesem Albtraum? Das konnte doch alles nicht wahr sein! Ich wusste nicht, ob ich einfach nur enttäuscht oder sauer sein sollte! Wie konnte mich Mark nur so in die Pfanne hauen? Noch dazu, wo ich keine Möglichkeit hatte, mein Aussehen noch etwas aufzupolieren. Das war wirklich unerhört! Schwach erinnerte ich mich an das vorangegangene Gespräch mit Mark, in dem er für eine kurze Frequenz Helga erwähnt hatte, doch darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Was war los mit mir? Weshalb brachte mich eine Begegnung mit ihr aus der Fassung? Woher kam mein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, wo doch nie etwas zwischen Mark und mir gelaufen war?

Aber es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Und auch die Idee, schnell zu verschwinden, starb in diesem Moment, denn Helga betrat just in diesem Augenblick mit Töchterchen Ramona den Raum und kam zu uns.

Sie sah tatsächlich aus wie ein Model bei einer Challenge – ein Begriff, den wir dank Heidi Klum nun endlich alle kennen. Man könnte aber auch sagen, dass sie den Schauspielerinnen aus den 60er-Jahren ähnelte. Vom Typ her würde ich auf eine „Ava Gardner“ tippen. Dementsprechend trug sie ihr glattes, beinahe schwarzes Haar, das offenbar frisch getönt war, zu einem eleganten Knoten hochgesteckt. Eine einzelne Strähne nur fiel ihr spielerisch ins Gesicht und bildete den Kontrast zu ihrem makellosen Teint. Der verführerische Ausdruck in ihren Katzenaugen und das bezaubernde Lächeln ließen vermuten, dass Helga sich ihrer Wirkung durchaus bewusst war und es sie sogar amüsierte. Das schicke und mit Sicherheit teure Kleid reichte ihr bis knapp über die Knie. Sie wäre bestimmt auch in einer Jogginghose eine Augenweide gewesen, aber auf dezente Weise in Schale geschmissen war sie einfach nur hinreißend.

Und auch wenn sie die Volljährigkeit doch um einige Jahre überschritten hatte, unterstrich gerade die vorhandene Reife ihre Attraktivität, und ich konnte verstehen, warum sie in ihrem Alter noch so gut im Geschäft war. Meine Überlegungen, sie beruhigen zu müssen oder ihr gar zu erklären, dass Mark und ich nichts weiter taten, als alten Menschen zur einer hübschen häuslichen Umgebung zu verhelfen, wirkten plötzlich ebenso lächerlich wie fehl am Platz. Sie musste keine Phobie pflegen, in der Annahme, dass ihr jemand ihren Gatten ausspannen könnte, denn ein Format wie sie würde kein Mann freiwillig hergeben, davon war ich mittlerweile überzeugter denn je.

Sie schien es zu genießen, dass sie die Blicke der Leute auf sich zog, was ihr einen selbstbewussten Ausdruck verlieh, ohne auch nur den Hauch von Überheblichkeit zu präsentieren. Mark hatte wirklich Geschmack. „Sie ist wunderschön“, dachte ich bewundernd und senkte verschämt meinen Blick. Das gab mir nun wirklich den Rest. Wie ich schon geschrieben habe, stand es mit meinem Selbstbewusstsein heute eh nicht gerade zum Besten, aber jetzt fühlte ich mich tatsächlich wie ein hässliches Entlein. Ich inspizierte also weiterhin den Fußboden, ganz nach dem Motto, wenn ich Helga nicht ansah, konnte sie mich auch nicht sehen – eine Theorie, die in der Praxis leider nicht funktionierte.

Mutter und Tochter näherten sich unabdingbar, und wie Kinder nun mal sind, fiel die Kleine direkt um den Hals ihres Vaters.

Aus die Zweisamkeit! Eine Ewigkeit später, so kam es mir zumindest vor, stand ich auf und gab der „Gardner“ mühsam lächelnd die Hand – Mark stellte uns vor. Auch Ramona und ich sagten brav „Hallo“, wir kannten uns ja bereits von meinem Vorstellungstermin. Die Begrüßung zwischen Helga und ihrem Mann verlief eher neutral, sodass mich ihre besorgte Erkundigung nach seinen Kopfschmerzen schon fast verwunderte.

Abschätzend musterte sie mich, ebenso argwöhnisch wie prüfend, von Kopf bis Fuß, schien aber keine wirkliche Gefahr in mir zu erkennen. Sie war bestimmt eineinhalb Köpfe größer als ich und damit für eine Frau sehr groß, was mich unweigerlich beeindruckte. Umgekehrt stellte ich offenbar keinen ernstzunehmenden Gegner dar. Ihre Begeisterung, mich kennen zu lernen, hielt sich allem Anschein nach in Grenzen, und mein Bemühen, einen nicht allzu schlechten Eindruck zu hinterlassen, fruchtete nicht. Unschlüssig stand sie kurz vor mir und betrachtete mich eingehend, dann setzte sie sich endlich und platzierte ihr Kind besitzergreifend neben sich.

Ob sie sich Fremden gegenüber generell so verhielt, konnte ich zwar nicht beurteilen, aber eines stand in jedem Fall fest: Meine Anwesenheit störte sie. Betroffen wurde mir klar, dass sie sich für mich nie erwärmen, geschweige denn den privaten Umgang mit Mark dulden würde. Weitere Gedanken mussten allerdings auf später verschoben werden, denn ich musste mich voll und ganz auf das Geschehen konzentrieren, um nicht am Ende noch vor lauter Anspannung an meinem eigenen Speichel zu ersticken.

Neugierig wollte Ramona haarklein wissen, woran Papa gerade arbeitete, und berichtete stolz davon, wie sie in der Schule eine Puppe gebastelt hatte.

Mit anderen Worten, es erwies sich als äußerst schwierig, sich weiterhin mit Erwachsenen-Dingen auseinanderzusetzen. Was sollte ich nun tun? Um mich etwas zu sammeln, stand ich auf und ging zur Toilette. So wurde dem Problem zwar keine Abhilfe geschaffen, doch der Ausdruck, sich zu „erleichtern“, musste ja irgendwo herkommen, und des Versuchs war’s wert. Nach meiner Rückkehr kam ich mir allerdings noch um ein Vielfaches blöder vor. Die Engels saßen beisammen, als wären sie Teil eines Werbespots für das Magazin „Familie & Co.“. Hier hatte ich schlichtweg nichts verloren, daher bat ich den Kellner kurzentschlossen um die Rechnung. Die Lust zum Bleiben war mir ohnehin vergangen, und ich betonte übertrieben, dass mein Freund Tom mich seit einer Stunde dringend erwartete. Mark – der anscheinend keine Ahnung hatte, wie er sich verhalten sollte – packte mir verklemmt die nötigen Unterlagen zusammen. Ich zahlte selbst für Speise und Getränk und sah nach einer kurzen Verabschiedung zu, dass ich Land gewann.

Während ich mein künstlich hochgeschraubtes Lächeln in Richtung Auto trug, in dem Bewusstsein, dass man mich durch die Scheibe des Lokals sehen konnte, fing ich innerlich an zu kochen. Und dieses Mal lag es nicht daran, dass ich Mark anziehend fand, sondern mich über ihn ärgerte.

Je mehr ich über das Treffen nachdachte, desto wütender wurde ich auf den Mann, der es initiiert hatte, aber auch auf mich selbst. Er hätte mich vorab warnen können. Und ich hätte genauer nachfragen müssen, was mich erwarten würde. Von meiner Naivität peinlich berührt, stieg ich in meinen Wagen und fuhr los, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Da aber – objektiv betrachtet – gar nichts „Schlimmes“ passiert war, konnte ich Mark kaum einen Vorwurf machen, ohne mein Interesse an ihm zu verraten. Oder hätte ich beichten sollen, wie überaus wohl ich mich normalerweise in seiner Gesellschaft fühlte? Dass mir eigentlich nur noch ein paar Kerzen am Tisch und der anschließende Abstecher in meine Wohnung gefehlt hätten? Wohl kaum! Ausgeschlossen!

Ich erkannte, wie sehr mich das Umfeld bei „K-Messe“ schützte, wie es Mark und mich vor gefährlicher Zweisamkeit bewahrte. Aber warum hatte er mich heute seiner Familie vorgeführt? Wollte auch er eine Barriere schaffen? Spürte auch er die Gefahr?

Wie galt es sich jetzt zu verhalten? Kontakt mit einem verheirateten Mann bedeutete nun mal, dass unser Geschlecht bei einem kollegialen, freundschaftlichen Umgang keine Rolle spielen durfte.

Während ich noch vor mich hin sinnierte, tauchte – wie aus dem Nichts – ein völlig neuer Gedanke auf: Mark hatte mich um Hilfe gebeten, da ihm die Arbeit alleine zu viel wurde. Das konnte nur heißen, dass zu wenig Raum für sein Privatleben übrigblieb und er in mir eine Lösung für dieses Problem sah. War ich vielleicht einfach nur praktisch?

Konnte es sein, dass ich mich geirrt hatte, was das Knistern zwischen uns betraf? Sah Mark vielleicht nur den Vorteil in mir, nützlich zu sein? Würde mir im nächsten Schritt angeboten werden, den Babysitter für Ramona zu spielen, damit Helga und Mark mehr Zeit füreinander hatten, um mal wieder auszugehen?

Mir schwirrte der Kopf! Wie einfältig von mir zu glauben, dass ich Mark etwas bedeuten könnte! Litt ich etwa an Größenwahn? Schließlich hatte ich gerade eben erst gesehen, wie perfekt das Gefüge Engel in der Praxis funktionierte. Aber gut – ich würde meine Gefühle schon dazu bekommen, sich wieder zu beruhigen und die Dinge stattdessen geschäftlicher sehen. Alles andere machte ja eh keinen Sinn. Und wenn es meine Rolle war, dem Ehepaar gemeinsame Zeit zu schenken, dann sollte das eben so sein! Meine ausgeprägte soziale Ader würde schon damit zurechtkommen! Und ich hatte ja immer noch Tom.

Dieser wartete allerdings an jenem Abend nicht auf mich. Ich hatte gelogen, in dem Glauben, mich dadurch besser zu fühlen, was mir aber nicht gelingen wollte. Ein fader Nachgeschmack blieb, ebenso wie die bittere Erkenntnis, dass die Liaison mit Tom mich nicht ausfüllte.

Zu Hause angekommen, machte ich schnurstracks meinen Computer an. Die Arbeit würde mich ablenken, und der Abend war noch jung. Ich hatte keine Lust zu grübeln, deshalb öffnete ich eine Flasche Wein und gab mir redlich Mühe, mein Augenmerk auf die zu konzipierenden Bäder zu richten. Mein Auftrag war es, das vorhin Besprochene in Form einer ausgereiften Zeichnung so umzusetzen, dass der Auftraggeber eine Grundlage für seinen Finanzierungsantrag bei der Bank bekam. Kein Kredit – kein Projekt! Also ran an den Speck! Ich hatte Mark zugesagt, ihm im Laufe des nächsten Tages die Renderings per Mail zu schicken, und dem würde ich auch Folge leisten! Hier hatten Befindlichkeiten nichts verloren – Bier ist Bier, und Geld ist Geld!

Um den Termin einhalten zu können, musste ich mich zwar ganz schön anstrengen, aber Anreiz war nun nicht mehr Mark alleine, sondern auch seine Frau, der ich beweisen wollte, wie rentabel meine geschäftliche Verbindung mit ihrem Mann für sie sein konnte. So saß ich bis in die frühen Morgenstunden vor der Kiste. Es wurde gerade hell, als ich mich hinlegte, um wenigstens noch ein bisschen zu schlafen. Ich war fix und fertig, aber stolz auf das Ergebnis.

Um die Mittagszeit befand ich mich noch immer in der Tiefschlafphase, als mich das Telefon unbarmherzig aus meinen Träumen riss. Übermüdet nahm ich das Gespräch entgegen und staunte nicht schlecht, wer sich am anderen Ende der Leitung befand. Es war Mark!

„Was kann ich für dich tun?“ Ganz so patzig, wie ich rüberkam, hätte es nicht klingen sollen, aber ich war zu kaputt fürs Theaterspielen.

„Die Band spielt heute, und ich möchte dich zu dem Konzert einladen!“ Sollte ihm mein Unmut aufgefallen sein, ließ er sich zumindest nichts weiter anmerken. Ich schwieg.

„Du könntest mir die Entwürfe einfach dorthin mitbringen!“ Aha, daher wehte der Wind. Auch wenn ich nach wie vor kaum aus den Augen gucken konnte, kehrten Wut und Scham schnell zurück.

„Lass stecken, ich schick dir die Sachen in Kürze per Mail zu!“ Noch einmal würde ich mich nicht zum Deppen machen.

„Hör mal, wegen gestern“, setzte Mark zu einer Erklärung an.

Ich unterbrach ihn: „Mit gestern ist alles in Ordnung, ich vergebe so kurzfristig nur keine Termine!“ Nicht scharf, aber dennoch würzig platzte ich mit meiner Ansage heraus. Und wäre ich etwas wacher gewesen, hätte sie sicher souveräner geklungen, aktuell aber legte ich keinen großen Wert auf Etikette.

„Oh, entschuldige! Du bist nicht allein, gell?“ Was meinte er? Ah, Tom. Meine Schwindelei.

„Und wenn schon!“ Ich konnte nicht anders, als ihn in dem Glauben zu lassen. Zumindest verlangte es nicht nach einer Aufklärung.

„Hör mal“, seine Stimme klang mit einem Mal sehr sanft, „ich muss mich bei dir entschuldigen. Natürlich hätte ich dich viel früher informieren müssen, dass meine Familie ebenfalls vorhatte zu kommen, und es tut mir sehr leid, dass ich dich ins kalte Wasser geschmissen habe! Das meine ich ehrlich! Aber Ramona war einfach nicht davon abzubringen und ich fürchtete, dass du nicht kommen würdest, wenn die zwei mit dabei sind!“ Das stimmte wohl!

Noch immer sagte ich nichts. Was sollte ich darauf auch erwidern?

„Ich wollte dich einfach gerne sehen, anders kann ich das nicht erklären! Auch bei der Geschichte mit dem Job ging es nicht in erster Linie um deine Hilfe, sondern darum, dass wir zusammenarbeiten würden! Abgesehen davon habe ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Du hast nie erzählt, dass du einen Freund hast!“ Ungelenk verstummte er.

„Warum?“ Mein neues Lieblingswort in Zusammenhang mit Mark.

„Weil ich dich gerne mag. Weil es mich stört, mir dich mit einem anderen Mann vorzustellen. Und weil ich mich sehr darüber freuen würde, wenn du heute kommst. Nach uns tritt noch eine andere Band auf, die ich mir gerne mit dir anschauen würde.“ Ich zwickte mich in die Backe, um zu überprüfen, ob ich auch tatsächlich wach war.

„Ob das deine Frau auch freuen würde? Ich möchte sie wirklich nicht überstrapazieren!“ Und das meinte ich vollkommen ernst!

„Keine Sorge, die ist mit Ramona auf irgendeinem Kinder-Casting. Sie plant neuerdings, auch noch unsere Kleine in diese Fashion-Maschinerie hineinzuziehen. Ich habe versucht, ihr das auszureden, allerdings ohne Erfolg.“ Er klang nachdenklich und aufrichtig geknickt. „Bitte, gib dir einen Ruck! Lass uns was zusammen trinken und Musik hören, unter Freunden, ich zahle auch!“ Als ob es aufs Zahlen ankäme!

„Mark, ich hab meiner Mutter versprochen, sie heute zu besuchen!“ Mein letzter Versuch, aber selbst darauf ließ er sich nicht ein.

„Wie lange bist du dort? Dann kommst du halt später. Mensch – wenn ich schon mal Zeit habe ...“

Was sagt man dazu? „Nein“ wäre wohl die einzig richtige Antwort! Aber das schaffte ich nicht. Die Empörung, die ich noch vor wenigen Minuten verspürt hatte, war wie weggefegt. Immerhin ließ ich mich nicht dazu verleiten, die Sache mit Tom aufzuklären. Sollte er doch glauben, was er wollte.

„Okay, wir telefonieren einfach, und wenn’s nicht zu spät ist, dann schaue ich mir zumindest die Kapelle nach euch noch mit dir an. Aber versprechen kann ich’s nicht!“ Eine weitere Dosis von Mark am Schlagzeug war einfach zu gefährlich und würde meine Selbstbeherrschung nur drastisch überstrapazieren! Aber was passierte da eigentlich mit uns? Woher kam der stete Wunsch, sich zu verabreden? Und dann seine merkwürdige Anspielung darüber, dass ihn mein Kontakt zu anderen Männern störte? Dass eine Freundschaft in dieser Konstellation nicht möglich sein würde, war streng genommen klar wie Kloßbrühe. Aber seine unverhohlene Erleichterung über meine Zusage räumte jegliche Bedenken beiseite, legte mein Hirn lahm und führte einzig und allein dazu, dass ich mir gedanklich bereits Wickler ins Haar drehte. Welch Irrsinn!

Nachdem ich wusste, wo das Geschehen stattfinden würde, legte ich den Hörer auf und schlief eine weitere Runde.

Noch in meinen Träumen gefangen, wanderten meine Gedanken bereits zum Kleiderschrank, krochen hinein und durchsuchten ihn nach etwas Passendem für den Abend. Und auch nach dem Erwachen half alles Bemühen nichts, ich freute mich auf Mark – nicht als Kollegen, nicht als Freund, sondern als Kerl, den ich gut fand. Gab es denn gar kein Gegenmittel, wie ich das hätte unterbinden können?

Am liebsten wäre ich einfach liegen geblieben. (Wirklich?) Aber ich schleppte mich ins Bad und versuchte mühsam, während ich unter der Dusche stand, meine Gedanken zu ordnen. Glücklicherweise gab es noch viel zu tun, sodass ich kaum merkte, wie die Zeit verging. Und als ich endlich die zweite Variante für das Seniorenheim fertig hatte, blieb mir bereits nicht mehr viel Zeit. Ich druckte die Entwürfe aus, schlüpfte hastig in ein beiges, äußerst kurzes Kleid und schminkte mich.

Bei der Wahl des Schuhwerks zögerte ich erst, entschied mich dann aber doch dafür, mutig zu sein, und zog meine „Schlampenstiefel“ an. Diesen Namen hat meine Mom dem Schuhwerk verliehen. Sie waren braun, reichten bis zum Knie und hatten einen zehn Zentimeter hohen Absatz. Zugegebenermaßen entsprach dieses Outfit nicht unbedingt einem geschäftlichen Anlass, aber ich fühlte mich ganz wohl damit. Schnell packte ich meine sieben Sachen zusammen und düste los.

Um 19:30 Uhr traf ich bei meiner Mutter ein. Sie begrüßte mich herzlich, trat dann einen Schritt zurück und fragte belustigt: „Was machst denn du heute noch, oder hast du dich etwa für mich so in Schale geworfen?“ Warum nur durchschauen Mütter immer alles sofort?

Errötend erzählte ich ihr von Marks Bitte, mich später zu sehen. Das Stirnrunzeln und ihr besorgter Blick verrieten mir sofort, wie skeptisch sie der Sache gegenüber stand. „Und? Wirst du hingehen?“

„Warten wir erst mal ab, ob er sich überhaupt meldet“, versuchte ich auszuweichen. Insgeheim plante ich sehr wohl, ihn vorher anrufen zu lassen und nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn einfach hirnlos draufloszudüsen. Dem Alter eines Groupies war ich dann doch schon etliche Jahre entwachsen. Und egal, ob Chef oder wegen seiner Ehe strengstens verboten, im Grunde genommen sollte jeder Mann sich bis zu einem gewissen Grad ins Zeug legen, wenn es um ein Treffen mit einer Frau ging.

Gütig nickte meine Mom mit dem Kopf und stellte abgeklärt fest: „Du wirst also hingehen.“ Seufzend bot sie mir etwas zu trinken an.

Im Gegensatz zu mir legte meine Mutter eine Gelassenheit an den Tag, um die ich sie nur beneiden konnte. Während ich nervös, immer wieder auf die Uhr blickend, hin und her rutschte, konfrontierte sie mich vorsichtig mit den möglichen Konsequenzen meines Handelns. Als „Außenstehende“ betrachtete sie die Situation weit klarer und umfassender als ich. Und ihrer Ansicht nach gab es durchaus begründeten Anlass zur Sorge, dass Marks Zuneigung für mich bereits über eine geschäftliche Verbindung hinausreichte. Daher riet sie mir dringend, darüber nachzudenken, wie es um meine Gefühle für diesen Mann bestellt war. Sie hielt mich an, seine Familie bei meinen Überlegungen nicht zu vergessen und mich daran zu erinnern, wie wir vor Jahren von meinem Vater verlassen worden sind. (Wie könnte ich das je vergessen!)

Jemand anderen hätte ich wahrscheinlich darum gebeten, mir nicht das Ohr abzukauen, sich nicht in meine Angelegenheiten einzumischen oder einfach seinen Mund nicht zu voll zu nehmen. Bei meiner Mutter aber tat ich das freilich nicht. Sie kannte mich weit besser als sonst ein Mensch auf der Welt, und ihre Lebenserfahrung würde ich nie untergraben. Neben der üblichen Mutter-Tochter-Beziehung verband uns seit Jahren eine enge Freundschaft, in der es keine Geheimnisse gab. Und als zweifach geschiedene Frau zählte sie unbedingt zu meinen wichtigsten Beratern in „Herzensangelegenheiten“.

Das Gespräch mit dem Verweis auf meine eigene Vergangenheit wühlte mich ganz schön auf. Zwar stufte ich die Sichtweise meiner Ratgeberin im Moment noch als stark übertrieben ein, erkannte aber durchaus, was die Message dahinter war. Ich musste wirklich aufpassen und mir eingestehen, dass mein Verhalten Einfluss hatte auf alles, was passiert.

Wie aber zog man in so einem Fall die Notbremse? Durch eine Kündigung? Durch Kontaktentzug? Und wo befand sich der Aus-Knopf für meine Gefühle? Oder machte ich mich nicht vielmehr lächerlich bei der Unterstellung, dass Mark überhaupt mehr für mich empfinden könnte? Zum momentanen Zeitpunkt erschien mir diese Idee nicht nur anmaßend, sondern regelrecht egozentrisch.

Das Liebenswerte an meiner Mutter war, dass sie unschlagbare Tipps gab, solange es nicht sie selbst betraf. Wenn man sie aber auf ihre aktuelle, höchst komplizierte Affäre ansprach, versank sie von jetzt auf gleich im Chaos. Wie sich herausstellte, wartete sie ebenfalls auf einen Anruf. So saßen wir wie zwei Teenager zusammen auf der Couch, jede ein Telefon neben sich, und lachten über unser filmreifes Verhalten.

Gegen elf rechnete ich nicht mehr damit, noch etwas von Mark zu hören, und erhob mich enttäuscht, um langsam den Heimweg anzutreten. Meine Mutter, deren Telefonat bereits stattgefunden hatte, wollte mich gerade damit trösten, dass es so bestimmt besser sei, als mein Handy klingelte. Und allen Vorsätzen zum Trotz jubelte ich innerlich, als hätte ich im Lotto gewonnen. Der Auftritt der „Cultures“ hatte offenbar länger gedauert als erwartet, nun aber wartete der Mann, der mich zum Schwitzen brachte, in der „Bongo Bar“ auf mich.

Meinen schwächlichen Einwand „Es ist doch schon so spät“ überhörte Mark geflissentlich. Dagegen betonte er mit seiner ebenso rauchigen wie sexy Stimme aufs Neue, wie sehr mein Kommen ihn freuen würde. Doch nicht der Inhalt, sondern der Klang seiner Worte veranlasste mich letztendlich zu versprechen, in zwanzig Minuten da zu sein.

Meine Mutter, die erkannte, wie machtlos ich in dieser Situation war, verabschiedete sich liebevoll und wünschte mir viel Spaß. „Aber versprich mir bitte, dass du auf dich aufpassen wirst!“, rief sie mir im Treppenhaus besorgt nach, aber ich hatte die Ohren bereits zugeklappt.

Als ich aus dem Auto stieg, hatte ich vor lauter Aufregung triefend nasse Hände, weswegen ein kurzer Achselcheck vonnöten war, der die Qualität meines Deos aufs Neue unter Beweis stellte. (Die fünfzehn Euro hatten sich echt gelohnt!)

Auf staksigen Beinen lief ich zittrig in Richtung „Bongo Bar“. Voller Vorfreude lauerte ich wie vereinbart im Eingangsbereich auf Mark. Das Warten kam mir endlos lange vor, zumal mein Outfit nicht gerade dafür bestimmt war, nachts alleine vor einer Bar zu stehen. Vor allem dann nicht, wenn man lästige Fragen vermeiden wollte, die darauf abzielten, ob man käuflich zu erwerben sei! Ungeduldig versuchte ich deshalb, meine Verabredung auf dem Handy zu erreichen, doch das war anscheinend ausgeschaltet – „temporary not available“. Hatte Mark mich etwa vergessen? Und weil wir schon dabei sind: Was tat ich überhaupt hier?

In die Überlegung vertieft, den Rückzug anzutreten, fuhr ich erschrocken zusammen, als mir jemand von hinten die Augen zuhielt.

Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter mir stand – ich konnte ihn riechen! Eine Tatsache, die mich zutiefst erschütterte! Nicht nur, dass ich Mark sprichwörtlich gut riechen konnte, nein – ich erkannte seinen Geruch sogar, wenn ich ihn gar nicht sah!

Kaum hatte ich seine Hände von meinem Gesicht entfernt, wich ich prompt einen Schritt zurück, um den leckeren Duft seines Rasierwassers wieder aus der Nase zu kriegen. Und da stand er! Erschöpft von seinem Auftritt, mit einem Handtuch um den Hals und dem nettesten Lächeln, das ich je gesehen hatte, im Gesicht, empfing Mark mich mit den Worten: „Wie schön, dass du da bist!“ Und in diesem Augenblick erhellte sich das Dunkel der Nacht.

„Wollen wir reingehen?“, fragte ich verlegen grinsend.

„Klar! Aber drinnen ist es sehr laut, daher muss ich dir hier draußen noch dringend etwas sagen“, eine kurze Pause folgte, „du siehst wirklich außergewöhnlich hübsch aus heute Abend!“ Natürlich hatte ich gehofft, ihm zu gefallen, aber dieses Kompliment war zu schön, um wahr zu sein! Um abzulenken, gab ich Mark rasch die Ausdrucke der Bäder, die er irgendwo in der Vielfalt seiner Klamotten unterbrachte, und zog ihn am Arm hinter mir her, am Türsteher vorbei, in Richtung Kasse.

Da ich zwei Jahre in dieser Location gekellnert hatte, kannte ich dort beinahe jeden. Ob Kassiererin, Garderobenfrau, Barkeeper oder Geschäftsführer, sie freuten sich alle über ein Wiedersehen. Ich wurde hochgehoben, herumgewirbelt und geküsst, bis man mich Luft holen ließ und mir etwas zu trinken spendierte. Das war natürlich ein cooler Auftritt meinerseits, obwohl ich das inhaltslose Getue im Nachtleben normalerweise grenzenlos oberflächlich fand!

Mark, der mich eigentlich auf ein Getränk einladen wollte, konnte mit alldem nicht viel anfangen. Verunsichert stand er hinter mir und schien einfach nur zu hoffen, dass es bald vorbeiging.

„Wie wenig ich doch von dir weiß! Du steckst wirklich voller Überraschungen, das ist mir gestern schon aufgefallen!“ Nachdenklich sah er mich dabei an. Da ich aber weder vorhatte, ihm hier und jetzt mein Leben haarklein zu erzählen, noch auf Tom näher einzugehen, ignorierte ich die Doppeldeutigkeit seiner Worte.

„Tja, so ist das wohl!“, antwortete ich aus diesem Grund nur knapp, und Mark merkte, dass er sich für den Moment zufriedengeben musste.

„Wollen wir weitergehen?“ Er hatte verstanden und forderte mich mit seiner Frage subtil dazu auf, wenigstens der Begrüßungszeremonie ein Ende zu bereiten, die merklich seinen Unmut weckte. Ich nickte, und wir betraten den Saal, in dem die „Commanders“ bereits die Bühne rockten.

Hunderte von Menschen wuselten angeschickert, aber gut drauf um uns herum. Und weil die Band so laut spielte, dass eine Unterhaltung kaum möglich war, standen wir nur eng nebeneinander und lauschten der Musik. Irgendwann beugte sich Mark zu mir herunter und brüllte mir ins Ohr: „Schau mal, da ist Sanchos!“

Das fehlte mir gerade noch! Doch dieser grüßte nur freundlich aus ein paar Metern Entfernung und kümmerte sich nicht weiter um uns. Sehr gut. Aus den Lautsprechern dröhnte der Bass der Musiker so laut, dass mein Brustbein alarmierend vibrierte, und doch kann ich mich bis heute nicht daran erinnern, ob mir die Band gefallen hatte. Was ich noch vor mir sehe, als wäre es gestern gewesen, ist Mark. Erhaben ragte er zwischen all den Menschen heraus, genoss den Sound und wandte sich mit erhobenem Kinn der Bühne zu. Dieses Bild werde ich nie vergessen und auch nicht, wie mein Körper darauf reagierte.

Nach den Zugaben leerte sich der Saal, und auch ich wollte mich verabschieden. Darauf reagierte Mark jedoch unverzüglich und lud mich schnell nach nebenan in ein Restaurant zum Essen ein. (Wieder ein Italiener!) Genau wie ich wurde auch Sanchos attackiert, der bisher brav Abstand gehalten hatte. Beide ergaben wir uns und zogen gemeinsam los. Im Lokal bot Mark mir den Platz zu seiner Rechten an, Sanchos setzte sich uns gegenüber. Wir bestellten Wein, und ich ließ mich von Mark zu einer gemeinsamen Spinatpizza XXL überreden.

Sanchos schien die Situation anfangs ebenso peinlich zu sein wie mir: Die Verkuppelungsaktion hatten wir beide nicht vergessen. Aber nach und nach lockerte sich die Stimmung, bis wir albern miteinander flachsten. Mark schien indessen mit seinem Abend rundherum zufrieden zu sein. Er grinste ununterbrochen vor sich hin, und als ich ihn fragend ansah, flüsterte er leise: „Siehst du, nun essen wir doch noch gemeinsam, und wir haben sogar einen Anstands-Wau-Wau dabei – so kann gar nichts passieren!“ Das war also der Grund für sein Drängen in Sanchos Richtung, uns zu begleiten.

Während ich noch über das eben Gehörte nachdachte, brachte uns die Bedienung unsere Pizza, und auch ich freute mich darüber, hier zu sein. Auch der Lärmpegel des überfüllten Restaurants störte mich nicht. Ich saß hier mit Mark, genoss seine Gegenwart und spürte instinktiv, dass er es genauso empfand. Wir sprachen kurz über meine Entwürfe, die ihn begeisterten, und gaben uns die Hand darauf, künftig mehr Projekte gemeinsam zu stemmen.

Aber alles Schöne ist irgendwann vorbei, und gegen drei Uhr nachts beschlossen wir, die Zelte abzubrechen. Daher gab Mark dem Servicepersonal ein Zeichen, dass wir zahlen wollten. Im selben Moment tauchte eine alte Bekannte von mir wie aus dem Nichts auf und trat ungeniert an unseren Tisch heran. Oh weh!

Ich kannte Maxi von meinen vielen Jobs im Nachtleben. Sie erinnerte mich an zu viel Alkohol, Drogen und wenig Schlaf. Ihr kurzes, platinblondes Haar ragte igelförmig gen Himmel, und ihre Augen verschwanden hinter einer Maske von zu viel Make-up, während die Größe der Pupillen den Grund ihrer guten Laune verriet.

„Hey Norma“, trällerte sie in meine Richtung, ohne zu bemerken, wie überzogen ihr Auftritt war. Ich stand auf und wollte ihr die Hand geben, aber Maxi fiel mir stattdessen frivol um den Hals. Ihr billiges Parfum haute mich dabei schier um. Nicht nur Mark und Sanchos, sondern auch die Gäste der Nachbartische, verfolgten interessiert das Geschehen.

„Hi, lange nicht gesehen!“ Ich betonte das Wort „lange“, sprach es laut und deutlich aus.

„Ja, gell!“ Ohne jeglichen Sinn für Taktgefühl quetschte sich Maxi auf meinen Schoß. Inbrünstig hoffte ich darauf, dass sie mich wenigstens mit der Frage nach irgendwelchen Männern verschonte.

„Sag mal, ist der Kerl neben dir etwa dein Lover?“ Abgründe taten sich auf, und meine Gesichtsfarbe wechselte von kalkweiß in ein kräftiges Rot.

„Oder der hier?“ Sie deutete auf Sanchos, der – ganz offensichtlich erheitert – an seinem Glas nippte. Mir blieb auch nichts erspart, also biss ich in den sauren Apfel und stellte Maxi vor.

„Das ist Mark, ein Kollege, Sanchos, ein Freund von ihm, und das hier ist Maxi, mit der alten Barschlampe habe ich früher zusammen bedient!“ Die Anwesenden lachten. Maxi – keinesfalls beleidigt – liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, eine Eigenschaft, die ich bis heute nicht verstand.

„Aha, ein Kollege“, säuselte sie mir noch immer kichernd schrill ins Ohr und dann etwas lauter: „Wie wäre es, Kinder, da wir uns ja nun bekannt gemacht haben, wenn wir zusammen ein bisschen um die Häuser ziehen?“ Der Karren befand sich bereits im Dreck, Maxi würde sich keinesfalls automatisch in Luft auflösen, und der Wunsch zu verschwinden kam mir sehr gelegen. Spontan sagte ich deshalb zu. Mark sprang sofort darauf an und versuchte, Sanchos zu überreden mitzukommen. Damit hatte ich wahrlich nicht gerechnet. Was ist denn nur in ihn gefahren? Diesmal blieb der Sänger allerdings hart und bestand darauf zu gehen. Ohne Alibi beugte sich Mark der Entscheidung und beschloss demnach, ebenfalls den heimatlichen Hafen anzusteuern.

Auf dem Weg nach draußen zog er mich jedoch kurz zur Seite und meinte: „Schade, ich hab gar keine Lust, nach Hause zu gehen, aber ich muss. Ist auch vernünftiger. Aber der Abend hat mir supergut gefallen. Du hast mir gut gefallen! Sei bitte nicht böse, wir sehen uns am Montag! Und pass auf dich auf, ja?!“

Ein Kribbeln durchfuhr mich. Mark war gewinnend charmant und einfach alles, was eine Frau sich nur wünschen konnte. Und der Sachverhalt, dass er jetzt zu einer anderen Frau fuhr, tat weh, war jedoch nicht zu ändern.

Eine Viertelstunde später fand ich mich an der Theke eines neuen Clubs wieder, zündete mir eine Zigarette an und bestellte mir zum Abschluss des schönen Abends einen Averna ohne Eis und Zitrone.

Maxi verschwand bereits nach wenigen Minuten mit einem Typen, der Quentin hieß, auf die Toilette. Mich kümmerte das wenig. Ich versuchte, in die Cosmic-Klänge einzutauchen, die der DJ über den CD-Player jagte, wollte eins werden mit der Masse, mich fallen lassen in eine Welt ohne Probleme. Doch auch die vielen Menschen konnten mein Gefühl der Einsamkeit nicht vertreiben. Wie durch einen Schleier beobachtete ich die Heiterkeit des Nachtlebens, nahm das Gelächter in mich auf, sah Pärchen miteinander tanzen und spürte nur eine unendlich große Leere in mir.

Schlampe, Opfer, Schwein.

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