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SANCHOS
ОглавлениеAufgewachsen bin ich mit dem folgenden Leitspruch meiner Mutter: „Liebe ist vergänglich, aber einen Freund hast du lebenslänglich. Als dein Vater damals ausgezogen ist, hätte ich da die Renate nicht gehabt ...“ Renate war eine ihrer besten Freundinnen.
Kein Wunder, dass mich ihre Sichtweise von Freundschaft geprägt hat, man hat mich darauf konditioniert. Und wahrscheinlich war diese Sicht auch gar nicht so verkehrt. Jedenfalls bedeuteten Männer für mich lange Zeit nicht besonders viel, während meine Freunde immer auf mich zählen konnten.
Nehmen wir zum Beispiel die Pleite mit Claudius. Da haben wir die typische Geschichte: Man lernt sich kennen, beide sind Single, jeder auf der Suche nach Zärtlichkeit, aber völlig inkompatibel zueinander. Ich habe ihn gesehen, ihn probiert und tags darauf bereits wieder vergessen.
Hierauf Bezug nehmend mein Tipp: Hände weg von Männern, die Tarot legen! Und bloß weil man sich dringend jemandem zum Kuscheln einbildet, ist das noch lange kein Grund, sich einen Typen zu angeln, der auf einer Skala von eins bis zehn nur eine Drei minus erreicht, da wäre es in manchen Fällen durchaus besser, sich ein Haustier anzuschaffen.
Freundschaft hatte für mich einen Stellenwert, der den einer Partnerschaft in manchen Bereichen demnach tatsächlich übertraf. Es bedeutete, sich hundertprozentig aufeinander verlassen zu können, tolerant miteinander umzugehen, sich gegenseitig zu helfen, wo immer es nötig war, und keine Angst haben zu müssen, den anderen zu verlieren. Sich zu treffen, wenn man Lust und Laune hatte, und stundenlang am Telefon zu quatschen.
Ich war vierundzwanzig, zwar würde es nicht mehr allzu lange dauern, bis man mich zu Ü-30-Partys einlud, und ein ernstzunehmender Kandidat für eine längerfristige Verbindung war nicht in Sicht, aber damit kam ich klar. Und weil Mark sowieso außer Frage stand, da ich definitiv keinen Bock darauf hatte, mir weiterhin meine Finger an einem verheirateten Typen zu verbrennen, zog ich es vor, mich mehr auf meine Freunde zu konzentrieren.
All diese Überlegungen mögen den Hintergrund dafür abgegeben haben, dass sich in mir eine neue Idee gedanklich manifestierte, denn eine Perspektive bot sich mir Mark betreffend: Wir konnten Freunde sein! Gegen eine platonisch freundschaftliche Beziehung ohne Sex gab es schließlich nichts einzuwenden. Und es wäre nach meiner Hymne auf die Freundschaft ein guter Handel in dieser Konstellation. Oder?
Damit wäre gleichzeitig mein Interesse an Mark plausibel erklärt und auch, warum wir uns so gut verstanden. Mit Helga müsste ich sicher erst noch warm werden, aber ansonsten hörte sich das nach einem Gerüst an, mit dem alle prima würden leben können – zumindest im ersten Moment.
Wenn man genauer hinguckte, bestätigte sich jedoch, dass bei meinen Überlegungen mein Bauchgefühl schneller funktionierte als mein Hirn, das wie bei einem Jetlag etwas hinterherhinkte. Aber das war schon immer so gewesen. Und urplötzlich fielen mir 1000 Gründe ein, warum eine Kameradschaft mit Mark (auch ohne Tuchfühlung) nie möglich sein würde. Warum nicht? Hier ein paar Auszüge davon:
1 Mark war als Mann eine glatte Zehn!
2 Brüderlichkeit mit einer Zehn – eher unwahrscheinlich!
3 Freundschaft gegengeschlechtlicher Parteien – selten bis schwierig.
4 Einhaltung des Flirt-Tabus – eine extreme Herausforderung.
5 Bekanntschaften/Rivalinnen – bei Ehefrauen nicht gestattet!
6 Einer investiert meist mehr – und damit zu viel!
7 Bauchkribbeln abstellen – unmöglich!
8 Zeitmanagement – die Familie wird immer vorgehen!
Fazit: Es kann nicht funktionieren!
Eigentlich logisch! Schon die Überlegung, mit Mark etwas alleine zu unternehmen, war bei einem Mann, auf den Frau und Kind nach der Arbeit mit dem Essen warteten, kaum im praxisnahen Bereich. Und jetzt?
Vorsichtig tastete ich bei Mark das Thema „Freundschaft zu einer Frau“ ab, und er bestätigte genau das, was ich selbst bereits vermutet hatte. Helgas Eifersucht und sein zeitlich recht begrenztes Privatleben boten nicht gerade den idealen Nährboden dazu. Zumal eine Freundschaft zu einer alleinstehenden Kollegin, die noch dazu jünger war als seine Angetraute, diese niemals billigen würde. Hätte ich umgekehrt vermutlich auch nicht.
Da ihm bewusst war, warum ich ihm – was das anging – auf den Zahn fühlte, beteuerte er ausschweifend, wie gerne auch er mich nach der Arbeit sehen würde, betonte jedoch auch die nachvollziehbaren Gründe, die uns in diesem Punkt im Weg standen. Blöd! Pausenlos machte ich mir zu diesem Thema Gedanken, bemüht um eine Lösung, und merkte, wie es für Mark ebenfalls immer schwieriger wurde, unseren Kontakt auf das Berufliche zu beschränken – welch ein Dilemma!
Doch wie mancher Vertrag kleine Lücken aufweist, fand er schließlich ein Schlupfloch, wie wir mehr Zeit miteinander verbringen konnten, ohne dabei jemandem auf die Füße zu treten. Breit grinsend kam Mark also eines Tages auf mich zu und eröffnete mir einen neuen Ansatz der besonderen Sorte: Wir mussten mich so bald wie möglich unter die Haube bringen! Damit wäre Helga weniger misstrauisch, und alle könnten zufrieden sein! Und: Er wollte sich persönlich darum bemühen, mir einen adäquaten Typen zu besorgen.
So ungefähr fühlte sich wohl ein Gaul auf dem Pferdemarkt. Man schob mir zwar nicht die Lippen auseinander, um mein Gebiss zu überprüfen, aber ansonsten kam es dem Ganzen schon sehr nahe! Ich war kurzfristig doch empört! Andererseits hatte sich Mark in Bezug auf Gerlinde schon mal als Kuppler bewährt, und ich war ja nicht grundsätzlich einer Beziehung gegenüber abgeneigt. Bei genauerer Überlegung konnte es gar nicht schaden, statt nur etwas fürs Bett auch mal wieder etwas fürs Herz zu haben. Es war nämlich schon eine geraume Weile her, dass ich die drei magischen Worte zu einem Mann gesagt hatte. Aber ob ausgerechnet Mark diese „Herzblatt-Sendung“ moderieren sollte?
Bevor ich ablehnte, wollte ich zumindest seinen Plan hören. Warum ich ihm nicht einfach eine scheuerte oder ihm die nicht wirklich vorhandene Freundschaft kündigte, ist schwer zu sagen. Vielleicht siegte die Neugier, vielleicht hoffte ich aber auch auf einen entsprechenden Kandidaten – wie dem auch sei, ich hörte seinen Schilderungen zu, als ginge es dabei tatsächlich um eine ernstgemeinte Zukunftsplanung.
Hier kurz zur Vorgeschichte: Mark spielte in einer Band. Er war seit seiner Jugend Schlagzeuger mit Leidenschaft und brauchte die Musik wie die Luft zum Atmen. Den Sänger der „Cultures“ hatte eben erst seine Freundin sitzen lassen, weswegen dieser sich am Rande zu einer ausgewachsenen Depression befand und mehr Balladen sang, als es der Kapelle lieb war. Außerdem hatte es Sanchos als gebürtigen Vollblutspanier hart getroffen, dass seine Susi nicht nur über Nacht abgehauen ist, sondern sich seitdem mit seinem Ex-Bassisten traf. Und bei der miesen Stimmung, die seither in der Gruppe herrschte, traute sich auch niemand, ihm zu erzählen, dass der Neue gar nicht mehr so neu war, sondern schon länger auf Susis Vergnügungsliste stand.
Da ich nicht liiert und Sanchos neuerdings wieder frei war, wäre es doch praktisch – laut Mark –, wenn wir ein Paar würden. Das würde genug Gelegenheit bieten, sich beispielsweise bei Auftritten, im Proberaum und zu Geburtstagen zu sehen, ohne dass jemand etwas dagegen haben könnte. Ich wäre ja schließlich Sanchos Freundin. Tolle Wurst!
Dieser Vorschlag schoss echt den Vogel ab, und meine Begeisterung hielt sich demnach in Grenzen! Auch Marks Beteuerungen, dass ihm dieser Gedanke nur gekommen sei, weil er mich ja nicht haben könne, überzeugten mich nicht sonderlich. Im Gegenteil: Ich wertete seine Aussage eher als Witz, denn so etwas konnte er einfach nicht ernst meinen. Wo kämen wir denn da hin? Dennoch muss ich sagen, dass er damit zum ersten Mal überhaupt darüber sprach, sich Gedanken dieser Natur zu machen, und das erstaunte mich wirklich sehr!
Tagelang fing Mark immer wieder mit dem Thema an. Er schilderte mir in schillernden Regenbogenfarben, wie gut Sanchos aussah, wie nett er sei, was er studierte, und betonte dabei, dass dieser unbedingt schnell eine neue Freundin brauchte. (Sollte er doch, aber musste das ausgerechnet ich sein?) Phlegmatisch hörte ich mir die nicht enden wollenden Lobeshymnen an, die mir „Adonis“ aus der vorderorientalischen, griechischen und römischen Mythologie höchstpersönlich versprachen.
Nichtsdestotrotz – da half alles nichts – musste ich irgendwie auf Marks angeleierte Initiative – anscheinend war Sanchos bereits ebenso informiert wie interessiert – reagieren, denn alle Argumente gegen dieses ominöse Verkuppelungsvorhaben würden meinen Wunsch nach Freundschaft unglaubwürdig erscheinen lassen. Und ich wollte doch mit Mark befreundet sein, oder? Wollte ich das wirklich? Oder kam hier erneut zum Vorschein, dass er durchaus auch für mehr in Frage kommen könnte? Egal, nicht weiter darüber nachdenken! Ich nahm mir vor, das Spiel zu spielen und mir Sanchos anzugucken, so wurde mir wenigstens ein geschicktes Ablenkungsmanöver geboten!
Spaßigerweise arbeitete Sanchos Bruder Miguel auch bei „K-Messe“. Dort war er hauptsächlich für die Kundenakquise zuständig, und wenn es seine Zeit erlaubte, spielte er Saxophon bei den „Cultures“. Die Gerüchte in der Firma stießen bei ihm auf taube Ohren, und er fand die Idee mit der „Partnervermittlung“ saulustig, zumal ihm das weinerliche Gesülze seines Bruders ziemlich auf den Sack ging. Und das bedeutete für mich nun einen Zwei-Fronten-Krieg, denn durch ihn hatte Mark jetzt die Verstärkung, die er brauchte.
Der Kampf zwischen mir und der neu gegründeten „Partnervermittlungsagentur“ war zeitweise durchaus amüsant, denn Mark und Miguel sorgten mit konsequenter Penetranz dafür, dass ich ehrlich neugierig wurde. Man muss allerdings dazu sagen, dass Miguel ein wirklich smarter und echt witziger Typ war. Er arbeitete im Hauptgebäude wie wir und nicht bei Christoph Kresser und Konsorten. Somit gehörte er zu den „Guten“! Und wenn Sanchos auch nur ein bisschen Ähnlichkeit mit ihm hatte, musste er ein netter Kerl sein.
Bog Miguel um die Ecke, fiel mir unweigerlich sofort „Scrat“ ein – das kleine Eichhörnchen mit den Säbelzähnen aus dem Film „Ice Age“. Um ihn auf die Schnelle zu beschreiben, muss man sich den typischen Südländer vorstellen und dann vom Gegenteil ausgehen. Sprich: Vornehme Blässe, glatte braune Haare (zu einem Zopf gebunden) und von schmaler Statur. Allein der Akzent verriet seine Herkunft, wenngleich er ein perfektes Aristokraten-Deutsch sprach. Seine hochgeistige Art, Dinge zu erfassen, gekoppelt mit überragender Intelligenz, zeichneten ihn zwar im Berufsleben aus, standen ihm aber im realen Alltagsgeschehen eher im Weg.
Beim ersten Kaffee in der Früh schaltete ich schon ganz automatisch den Wasserkocher für Miguels Tee an. Die blank polierte Tasse, deren Inhalt aus einem trockenen Beutel und zwei Stückchen Süßstoff bestand, wartete dann bereits seit einer halben Stunde vergeblich darauf, endlich gefüllt zu werden. Als flehte sie mich um Hilfe an, lächelte ich ihr aufmunternd zu und ging in Miguels Büro hinüber.
„Habe dein Teewasser angemacht!“, rief ich ihm über die Schulter hinweg zu, worauf sein Rücken ein „Danke“ erwiderte. Nicht unfreundlich, sondern in absoluter Konzentration auf das Gespräch mit einem potenziellen Kunden. (Es gab natürlich Prämien, sollte einer anbeißen!)
Ungefähr eine geschlagene Stunde später trank ich gewöhnlich ein weiteres Haferl Kaffee – das Stillleben in der Küche hatte sich seither nicht verändert. Erneut drückte ich daher den roten Startknopf des Gerätes, abermals wies ich Miguel darauf hin. Meist wurde es Nachmittag, bis er in den Genuss kam, seine Cylon-Mischung auch zu trinken.
Vermisste Miguel indessen sein Handy, wandelte sich seine ruhige Art, und er wurde zum ultimativen Nervenbündel. Völlig aufgelöst rannte er dann von Zimmer zu Zimmer auf der Suche nach dem Heiligtum erster Klasse. Erst nachdem er die komplette Firma in den Wahnsinn getrieben hatte, erbarmte sich das kleine Hightechgerät und begann zu läuten. Und nun raten Sie mal, woher die Töne kamen? Aus der Toilette! Die Vermutung lag nahe, dass ihm seine Frau irgendwann in weiser Voraussicht dazu geraten hatte, es beim Strullern aus der Hose zu nehmen, damit es nicht unbemerkt ins Klo fiel. Und das kann beim Lesen des Wirtschaftsteils der Süddeutschen schließlich schon mal passieren!
Diese Ereignisse wiederholten sich alltäglich turnusmäßig und machten Miguel zu einem liebenswerten Schussel, einem vergeistigten Professor im Körper eines 30-Jährigen. Selten habe ich allerdings jemanden kennen gelernt, der so gutmütig war, wie Miguel es sein konnte. Sprach er über etwas, das ihn emotional aufwühlte, wenn er beispielsweise den Geburtstag seines Sohnes vergessen hatte, fing das linke Augenlid an zu zucken – das „Scrat“-Syndrom –, und seine Unterlippe vibrierte. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern stand Miguel dann vor mir und bot wahrlich ein Bild des Jammers.
„Mann, Scheiße, ich bin so blöd!“
Machte man ihm daraufhin den Vorschlag, ihn mittags in die Stadt zu fahren, damit er ein Geschenk besorgen konnte, freute er sich wie ein paniertes Schnitzel und bedankte sich hundertfach. Als Gegenleistung bot er einem zuverlässig Unterstützung an, wo immer es ging. Ein einziges Manko hatte Miguel allerdings: Man konnte mit ihm einfach nicht lästern. Egal um wen es ging, wie flachsinnig derjenige sich auch verhielt, Miguel bezog nie Stellung und nahm jeden in Schutz – das Weichei! Als gute Seele wurde er trotzdem zum „Maskottchen“ der Firma. Wir sahen ihm seine Eigenheiten nach, und alle mochten ihn.
Aber zurück zu der „brillanten“ Verkupplungsidee. Das ständige Gerede darüber nervte mit der Zeit, steigerte aber auch die Spannung! Was mich daran allerdings mehr und mehr interessierte, war, wie Mark damit umgehen würde, mich künftig mit Sanchos knutschen zu sehen.
Er wollte diesen Wettstreit partout austragen – gut, ich würde dem nicht im Wege stehen! Aber hatte er sich das mögliche Resultat überhaupt schon überlegt? Jetzt bin ich ja ein Mensch, der sich sehr viel mit Nachdenken aufhält, dafür aber die Klappe nicht halten kann. Besser gesagt: die nötige Reihenfolge meist verwechselt und das sehr zuverlässig. Doch war Mark sich im Klaren, wohin das Ganze führen konnte? An und für sich hatte er ja noch nicht mal bei Christophs Avancen die Füße stillhalten können!
Irgendwann in der Mittagspause ploppte die Frage, die mich drängte und auf die ich keine Antwort hatte, zusammenhangslos aus mir heraus: „Wärst du denn gar nicht eifersüchtig, wenn ich mich jetzt wirklich in Sanchos verlieben würde?“ Das nennt man wohl den Mut der Dummen und war wieder mal typisch für mich! Erst plappern, dann überlegen! Ich hielt die Luft an. Lange sahen wir uns in die Augen, doch anstatt den Rückzug anzutreten, gab er mir überraschend folgende Antwort: „Du hast recht, die Idee ist völlig krank!“
Das raubte mir den Durchblick nun komplett. Was hatte es mit dem Sinneswandel auf sich? Hatte ich etwas verpasst? Bevor ich weiter nachhaken konnte, fuhr er erklärend fort. Ja – es würde ihn durchaus stören, wenn ich mit einem anderen Mann als ihm zusammen wäre. Wow!
Was sollte ich damit anfangen? Wie stellte er sich das vor? So gerne ich Mark mochte und ihm auch irgendwie gefallen wollte, es konnte sicher keiner von mir erwarten, ewig alleine zu bleiben! Und ein Kloster würde mich mit meiner Vorgeschichte kaum haben wollen! Aber das hatte er damit wohl auch nicht gemeint. Es ging anscheinend viel mehr darum, dass es für uns keine Zukunft geben würde und ihn das offensichtlich mehr beschäftigte, als es eigentlich sollte. Es bereitete ihm Bauchschmerzen, dass ich unweigerlich irgendwann genauso gebunden sein würde wie er.
Welch kindisches Verhalten! Daheim wartete die Superschnecke auf ihn und damit die Erinnerung an ein Eheversprechen, zu dem ihn keiner gezwungen hatte, aber sollte sich mir ein Mann nähern, wollte er sich am liebsten duellieren.
Lag hier etwa ein Hauch von Midlife-Crisis in der Luft? Oder das Höher-Schneller-Weiter-Prinzip? Was genau bezweckte er eigentlich? Und was wollte er überhaupt von mir? Befand ich mich inmitten eines Flirts? Hatte er sich etwa verknallt oder gar die Absicht, mich flachzulegen? Ging es ihm um Gefühle? Oder plante er einen Seitensprung? Und wie passte Sanchos in diese Szenerie? Hallo, würde mir mal jemand helfen, dieses Durcheinander aufzuklären?
Ich konnte mir keinen Reim auf seine Äußerungen machen, was aber letztlich auch Jacke wie Hose war. Es blieb eine Tatsache, dass Mark im Bund der Ehe lebte, und das bedeutete – zumindest in unseren Breitengraden –, eine Frau zu haben, nicht mehrere! Dennoch hatte Mark offensichtlich Schiss, mich zu verlieren, ein Widerspruch in sich, da ich ihm nicht gehörte. Er beanspruchte mich auf eine Weise, die schlichtweg zu weit ging. So erfuhr ich einerseits, wie wichtig ich für ihn geworden war, und andererseits, dass mich seine Reaktionen zwar ärgerten, aber mir durchaus auch schmeichelten.
Ein paar Tage erlebte ich Mark in einer recht ruhigen und deprimierten Stimmung, konnte damals aber noch nicht im Detail erfassen, was los war mit ihm. Vermutlich trauerten wir gemeinsam darum, dass es für uns klar definierte Grenzen gab.
Auch wenn seine Situation es nicht zuließ, so wollte er mir nahe sein und mich mit niemandem teilen. Es ging nicht mehr darum, mich mit einem anderen bekannt zu machen, sondern um eine konkrete Analyse der Empfindungen von uns beiden zueinander, die sich daraus ergab. Von seiner Offenheit überwältigt, kam ich mir vor, als stünde ich gerade für die Daily Soap „Verbotene Liebe“ (Montag bis Freitag im Ersten) vor der Kamera, und gleichzeitig bekam ich es mit der Angst zu tun. Wie würde es nun weitergehen? Es war nicht zu leugnen: Die Beziehung zwischen Mark und mir hatte sich verändert, doch ich konnte weder die Richtung erkennen, noch mögliche Folgen abschätzen. Wo sollte das alles auch hinführen? Ich war im wahrsten Sinne des Wortes überfordert, tolerierte jedoch, dass diese Entwicklungsperiode herzlich wenig mit einer Freundschaft zu tun hatte.
Die Idee, mich mit Sanchos zu verkuppeln, damit jeder einen Partner hat, alle zufrieden waren und freundschaftlichen Treffen nichts mehr im Wege stünde, hatte ihren Sinn sozusagen komplett verloren. Denn Mark und ich hatten das gleiche Problem: Wir beschäftigten uns damit, jeder für sich, die zunehmenden Gefühle für den anderen einzuordnen, zu sortieren und letztendlich wieder unter den Tisch fallen zu lassen.
„Weißt du, klar würde ich lieber selber was mit dir anfangen, aber wir wissen ja beide, dass das nicht geht!“ Ein Augenzwinkern unterstrich den als Witz gedachten geistigen Erguss.
Mir fiel keine spontane Antwort darauf ein. Er schaffte es immer wieder, seine Aussagen so zu verpacken, dass man nicht wusste, ob man ihm glauben sollte oder besser nicht.
„Na ja, da ich dich nicht haben kann, ist es doch nicht falsch, wenn ich dich einem Freund vermittle, oder?“ Sein Kichern glich dabei einem wenig erotischen Grunzen. Warum hielt er nicht einfach seine vorlaute Klappe und verschonte mich mit solch ironischen Plattitüden? Sollte er damit doch zu Oliver Pocher ins Fernsehen gehen! Ich sah es direkt vor mir, die Show würde „Die dümmsten Vorschläge der Welt“ heißen und das Publikum sich auf Kommando krumm und bucklig lachen. Und wir hätten im Vorabendprogramm wieder eine neue Sendung, die die Welt nicht braucht, in der ohnehin schon öden Medienwüste!
„Wirklich super lustig.“ An meiner sich im Leerlauf befindenden Reaktion leitete Mark wohl mein mangelndes Interesse an seinen Späßen ab, denn nun bemühte er sich doch darum, die Kurve wieder zu kratzen.
„Okay, tut mir leid“, räumte er ein, den Kopf ein wenig gesenkt. Wir saßen in der Falle, eine Lösung gab es nicht, daran änderten auch Marks gekünstelte Humorbomben wenig. Zwar vertuschten sie die verkleideten Wahrheiten und deren Ernsthaftigkeit etwas, aber weiter halfen sie uns keinen Schritt!
Ich wagte es nicht einmal, seine Aussagen für bare Münze zu nehmen, denn auch ich spürte die offensichtliche Gefahr, in welche ich mich durch meine wachsende Sympathie zu Mark begab. Es lag zwar auf der Hand, dass es an der Zeit gewesen wäre, vorsichtig zu werden, doch ich war mir selbst gegenüber nicht ehrlich genug, um das auch in aller Deutlichkeit zu erkennen. Eines wusste ich jedoch sehr genau: Je weniger ich meine Gefühle unter Kontrolle hielt, desto mehr würde ich leiden. So beschloss ich, mich auf ein Treffen mit Sanchos einzulassen, und sagte zu, beim nächsten Auftritt der Band dabei zu sein.
Zu meinem eigenen Schutz gedacht, sollte Sanchos mich ruhig etwas von meiner Teenie-mäßigen Begeisterung gegenüber Mark ablenken. „Vielleicht gefällt er mir ja“, dachte ich, ohne wirklich daran zu glauben. Und hätte ich endlich einen Partner vorzuweisen, wäre unweigerlich wieder ein Stückchen Distanz zwischen uns gewonnen.
Ich versuchte also, die Begeisterung, meinen „Chef“ in Kürze auf der Bühne erleben zu dürfen, gezielt auf den mir noch unbekannten Sanchos umzuleiten, was grundsätzlich ganz gut klappte. So erzählte ich jedem, der es nicht hören wollte, von dem bevorstehenden Blind-Date mit einem rassigen Spanier, bis ich selbst anfing zu glauben, dass es einzig und allein darum ging, und meine Pinocchio-Nase wieder auf ihre normale Größe zurückschrumpfte.
Bei Mark verhielt es sich nicht anders. Wir sprachen wieder mehr darüber, wie spannend dieses Treffen werden würde, und weniger über uns. Daran gab es gar nichts auszusetzen, aber insgeheim freuten wir uns beide auf einen gemeinsamen Abend im „Schlachthof“ – der Club, in dem der Auftritt stattfand.
Stundenlanges Nachdenken über Klamotten, Make-up und Haare machte mich, als der große Tag endlich gekommen war, wirklich fertig. Was war sexy, aber nicht billig? Welche Farbe stand mir gut? Frisur lieber so oder anders? Eine Katastrophe. Jedes Mal wieder überlegte ich mir, warum Frauen das alles auf sich nehmen – na ja, selber schuld!
Entschieden habe ich mich dann für eine kirschrote Lackhose mit Schlag, für die man eigentlich einen Waffenschein bräuchte, und ein bauchfreies Top. Das Oberteil war zwar schwarz und damit von der Farbe her eher dezent, hatte aber gerade mal ein paar Zentimeter mehr Stoff als der darunter rot vorblitzende BH. Die „Plastikhose“ umschloss meine Beine wie eine zweite Haut und setzte meinen Hintern perfekt in Szene. Mit dem passenden Lippenstift haute dieses Outfit ziemlich rein, aber ich hatte mir beim Schminken bereits ein Glas Prosecco genehmigt, daher sah ich das nicht ganz so eng. Und mit einem Körper, den ich eher als burschikos beschreiben würde – wir reden über Körbchengröße A – kann man sich Manches durchaus leisten, was mit einer Rubensfigur längst nuttig ausgesehen hätte. Damit will ich sagen, dass es sehr wohl Frauen gibt, die von Natur aus Weiblichkeit verkörpern, ich hingegen bekam das nur über Klamotten hin. Und bei deren Auswahl hatte ich nicht an Sanchos gedacht.
Da ich außerdem recht klein war, schlüpfte ich zum Abschluss in meine neueste Errungenschaft: Klassische Pumps mit einem 15 Zentimeter hohen Absatz. Ein Blick in den Spiegel, und los ging es.
Mark und ich waren um 21:00 Uhr verabredet. Sowohl beim Türsteher als auch an der Kasse nannte ich meinen Namen, und da ich auf der Gästeliste stand, winkte man mich ohne Probleme durch.
Die „Cultures“ planten, um 22:00 Uhr loszulegen, und der „Schlachthof“ war schon gut gefüllt. Menschen aller Altersklassen warteten darauf, dass es los ging, wollten feiern und tanzen. Die Band versprach eine Mischung aus Rock 'n' Roll und Cowpunk, wofür die Location prädestiniert war. Ich war auch vorher schon öfters dort gewesen und mochte das Ambiente sehr. Das Publikum trank sich bereits fleißig in Laune, aber das gehörte zu der Musik und dem stets unterschätzten Münchener Nachtleben ebenso dazu wie die Butter aufs Brot.
Angestrengt versuchte ich, unter den Massen meinen Drummer zu erspähen. (Fehler! War ich nicht wegen Sanchos hier? Es ist so eine Sache mit dem Selbstbetrug, wenn dieser nicht lückenlos funktioniert!) Und während mir ein Typ mit Glatze Feuer gab – damals durfte noch geraucht werden –, erspähte ich ihn: Er unterhielt sich mit einem Pärchen am anderen Ende des Saales.
Würde Helga heute Abend ebenfalls hier sein? Da fiel mir ein, dass Mark erwähnt hatte, dass diese sich mit der kleinen Ramona bei „Wetten dass?“ und Tiefkühlpizza einen Frauenabend gönnen wollte. Wie konnte man Thomas Gottschalk einem Mark Engel vorziehen? Na ja, ihre Sache! Zumindest würde so ein Zusammentreffen wohl eher ausbleiben, womit ich kein Problem hatte.
Aber mir blieb sowieso keine Zeit, weiter zu grübeln, denn in diesem Moment kam eine knackig schwarze Lederhose lässig schlendernd mit einem Bier in der Hand auf mich zu. Ein freizügiges Muskelshirt – ebenfalls schwarz – gestattete mir freundlicherweise den unverblümten Blick auf zwei atemberaubend muskulöse Oberarme, wie eben nur ein Schlagzeuger sie haben kann. Mir fiel selbst auf, dass ich einem Hund mit zu langen Lefzen ähnelte, denn der Sabber tropfte mir in kleinen Rinnsalen aus dem offen stehenden Mund!
Ich denke, es ist überflüssig zu erwähnen, dass ich an Mark Gefallen gefunden hatte, als Chef, als Abteilungsleiter, als Mensch, als Freund, aber – leider Gottes – eben auch als Mann. Und gerade unter dem Aspekt hätte ich mir diesen Abend wirklich sparen müssen, denn allein seine Gegenwart haute mich einfach um!
Er sah so unverschämt gut aus! Ein Leckerchen sondergleichen! Es kam mir vor, als würde ein überdimensional großes Neonschild über seinem Cowboyhut aus Filz hängen, auf dem mich blinkende Buchstaben zu Taten aufforderten. „Hin und mit!“, schrien sie mich an, plärrte es in mir drinnen und hechelte mein roter Büstenhalter. Bitte, gebt mir Valium! Gebt mir irgendwas!
„Hallo“, nuschelte ich geistreich und in der Hoffnung, dass ihm meine Beklommenheit verborgen blieb.
„Was sagst du?“ Zugegeben, die Geräuschkulisse hatte es in sich, aber war es allen Ernstes nötig, sich so nah zu mir herunterzubeugen, damit ich auch noch unweigerlich eine Kostprobe seines Aftershaves in die Nase bekam? Ich tippte auf „Attitude“ von Giorgio Armani oder war es doch eher „CK be“ von Calvin Klein?
„Kuckuck! Erde an Norma!“ Oh nein, auch das noch!
„Hallo! Ich ..., äh ..., ich sagte ‚Hallo‘!“ Dieses Mal artikulierte ich mich etwas lauter, sodass Mark sich aufrichtete und mir damit ermöglichte, wieder frei zu atmen.
„Ich habe dich schon überall gesucht!“ War das nun gut oder schlecht?
Um ein charmantes Lächeln bemüht, zeigte ich meine frisch geputzten Zähne – Dr. Best lässt grüßen!
„Schön, dass du da bist“, fügte er hinzu, und meine Welt drehte sich plötzlich einen Gang zu schnell.
Meine Hände zitterten, und ich fühlte mich ihm verbunden wie nie. Wie war das möglich? Es war beschlossene Sache, dass dieser Mann nicht in Frage kam, weshalb also hüpfte mein Herz, als wollte es einen Rekord aufstellen?
„Ja, ich freu mich auch richtig, hier zu sein!“ Gekonnt blickte ich ihm von unten herauf tief in die braunen Augen, was bei dem enormen Größenunterschied wahrlich kein Kunststück war. Unser Lächeln hing ebenso in der Luft wie die Hitze des noch hell erleuchteten Saales. Die leise Hintergrundmusik nahm ich kaum wahr. Überall standen Leute herum, warteten darauf, dass es losging, und unterhielten sich angeregt – ich bemerkte sie kaum. In Marks Bann gezogen, standen meine Uhren still. „Hat dich die Kassiererin durchgelassen?“, wollte dieser wissen.
Fragend starrte ich ihn an und brach dann in ein völlig übertriebenes Gelächter aus, das allerdings unglaublich befreiend wirkte.
„Wäre ich sonst hier?“, fragte ich etwas gelöster und so leise wie möglich zurück – vielleicht hatte ich Glück, und er würde sich ein weiteres Mal zu mir herabbeugen. Aber Mark, der verstanden hatte, grinste nur und winkte ab.
„Hast ja recht“, pflichtete er mir bei. „Aber jetzt muss ich leider los, besuch mich doch einfach nachher in der Pause. Die Garderobe ist da vorne!“ Sein Arm zeigte in Richtung Bühne. Links daneben befand sich ein Vorhang, der die Tür zu den heiligen Hallen verdeckte. Dann drückte er mir seine angebrochene Bierflasche in die Hand und verschwand, um sich für den Auftritt vorzubereiten.
Verklärt lutschte ich förmlich das Getränk, anstatt es zu trinken, spürte die Wärme, die seine Finger auf dem Glas hinterlassen hatten, bis mich jemand unsanft in den Rücken boxte.
Vorausschauend hatte ich mir für diesen Abend Gesellschaft eingeladen: Meine beste Freundin Viola, ihr Freund Sebastian sowie Martina und Frieda, ein lesbisches Pärchen, gehörten zum offiziell ernannten Begleitschutz. Ich drehte mich um, und da standen sie alle! Ich war dermaßen froh darüber, dass ich ihnen um den Hals fiel, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. In dieser Runde ging es mir gleich ein wenig besser, ganz nach dem Motto: Zusammen ist man weniger allein! Angenehm war auch, dass sich der Saal immer mehr füllte und ich mich dadurch etwas geschützter fühlte, nicht so wie auf dem Präsentierteller. Selbst die Bühne wirkte nicht mehr so bombastisch und überdimensional.
Ehe ich mich versah, wurde die Raumbeleuchtung heruntergeschraubt, und die Band fing – nachdem sie sich alle positioniert hatten – an zu spielen. Gefesselt ließ ich mich von der Musik mitreißen. Auch wenn der Grund-Beat dem Rock 'n' Roll entsprang, so wäre diese Beschreibung nicht ausreichend. Einflüsse von Boogie, Countryrock, Swing, Blues und Rockabilly vermischten sich zu einer einzigartigen Musikrichtung, die mit nichts zu vergleichen war. Hypnotisiert starrte ich nach vorn.
Uwe, der schmächtige Blonde an der Gitarre, griff in die Saiten wie seinerzeit Jimmy Hendrix (auch wenn es nicht ganz so klang), und Sanchos sang dazu mit rauchiger Stimme, die einem Johnny Cash nicht unähnlich war „Light my fire“.
Das also sollte mein zukünftiger Lover sein! Nicht schlecht! Und von der Optik her sicher eine Augenweide. Gut gebaut, schlank, attraktiv, aber eben nicht Mark! Ich sah ihn an und spürte gar nichts, nur die Snare hallte unbarmherzig in meinem Magen wider! Miguel, der ganz links am Saxophon stand, zwinkerte mir zu, doch auch das registrierte ich kaum. Ich starrte auf Mark, wie er die Drumsticks schwang, und schaffte es nicht, meinen Blick von diesem wieder loszueisen. Seine Bühnenpräsenz raubte mir förmlich den Atem.
Nur wer ihn näher kannte, hätte die Freude in seinen blitzenden Augen erahnen können, wenn sein Blick durch die Menge schweifte und an mir haften blieb wie zähflüssiger Honig. Statt Brille trug Mark Kontaktlinsen, was ihn noch einen Tick unwiderstehlicher machte, wenn das überhaupt möglich war. Jeden Song, den er einzählte, jede Bewegung, jeder Trommelwirbel war perfekt einstudiert, und dennoch schien sein Schlagzeug geradezu mit ihm zu verschmelzen, sodass sie zusammen einen Sound ablieferten, wie ich das niemals für möglich gehalten hätte. Auch das Publikum reagierte auf Mark und schrie bei jedem Solo begeistert auf, spürte sein Charisma, machte aus seiner Person das Herzstück der Band. Etwas Mystisches umgab ihn, als wäre er nicht von dieser Welt. Sein Talent und sein überragendes Äußeres in Kombination mit diesem ausdrucksstarken Instrument machten ihn für mich regelrecht zu einem Heiligen.
Ein Song jagte den nächsten, und ich genoss Marks Anblick ebenso wie die Musik in vollen Zügen. Die Menge tobte, und viele tanzten zu dem abwechslungsreichen Programm. Die „Cultures“ präsentierten sowohl schnelle fetzige als auch durch und durch romantische Nummern aus ihrem weiten Repertoire, bei denen mir angenehme Schauer über den Rücken liefen.
„Ich kenne diesen Mann“, dachte ich mir immer wieder und fühlte mich glücklich wie schon lange nicht mehr, ständig darum bemüht, nicht umzukippen und in Ohnmacht zu fallen.
Keine Ahnung warum, allein das Ein- und Ausatmen überforderte mich ja fast schon, aber ich war groteskerweise einfach stolz auf Mark. Die Leute jubelten begeistert, und die Stimmung entsprach einem wahren Live-Erlebnis. Erst in der Pause fand ich meine Stimme wieder und drehte mich zu meinen Freunden um. „Ist er nicht wunderbar?“, fragte ich mädchenmäßig.
„Na ja, vielleicht solltest du ihn erst einmal kennen lernen, bevor du die Glocken läuten hörst?“, kam es vorsichtig von deren Seite zurück, was ich jetzt wiederum überhaupt nicht kapierte. Nach einer geraumen Weile jedoch fiel der Groschen: Sie meinten Sanchos! Sie waren natürlich informiert! Den hatte ich doch prompt total vergessen. Voll ertappt! Bei aller Mühe, ich konnte mich kaum an ihn erinnern. Gab es einen Sänger? Aber da ich sowieso eine Verabredung in der Garderobe hatte, war ja noch nicht aller Tage Abend.
Ohne mich um Aufklärung zu scheren oder gar das Missverständnis geradezurücken, suchte ich nach den richtigen Worten, um mich davonzustehlen – ich wurde schließlich erwartet. Aber man durchschaute mich. Als ein einstimmiges „Los, geh schon“ aus der Runde meiner Lieben kam, wäre ich fast auf die Knie gefallen, um mich für die guten Nerven und das Verständnis zu bedanken. Es ist wirklich und wahrhaftig ein Geschenk, wenn man solche Freunde hat!
Ich lief also los in Richtung Umkleideraum. Dort angekommen, hätte mich der Mut fast verlassen. Was in solchen Fällen hilfreich ist: nicht nachdenken, anklopfen und rein. Gesagt, getan! Und da stand ich, in einem schmuddeligen Raum, in dem der Rauch stand und sich mit dem Geruch von verschwitzten Musikern mischte.
Von Glanz und Gloria weit entfernt, kippten sich dort Typen mit nackten Oberkörpern das Bier nur so in den Rachen und qualmten, was das Zeug hielt. Techniker und andere wichtige Leute – Frauen waren keine dabei – blickten mir neugierig entgegen und schienen abzuschätzen, was sich unter meinen Klamotten befand. Wahrscheinlich spricht das jetzt nicht unbedingt für mich, aber ich fühlte mich von Anfang an wohl dort.
Mark kam mir, verschwitzt wie er war, entgegen, stellte mich als Arbeitskollegin vor und bot mir etwas zu trinken an.
Wenngleich seine Betonung bei dem Wort „Kollegin“ unmissverständlich klang, blieb trotzdem niemandem verborgen, wie sehr er sich freute, mich zu sehen. Da hätte man schon blind sein müssen! Das führte automatisch dazu, dass die anderen mir gegenüber sofort mit einer enormen Höflichkeit reagierten, mir einen Sitzplatz frei machten und das weitere Geschehen mit Interesse beobachteten.
Ich setzte mich auf eine gammelige Couch mit unzähligen Brandlöchern und bemühte mich um Gelassenheit. Da Mark und Miguel, die einzigen mir bekannten Gesichter, mich sofort ins Gespräch miteinbezogen, kam ich gar nicht erst dazu, mich fremd zu fühlen.
Sanchos, der sich zwar unter den Anwesenden befand, mich aber keines Blickes würdigte, zeigte sich teilnahmslos. Das machte ihn zwar nicht zu einem Sympathieträger, bot mir aber die Gelegenheit, ihn neugierig zu beäugen. Aus der Nähe betrachtet musste ich sagen: Schlecht sah er nicht aus. Vom Hocker riss mich sein Anblick keinesfalls, aber man konnte durchaus von „gutaussehend“ reden.
Die Tatsache, dass er Miguels Bruder war, verblüffte mich ein wenig, denn die Unterschiede hätten kaum größer sein können. Ob sie den gleichen Vater hatten? Auffallend war nicht nur seine altmodische Brille, sondern auch die Tatsache, dass er einen äußerst flachen Hintern hatte. Nicht rund, nicht griffig, einfach nur flach! Und da ich Männer schon immer gut verstehen konnte, die das Sitzfleisch einer Frau zum ausschlaggebenden Kriterium werden ließen, galt Sanchos damit nun leider als durchgefallen. Die Liebe auf den ersten Blick hatte – ganz klar – gerade einen anderen Termin. Das merkte ich sowohl an mir selbst als auch an der Tatsache, dass Sanchos gerade den Raum verlassen hatte. Anscheinend war dieser gleichermaßen mäßig interessiert.
Zugegeben: Ich fühlte mich ein klein wenig gekränkt bei der Tatsache, dass es Männer gab, die mir widerstehen konnten und meinem Charme nicht sofort erlagen. Aber wer wollte schon Sanchos? Mark hingegen überging die Situation gänzlich und reagierte achselzuckend, als ich ihm „Das war wohl nichts!“ ins Ohr flüsterte. Man konnte nicht gerade behaupten, dass er sonderlich traurig darüber zu sein schien, aber was hatte ich erwartet? Wir saßen noch eine Weile beisammen und unterhielten uns über alles Mögliche, bis Mark auf die Uhr sah und erschrocken über den Verzug das Signal zum Aufbruch gab.
Wir verabschiedeten uns, und ich begab mich mit einem „Viel Spaß“ an alle wieder zurück in den Saal zu meinen Freunden. Diesen stand die Neugierde förmlich ins Gesicht geschrieben, aber das konnte ich ihnen kaum verdenken. Um sie nicht am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen, gab ich einen kurzen Lagebericht.
„Mann, ihr hättet die Couch sehen müssen, die war vielleicht dreckig, sage ich euch, so was habt ihr noch nicht erlebt.“ Sollten sie ruhig ein wenig zappeln.
„Mensch Norma, wen interessiert eine verdammte Couch? Was ist nun mit … Wie hieß er noch gleich? Sanchos?“ Violas sonst doch eher ruhige Art glich nun mehr einer Zehnjährigen, die verzweifelt nach ihrer pinken Haarspange schrie. Wir kannten uns seit der fünften Klasse, aber so außer sich erlebte man sie selten.
„Wer ist Sanchos?“, fragte ich zurück.
Wie Spieler vor einem wichtigen Footballspiel standen wir im Kreis, die Köpfe dicht beieinander.
„Du weißt ganz genau, wen ich meine!“ Den Ton kannte ich, deshalb wollte ich es nicht übertreiben.
„Ach, der!“ Meine wegwerfende Handbewegung sprach Bände.
Ich fuhr mit meiner Erzählung fort: „Geht schon. Allerdings hat er mich nicht mal richtig angesehen, geschweige denn, dass wir uns unterhalten hätten.“ Kurze Atempause. „Ist dann ziemlich schnell verschwunden. Habt ihr ihn gesehen?“ Kopfschütteln, große Augen. Noch wussten sie nicht, ob sie mich trösten oder aufheitern sollten.
„Sein Arsch hat mir eh nicht gefallen!“, platzte Martina heraus. Die kleine Feministin hatte immer einen sexistischen Spruch auf Lager.
„Was soll's, nicht so wichtig! Mir egal, war eh von vorne herein ‘ne blöde Idee!“ (Irgendwie musste ich ja meine Ehre wiederherstellen.)
Bevor jedoch das Thema gewechselt wurde, hielt ich es nicht mehr aus.
„Aber wie findet ihr eigentlich Mark? Stellt euch vor, er hat gesagt, dass er sich freut, dass ich da bin, und, meine Güte, habt ihr gesehen, wie gut er aussieht?“
Der Reihe nach verdrehten meine Zuhörer die Augen.
„Norma, nein, hör auf damit!“ baten sie mich.
„Aber er war so zuvorkommend und nett zu mir. Ob er mich mag? Was meint ihr?“ Euphorisch hatte sich meine Stimme erhoben.
Daraufhin hörte ich erstmalig ein besorgtes „Der Mann ist verheiratet! Bitte, pass auf dich auf, Süße!“ von Viola. Sie sah mich nur wissend an, ging jedoch nicht näher darauf ein. In meinem Kopf hallten ihre Worte allerdings noch lange nach. Mir war klar, dass sie recht hatte, natürlich musste ich meine Begeisterung für Mark irgendwie in den Griff bekommen, wenn ich nicht vielen Menschen – einschließlich mir selber – wehtun wollte. Fest nahm ich mir vor, das nie zu vergessen, nie zuzulassen, dass meinen Gefühlen auch Taten folgten.
Für den Moment wollte ich aber nicht weiter darüber nachdenken, wollte nicht in Schwermütigkeit verfallen, sondern die Leichtigkeit des Abends genießen. Ich war so glücklich darüber, hier zu sein. Ich spürte, wie mir der Alkohol durch die Adern strömte, meine Gedanken verschleierte und meine Wangen erröten ließ.
Ich umarmte Viola herzlich, als plötzlich laute Musik ertönte. Es ging weiter, und an ein Gespräch war bei der Lautstärke nicht mehr zu denken. Viola und Sebastian gähnten schon eine Weile vor sich hin und fragten höflich, ob sie mich alleine lassen könnten. „Klar“, antwortete ich und begleitete die beiden zum Ausgang.
Martina und Frieda befanden sich nach wie vor im Publikum, und in ihrer Mitte hörte ich mir die zweite Hälfte des Konzertes an. Diesmal betrachtete ich mir den Sänger etwas genauer. Tatsächlich war Sanchos wahnsinnig gut, soweit ich das beurteilen konnte. Auf jeden Fall machte er auf der Bühne eine weit bessere Figur als in der Garderobe. Aber mehr konnte ich ihm deshalb auch nicht abgewinnen.
Die „Cultures“ glichen in keiner Weise einer kleinen Hobby-Band. Alles wurde im Vorfeld genauestens einstudiert und perfekt aufeinander abgestimmt. Nervosität und Lampenfieber, falls sie es hatten, wurden dem Publikum vorenthalten. Sie waren Auftritte gewohnt, sei es live oder in Fernsehshows. Und das Wichtigste: Man merkte den Bandmitgliedern ihre Freude an der Musik wirklich an! Als sich das Konzert dem Ende zuneigte, klatschten und kreischten die Leute wie verrückt nach Zugaben.
Und dann – eine Viertelstunde später – war alles vorbei. Die Band verließ die Bühne, das Licht im Saal wurde wieder hell, und eine CD begann, leise zu spielen. Menschenmengen lösten sich auf, ausstehende Zechen wurden beglichen und der Weg zum Ausgang angestrebt.
Selbst Martina und Frieda – die Feier-Mäuse – verabschiedeten sich. Sie riefen mir augenzwinkernd „Viel Spaß“ zu und verschwanden. Ich ging in Richtung Garderobe, wollte noch einmal die verbotene Frucht kosten.
Der Anblick, der sich mir beim Betreten der Umkleide bot, war dann auch wirklich zum Piepen. Ich kam mir vor, als platzte ich mitten in eine Dessous-Party. Vier nicht mehr ganz so souverän wirkende Musiker wuselten herum, auf der Suche nach ihrer Kleidung, während sie gleichzeitig versuchten, mit Handtüchern ihren Schweiß abzuwischen, Deo aufzutragen und zu trinken. Wie die Störche hüpften sie einbeinig in ihre Hosen, in dem Versuch, nicht zu fallen.
„‘tschuldigung, komm nachher wieder“, murmelte ich gleichermaßen peinlich berührt wie auch aufs Höchste amüsiert und trat den Rückzug an. „Schmarrn. Setz dich!“, rief Mark energisch meinem Rücken zu. Er hatte diesen Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. Brav wackelte ich daher, leicht zu überreden, zu „meinem“ Sofa und setzte mich hin. Im nächsten Augenblick hielt ich auch schon ein Bier in der Hand, das mir – wer auch immer – gegeben haben musste.
Da saß ich nun, mit freiem Blick auf meinen Chef, der in seinem grauen Schiesser-Feinripp-Schlüpfer mit den anderen über irgendetwas hitzig diskutierte. Kein Wunder, dass mich das überforderte, oder?
Ich war bestimmt nicht prüde, und ein paar Typen in Unterwäsche reichten nun wirklich nicht aus, um mich zu erschüttern oder meine überaus gesunde Gesichtsfarbe zu erklären. Das Problem war vielmehr, dass aus Marks Short die schönsten Männerbeine herausragten, die ich je gesehen hatte: lang, schlank und behaart.
Natürlich sind die Beine eines jeden Mannes behaart, könnte man jetzt einwenden – was, nebenbei bemerkt, nicht stimmt! Und bei einer kritischen Betrachtungsweise ist es kein Geheimnis, dass zwischen behaart und behaart gravierende Unterschiede existieren! Denn: Nicht alles, wo Haare drauf sind, ist automatisch auch sexy! Bei Mark reden wir von einem dunklen gleichmäßigen Wuchs! Nicht von einem Extremfall oder gar einer gorilla-ähnlichen Optik, sondern von einer schönen, ausgewogenen Haardecke auf Ober- wie Unterschenkel verteilt, sodass ein seidiges Schokobraun erzeugt wurde. Und da aktuell gleich mehrere Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung standen, wurden mir die Unterschiede erst richtig vor Augen geführt.
Miguel, der Ärmste, trug beispielsweise seinen Oberkörper auf zwei kalkweißen, o-förmigen und proportional etwas zu langen Beinen spazieren, denen – ungelogen! – gänzlicher Haarwuchs fehlte. Zwar wies sein Kopfhaar eine Länge auf, dass er es zu einem Pferdeschwanz binden konnte (als Ausgleich möglicherweise), doch seine Beine glänzten wie poliert. Ich wünschte, das wäre bei mir so! Den Pitch gewann allerdings ohne Zweifel Uwe – der Gitarrist. Da konnte selbst das Eichhörnchen Miguel nicht mithalten. Hochgewachsen schienen seine extrem dünnen und gleichzeitig schlaksigen Beinchen kaum in der Lage, ihn tragen zu können. Seine Rippen traten sichtbar hervor, und mit zwanzig Kilo mehr wäre er immer noch untergewichtig gewesen. Der Verdacht auf Magersucht lag somit unverkennbar nahe, denn auch sein Oberkörper zeigte deutlich jeden einzelnen Knochen. Als Uwe dann auch noch betonte, abnehmen zu müssen, tat er mir fast leid. Gesund hörte sich das wirklich nicht an! Und die wenigen rotblonden Härchen an seinen Waden konnten die traurige Erscheinung leider auch nicht unbedingt ausgleichen, sprich: Mark war mit und ohne Konkurrenz meine Numero Uno!
Als alle wieder in ihren normalen Klamotten steckten, beruhigte sich auch mein Herzschlag wieder einigermaßen. Lachen und Gespräche über den Auftritt mischten sich immer wieder mit Bemerkungen über meine Lackhose, die anscheinend jeder irgendwie erwähnenswert fand. Als Schlagzeuger war Mark zwar große Klasse, schauspielerisches Talent besaß er dagegen keines. Sein Entzücken darüber, meinen Po in dieser außerordentlichen, roten Glanzverpackung zu sehen, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Über den ganzen Abend hinweg war mir sehr wohl aufgefallen, dass ihn mein Outfit antörnte, dass er in mir jemand anderen sah als in der Firma. Ob mir das gefiel? Oh ja! Es gefiel mir sogar ausgesprochen gut, mal nicht einen auf Kumpel machen zu müssen, sondern mit meinen Reizen ein wenig zu spielen. Und was sollte in dieser Runde schon passieren? Ich befand mich auf sicherem Terrain, da Mark sich an dieser Stelle niemals die Blöße gegeben, geschweige denn seine Grenzen überschritten hätte. Wie die Karotte, die vor dem Esel – der seinen Karren zog – baumelte, blieb ich unantastbar und dennoch heiß begehrt. Ein nicht gerade unliebsamer Zustand.
Doch es war mittlerweile weit nach Mitternacht, und auch Mark packte langsam seine sieben Sachen. Der Raum wurde immer leerer, und als sich alle verabschiedet hatten, standen wir – plötzlich alleine – ein wenig planlos in der Gegend rum. Es knisterte in der Luft wie vor einem Gewitter, und ich fragte mich, ob ich mit meinem Aufzug nicht doch zu weit gegangen war. Mark, der ganz nah vor mir stand, schien zu überlegen, abzuwägen, ob er mich erst zart in den Arm nehmen oder direkt über mich herfallen sollte. Sein Blick loderte förmlich, und auch seine Atmung hatte sich merklich beschleunigt.
„Du sahst heute wirklich hammermäßig aus, weißt du das?“, meinte er gepresst und mit belegter Stimme.
Mir fehlten die Worte. So gerne hätte ich mich ihm angeboten, mich auf der schmuddeligen Couch meinem Verlangen hingegeben. Ihn nicht anzufassen schmerzte fast, und meine Lippen brannten nach seinem Kuss. Die Situation war absolut eindeutig, aber Mark gebunden. Und mit einem Blick auf seinen Ehering wich ich einen Schritt zurück.
Nun gab es eigentlich nichts mehr zu sagen. Wir waren erwachsen und uns der Eindeutigkeit der Situation bewusst, ohne dass wir uns dafür schämten. Er akzeptierte, ebenso wie ich, den Sachverhalt, auch wenn wir dem Moment fast nachgegeben hätten – aber eben nur fast. So betonten wir mehrmals, dass uns der Abend gefallen hatte, gingen zur Normalität über und taten, als sei nichts passiert. War es ja auch nicht! Leider!
Natürlich fielen mir Marks hängende Schultern auf, die leichte Traurigkeit in seinem Blick, aber ich ignorierte es. Denn eines stand ganz klar fest: Morgen würden wir wieder im Büro sitzen, als zwei Kollegen, die sich in der Tat gut verstanden, doch der Zauber wäre vorbei. Einen Abend lang hatten wir uns frei von Verpflichtungen jeglicher Art an einem neutralen Ort befunden, ohne ständiges Nachdenken, sondern nur um sich an dem Anderen zu erfreuen. Doch es gab keinen gläsernen Schuh, den mir der Königssohn nach dem Ball hinterhertragen würde, keine Kutsche aus einem Kürbis, und ein Happy End würde uns ebenfalls vorenthalten bleiben. Wozu also mehr Energie verschwenden als nötig? Worauf hoffen? Weshalb leiden?
Nach einer unspektakulären Verabschiedung ging ich zu meinem Auto und fuhr alleine nach Hause, während Mark in ein vorgewärmtes Bett schlüpfen würde. Ich versuchte, mich trotzdem über den Abend zu freuen, meine Ängste die Zukunft betreffend auszuschließen und fiel ins Bett. Dort schlief ich übermüdet sofort ein, mit einem leisen Summen in den Ohren, das mich an die laute Musik eines wunderbaren Abends erinnerte.