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Heutige Identität der Juden
Оглавление1992 fand in Oxford ein Symposion über »Jüdische Identitäten« im Neuen Europa statt. Der Sozialanthropologe Dr. Jonathan Webber, der dazu eingeladen hatte, warnte vor vereinfachenden Versuchen, die jüdische Identität auf oberflächliche Merkmale zu reduzieren, weil diese irreführend sein können. So mögen streng orthodoxe chassidische Juden wegen der Art, wie sie sich kleiden, als besonders rückwärtsgewandt erscheinen. Doch bis heute haben sie in den modernsten Metropolen wie New York Erfolg, weil sie sich auf die Bedingungen der Teilnahme an den Strukturen des modernen Kapitalismus hervorragend einzustellen wussten.
Webber hat recht mit seiner Warnung, doch ist die Situation noch komplizierter, als er meint. Die Identität des Individuums umfasst viele Elemente, und die spezifisch jüdischen sind nie mehr als der Teil eines Ganzen. Heutige europäische Juden entwickeln die jüdischen Aspekte ihrer Identität aus einer Fülle von Optionen, die sich ihnen durch das Studium der Quellen wie durch Kontakte mit anderen Juden erschließen. Bis zu einem gewissen Grad sind ihre Entscheidungen, die sie dann tatsächlich treffen, von Familie, Gemeinde, persönlichen Erfahrungen und der kulturellen Umwelt beeinflusst. Vor allem aber wird nach dem Erwerb des Grundwissens alles, was mit ihrer Identität zu tun hat, durch die Auswirkungen der Schoah (des Holocaust) und die Bedeutung des Staates Israel bestimmt.
Die meisten Länder, in denen Juden heute leben, sind weitgehend säkulare Staaten mit einer pluralistischen Gesellschaft. Eine solche Umwelt bietet der Entfaltung der Identität ungeahnte Möglichkeiten und versetzt den einzelnen Juden in die Lage, sich autoritären Definitionen von Judentum, auch solchen von jüdischen Führern, zu widersetzen.
Natürlich müssen sich erst Gemeinschaften und größere Strukturen bilden, welche wiederum begrenzt sind, doch zumindest eine Minimaldefinition dessen erfordern, wer und wer nicht dazugehört. Derlei Gemeinschaften und Organisationen sollten den Spielraum gegenseitiger Toleranz und Anerkennung maximal ausschöpfen. Mögen manche Menschen sich auch unsicher fühlen, wenn die Normen unscharf definiert sind, so wäre es doch ein größeres Übel, wenn die individuelle Freiheit unterdrückt und die Evolution des Judentums blockiert würde.
Niemand kann wissen, welche Formen die jüdische Identität annehmen wird, wenn sich die Wogen über dem Neuen Europa geglättet haben und ein dauerhafter Friede im Nahen Osten und in Israel eingekehrt ist. Zweifellos werden neue und andere Formen des Judentums und der jüdischen Identität entstehen. Narren mögen voraussagen, wie diese »Judaismen« aussehen werden; womöglich wird die Zukunft sie widerlegen, aber daraus entsteht kein großer Schaden. Schurken, die nach Macht streben, versuchen, der Zukunft ihre eigenen Strukturen zu oktroyieren; wahrscheinlich werden sie scheitern, jedoch bei dem Versuch sicher großen Schaden anrichten.