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ОглавлениеKapitel 2
Die „Wolke von Zeugen“ und die Frage der Wiedergeburt
Bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr ereignete sich nichts, was den ruhigen Gang seines Lebens geändert hätte. Rees war zu einem gutaussehenden, breitschultrigen jungen Mann herangewachsen, hatte zarte Hände, eine kantig geschnittene Stirn, wie man sie des Öfteren bei Menschen aus Wales sieht, und vor allem ungewöhnliche Augen: klar und durchdringend – die Augen eines Sehers. Doch hinter dem ruhigen Äußeren verbarg sich ein starker innerer Trieb: Ehrgeiz. Er wollte die Welt sehen. Er wollte Geld verdienen. Amerika war der Magnet, der ihn anzog. Verschiedene junge Männer aus dem Dorf waren in die USA ausgewandert. Sie schickten begeisterte Berichte nach Hause. An einem Tag verdienten sie dort so viel Geld, wie man in Südwales kaum in einer Woche erarbeiten konnte. Als Rees das hörte, konnte ihn nichts mehr zurückhalten, nicht einmal die Liebe zu seinen Eltern. Er wog die Vor- und Nachteile ab, und jedes Mal fiel dieser Vergleich zugunsten Amerikas aus. Seine Brüder studierten, um Karriere zu machen. Er aber wollte reich werden und sich dann früh zur Ruhe setzen. Evan Lewis, einer seiner Cousins, war ausgewandert und arbeitete nun in New Castle, in der Stahlregion um Pittsburgh. Dorthin ging auch Rees. Er fand Arbeit in einer Zinnhütte. Kurz bevor er Brynamman verließ, sprach Gott jedoch in besonderer Weise zu seinem Herzen. Rees nannte dies die größte innere Segnung, die er vor seiner Bekehrung empfing. In einem Gottesdienst, bei dem er zu spät kam und wegen des großen Andrangs nur noch im Vorraum einen Stehplatz bekommen konnte, wurde der Text aus Hebräer 12,1 vorgelesen: „Darum lasst auch uns, weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben (…).“ „Diese Zeugen“, sagte der Pastor, „sind die Männer des Glaubens, die im vorhergehenden Kapitel erwähnt sind, und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass sie auch uns heute umgeben. Wir wissen, dass sie wirklich da sind, denn auf dem Berg der Verklärung sprachen Mose und Elia mit dem Herrn und die Jünger sahen sie.“ Dann rief der Pastor, als wüsste er, dass Rees unter den Zuhörern war: „Junger Mann, du verlässt vielleicht nun deine Heimat. Du gehst an einen Ort, wo deine Eltern dich nicht mehr unter den Augen haben. Aber denk daran, dass die Wolke von Zeugen und Gott selbst dich überall sehen.“ Diese Worte schlugen bei Rees ein. Sie waren ihm neu und bewirkten, dass er einen starken Eindruck von der anderen Welt bekam. „Ich sah den in Hebräer 12,22 erwähnten Berg“, sagte er, „die Stadt des lebendigen Gottes, die Myriaden von Engeln und die Versammlung der Erstgeborenen“, und er sah sie nicht als Spione, die ihn beobachten sollten, sondern empfand, dass ihr Anblick ihn ermutigen und stärken sollte. Es war wiederum Gottes überschattende Hand, die das erwählte Gefäß in besondere Obhut nahm, bis er ihm seinen Sohn offenbaren würde. Diese Wolke von Zeugen blieb bis zu seiner Bekehrung die stärkste Realität seines Lebens.
„Wiedergeboren“: Diesen Ausdruck hatte Rees noch nie gehört.
Nach seiner Ankunft in Amerika führte er dort das gleiche gottesfürchtige Leben weiter wie zu Hause. Er wurde Mitglied einer christlichen Gemeinde und fehlte bei keiner Gebetsversammlung. Nur einmal erlag er beinahe der Versuchung weltlicher Vergnügungen, als ein Freund ihn zu einem Boxkampf einlud. Zweifellos zog ihn sein früheres Interesse am Boxen dorthin. Aber die bewahrende Hand Gottes war nicht umsonst über ihm. Am Tag vor dem Boxkampf kam ihm auf einmal der Gedanke: „Wenn dein Vater oder dein Onkel hier wäre, würdest du dann auch hingehen? Und wie ist es mit der Wolke von Zeugen?“ Er sagte seinem Freund, dass er ihn nicht für alles Geld der Welt begleiten würde!
Wie konnte ihn Gott bei einem so aufrechten Leben dann aber zu der Erkenntnis bringen, dass er in Sünde geboren war und Erlösung brauchte? Sogar sein Pastor dachte von ihm, dass er „der beste junge Mann in der Gemeinde“ sei – ein Hinweis darauf, dass der Pastor das, was Rees fehlte, wahrscheinlich auch nicht hatte. Rees’ Fall war dem des Apostel Paulus nicht unähnlich: „Was die Gerechtigkeit betrifft, untadelig im Gesetz“ (Phil. 3,6). Wenn man sich keines Mangels bewusst ist, kann auch nicht der Wunsch nach einer Veränderung da sein. Aber Gott hat seine Wege.
Zunächst sprach er zu ihm durch seinen Cousin Evan Lewis. Dieser beunruhigte ihn eines Abends durch die Frage, ob er „wiedergeboren“ sei. Rees hatte diesen Ausdruck noch nie gehört. Er war in dieser Hinsicht genauso unwissend wie Nikodemus. Er fühlte sich jedoch angegriffen und wollte sich verteidigen. „Was meinst du damit? Mein Leben ist ebenso gut wie deines.“ – „Darum geht es nicht. Man kann es auch so ausdrücken: Weißt du, ob du gerettet bist?“ – „Ich bin ein Christ, und das genügt mir.“ Obwohl er danach vorgab, nicht überzeugt worden zu sein, war jedoch von da an immerhin seine Selbstzufriedenheit erschüttert. Sein Cousin war treu und ließ die Angelegenheit trotz der stets fruchtlos endenden Unterhaltung nie fallen. Eines Tages hatte der Pfeil aber doch getroffen. Lewis erzählte ihm, dass seine Schwester ihm auf ihrem Sterbebett ans Herz gelegt habe, dass auch er einen persönlichen Heiland brauche, und er habe damals bei ihren Worten „Golgatha gesehen“. Wieder wusste Rees nicht, was sein Cousin meinte. Aber er fühlte instinktiv, dass er sich auf heiligem Boden befand, und eine innere Stimme schien ihn davor zu warnen, länger über diesen Gegenstand herumzustreiten. Der Eindruck war so stark, dass er sich sogar entschloss, den Ort zu verlassen und anderswo Arbeit zu suchen, damit er bloß nicht an das „Verbotene“ rührte.
Der Himmel war ihm auf der Spur …
Er zog nach Martins Ferry, das etwa hundert Meilen entfernt lag. Als sein Cousin ihn zum Bahnhof brachte, trieben auch dort noch seine letzten Worte den Pfeil tiefer: „Dein Fortgehen würde mir nichts ausmachen, wenn du wiedergeboren wärst. Aber es macht mir Sorgen, dich so gehen zu lassen, ohne dass du vorher mit Gott ins Reine gekommen bist.“ Rees konnte diese Worte nicht vergessen. Der Himmel war ihm auf der Spur …
Die Erkenntnis begann ihm erst wirklich zu dämmern, als er eines Tages ein bedeutendes Buch jener Zeit las: Professor Henry Drummonds „Natürliches Gesetz in der geistlichen Welt“. Drummond erzählt darin, dass es ihm unmöglich gewesen sei, das Wesen des Lebens zu definieren, bis er in den Werken von Herbert Spencer eine solche Definition fand. Spencer sagt: Leben ist „Austausch mit der Umwelt“. Ein Kind wird mit fünf Sinnen und verschiedenen Körperorganen geboren, die alle mit der Umwelt korrespondieren und auf sie reagieren. Das Auge sieht Bilder, das Ohr hört Töne, die Lunge atmet Luft usw. „Solange zwischen meiner Umwelt und mir ein solcher Austausch besteht, habe ich Leben“, sagt Spencer. „Wenn mir etwas zustößt, das mich an diesem Austausch hindert, dann muss ich sterben. Wo kein Austausch ist, da ist Tod.“
Drummond wandte diese Definition auch in Bezug auf Adam und den Sündenfall an. Gott hatte zu Adam gesagt, dass er an dem Tag, da er ungehorsam wäre, sterben müsse. Starb er denn wirklich? Nach Spencers Definition starb er geistlich: Während er das natürliche Leben behielt, verlor er doch seinen nahen Umgang mit Gott. Diese Verbindung konnte er nur auf dem Wege des Opfers zurückgewinnen, nur dadurch, dass ein anderes Leben an seiner Stelle geopfert wurde.
Als Rees dies las, war sein erster Gedanke: „Habe ich Umgang mit Gott?“ Konnte er sagen, dass der Heiland für ihn ebenso wirklich sei wie beispielsweise seine Mutter? Kannte er Gott als eine tägliche Gegenwart in seinem Leben oder dachte er nur während der Gebetstreffen an ihn? Und wenn er jetzt sterben würde, würde er dann mit einer anderen Umwelt in Verbindung treten? Er fühlte sich seinen Eltern nahe verbunden. Die Entfernung beeinträchtigte seine Gemeinschaft mit ihnen nicht. Mit Gott aber hatte er solche Gemeinschaft nicht. Wieder erinnerte er sich an die Worte, die sein Cousin mehrmals zu ihm gesagt hatte: „Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh. 3,3).
„Jetzt verstand ich das auf einmal“, sagte Rees. „Und ich glaubte an den Heiland, aber ich wusste zugleich, dass ich noch nicht wiedergeboren war. Was meine Beziehung zu dem geistlichen Reich betraf, in dem der Heiland lebte, war ich ein toter Mensch. Ich war außerhalb seines Reiches; mein anständiges Leben und meine ganze Religion konnten mir dort keinen Eintritt verschaffen. Ich war vielleicht kein Trinker oder Dieb, aber trotzdem war ich außerhalb des Reiches, weil ich keine lebendige Verbindung mit Gott hatte.“
Seine religiöse Selbstzufriedenheit war erschüttert. Zwar hatte er keine große Sündenerkenntnis, aber er wusste jetzt, dass eine Kluft zwischen ihm und Gott bestand. Eine tiefe Sorge um sein ewiges Heil beschäftigte ihn von nun an viel mehr als die Sorge um die Dinge dieser Welt.