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Einleitung Die Suche nach den richtigen Wörtern
ОглавлениеDies ist ein Buch in deutscher Sprache. Wie alle anderen Sprachen, die sich in einer christlichen Kultur entwickelten, ist sie nicht neutral. Sie ist vielmehr mit christlichen Begriffen und Prämissen befrachtet. Und da das Christentum im 1. Jahrhundert nach der Zeitwende aus einem innerjüdischen Konflikt entstand und sich gegen das Judentum abgrenzte, ist es schwierig, die jüdische Religion aus einer christlichen Kultur und Sprache heraus so unbefangen zu betrachten, wie man etwa den Schintoismus oder den Buddhismus betrachten würde. Man denke nur an einige der beleidigenden Untertöne, die in dem schlichten Wort »Jude« lange Zeit mitschwangen.
Wenn man mit Fragen beginnt: »Was denken die Juden von Jesus?« oder: »Was ist im Judentum wichtiger, der Glaube oder die Werke?«, ist man bereits auf dem Holzweg: Auf diese Weise nähert man sich der jüdischen Religion mit christlichem Gepäck. Es finden sich in diesem Buch auch auf solche Fragen Antworten, doch helfen sie nicht, das Judentum so zu verstehen, wie es sich selbst, von innen heraus, versteht. Für das Judentum steht Jesus nicht im Zentrum, noch setzt es voraus, dass Glauben und Werke einen Gegensatz bilden.
Beginnen wir daher von vorne und versuchen herauszufinden, was »Judesein« heißt und wie die jüdische Religion von innen aussieht. Es folgt zuerst eine Liste von zentralen Begriffen, die einer Gruppe christlicher Studenten nützlich erschienen, um anderen das »Christsein« zu erläutern:
Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist
Glaube
Auferstehung
Liebe
Erlösung
Geburt Christi
Taufe
Abendmahl
Sündenvergebung
Gebet
Kreuzigung
Hoffnung
Bekehrung
Gemeinschaft des Glaubens
Konfirmation und Kommunion
»wiedergeboren«
Himmelfahrt
Gehorsam
Rechtfertigung
ewiges Leben
Heilige Schrift
Nachfolge Christi
Die nächste Liste stammt von einem gläubigen Juden, der einer Gruppe von Christen seinen Glauben erklären wollte:
Gott (persönliche, historische, vielgestaltige Beziehung)
Thora (der Weg, die Weisung [Martin Buber], das Lehren, nicht das Gesetz)
Mizwa (»Gebot« = die praktische Einheit der Thora = gute Tat)
Awera (Gesetzesübertretung, Sünde)
Freier Wille
Teschuwa (Rückkehr, »Umkehr« zu Gott, Buße)
Tefilla (Gebet)
Zedaka (»Gerechtigkeit«, »Korrektheit« = Nächstenliebe)
Chesed (Liebe, Mitleid, Güte)
Jetzer Ha-Tow (»guter Trieb« – die angeborene psychische Neigung, Gutes zu tun), im Gegensatz zu Jetzer Ha-Ra (der Trieb, Böses zu tun; Ursache wie Heilmittel für die Untreue gegenüber Gott liegen beim einzelnen Menschen)
Israel (Volk, Land, Bund Gottes)
Etliche Begriffe (Gott, Thora, Israel) sind deutschsprachigen Christen durchaus vertraut. Doch derjenige, der die Liste zusammenstellte, glaubte offensichtlich, sie seien dennoch erläuterungsbedürftig, weil sie leicht missverstanden werden könnten. Die Mehrzahl sind dagegen rein hebräische Begriffe; ihre Bedeutung im Deutschen zu formulieren ist überaus schwierig, obgleich es sich um alltagssprachliche, also eigentlich »leichte« Wörter handelt.
Dass alle Begriffe der christlichen Liste, bis auf die christologische Gruppe »Sohn«, »Kreuzigung«, »Himmelfahrt« und »Geburt Christi«, auch in einem jüdischen Gespräch vorkommen könnten, ist nicht weiter überraschend. Doch sie transportieren andere Bedeutungsnuancen und haben ein anderes dogmatisches ›Gewicht‹. Gerade die in beiden Glaubenstraditionen viel benutzten Begriffe »Bund Gottes«, »Erlösung« und »Heilige Schrift« sind es aber, die am meisten Verwirrung stiften. Ihre Bedeutungen decken sich partiell, sind aber nicht identisch. So hat man manchmal den Eindruck, dass die beiden Religionen durch eine gemeinsame Sprache mehr getrennt als vereint sind.
Man störe sich nicht daran, dass die hebräischen Wörter so klingen, als ließen sie sich nur schwer einprägen oder verstehen. Sie werden in diesem Buch, wenn nötig, immer wieder erklärt. Ihre Bedeutung erlernt man freilich am besten im Kontext: bei der Lektüre dieses oder anderer Bücher oder im Gespräch mit Juden, die sie als ganz selbstverständlich verwenden. Es verhält sich damit genau wie mit dem Erlernen einer anderen Sprache – und es handelt sich ja auch wirklich um das Lernen einer Sprache, nämlich der ›natürlichen‹ Sprache der jüdischen Religion.
Religionen sind keine abstrakten Gebilde. Ihre Anhänger beteuern oft, Gott habe sie ihnen eingegeben oder sogar die heiligen Texte diktiert und sie seien ewig gültig. Doch die Menschen müssen diese Texte für ihr Leben auslegen und sie anwenden, und die auf den folgenden Seiten entrollte Geschichte handelt davon, wie die Juden mit ihren Texten während der vergangenen zwei Jahrtausende gelebt haben.
Unsere Geschichte hat vier Darsteller: Gott, die Thora, das Volk Israel und die umgebende Welt. Beziehungen spielen in ihr eine zentrale Rolle: das ›Einzelne‹ (Israel) steht in ständiger Wechselwirkung mit dem ›Allgemeinen‹ (der Menschheit als ganzer in Gestalt der kulturellen Umwelt). Es gibt Herausforderungen und Reaktionen, Spannungen und Lösungen, Tragödien und Freuden.
Judentum im engeren Sinn ist die Religion der Juden. Aber wer sind die Juden? Das ist das Thema des ersten Kapitels. Vorerst betrachten wir als Juden alle Mitglieder jener heutigen Gruppen, die sich positiv auf die von den Rabbinen des Talmuds definierten Traditionen beziehen (mehr über den Talmud in Kapitel 3). Ausgeschlossen ist dadurch die »Religion des Alten Testaments«, die in den eher reaktionären theologischen Seminaren noch immer als Zweig der Judaistik präsentiert wird. Die ›Welt‹ der Rabbinen wurzelt in jenen Partien der Hebräischen Schrift, auf die sie ihre Autorität stützt. Wir werden allerdings sehen, dass diese Welt von einer wörtlichen Textauslegung weit entfernt ist.
Unsere Definition schließt auch andere »jüdische Sekten« aus, die im 1. Jahrhundert ihre Blütezeit hatten – Essener, Sadduzäer, Samariter und »Judenchristen«. (Einige dieser Gruppen werden uns freilich in Kapitel 2 wiederbegegnen. Dort wird berichtet, wie es zur Spaltung von Judentum und Christentum kam, die ursprünglich eine Religion bildeten.)
Das zentrale Thema dieser Einführung bildet die Religion. Sie lässt sich jedoch nicht von der Gesellschaft, der Geschichte oder den emotionalen Erfahrungen und geistigen Erkenntnissen ihrer Gläubigen trennen. Wir flechten daher einige Informationen über die jüdische Gesellschaft und die Geschichte der Juden ein.
Dabei treffen wir unsere eigene Wahl zwischen den großen Schulen der jüdischen Historiographie, welche die gleiche Geschichte so verschieden erzählen. Da gibt es die »tränenreiche« Schule, für welche die jüdische Geschichte ein Jammertal, ein Leiden und Martyrium, eine einzige Kette von Verfolgungen ist. Diesen Typus kennen wir seit Ephraim von Bonn aus dem 12. Jahrhundert, der seine berühmte Martyrologie im Gefolge der den Zweiten Kreuzzug begleitenden Massaker an den Juden im Rheinland, in England und Frankreich verfasste. Weiter gibt es die »Jerusalem«-Schule (Ben Zion Dinur), in deren Sicht die ganze jüdische Geschichte auf das Land Israel bezogen ist. Am anderen Pol steht der große Historiker Simon Dubnon, der die positiven Leistungen des »Diaspora-Judentums« hervorhob. Und es gibt die traditionellen Theologen, die – in echt biblischem Stil – die jüdische Geschichte behandeln als fortlaufende Erzählung von der Sündhaftigkeit und Buße des jüdischen Volks und von Gottes Strafen und Belohnungen oder sie in große »vorherbestimmte« Zyklen einteilen, die in der Ankunft des Messias kulminieren. Scherira Gaon, im 10. Jahrhundert in Babylon lebend, wurde zum Vorbild für all jene, die jüdische Geschichtsschreibung als die Aufgabe ansahen, die authentische Tradition bis zu Moses zurückzuverfolgen. Franz Rosenzweig im 20. Jahrhundert dagegen scheint die Bedeutung der Geschichte überhaupt zu negieren: »Wir sehen Gott in jeder ethischen Handlung, aber nicht in dem vollendeten Ganzen, der Geschichte; denn wozu bräuchten wir einen Gott, wenn die Geschichte göttlich wäre?«
Für uns jedoch steht die kreative Geschichte des Judentums im Vordergrund. Die Leiden, die Verfolgungen und Vertreibungen kann niemand leugnen. Erstaunlich aber ist, dass der jüdische Geist dennoch über die Jahrhunderte hinweg geblüht hat in einer noch immer nicht endenden Prozession von Dichtern und Heiligen, von Philosophen und Bibelkommentatoren, von Grammatikern und Talmudisten, von Juristen, Satirikern, Rabbinen und Pädagogen, aber auch von unbesungenen Frauen und Männern einfachen Glaubens.