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Wie dachten die Juden früher über sich selbst?
ОглавлениеSolange die christliche oder muslimische Umwelt die Juden weiter als ein »besonderes Volk« definierte und Gesetze zur Sanktionierung ihres speziellen Status erließ, haben die Juden ihre gesellschaftliche Situation verinnerlicht und ihr Los in den alten biblischen Kategorien interpretiert. Sie sahen sich als Gottes auserwähltes Volk, als eine Nation im Exil. Wie ihre Unterdrücker glaubten sie, Gott habe sie wegen ihrer Sünden verbannt. Doch sie zogen daraus andere Schlüsse als Christen und Muslime. Während die Christen und – in einem geringeren Maße – die Muslime verkündeten, Gott habe die Juden, indem er sie bestrafte, verworfen und fallengelassen, hielten die Juden ihr Los für eine Bestätigung ihres Status der »Auserwähltheit«: »Wen der Herr liebt, den züchtigt er« (Sprüche 3,12). Die Völker, bei denen sie im Exil lebten, glichen den »unreinen« Götzenanbetern von ehedem, deren Schmeicheleien und üblem Einfluss sie um jeden Preis widerstehen mussten – bis zu der Zeit, wo Gott in seiner unendlichen Gnade beschließen würde, sein Volk zu erlösen und unter seinen Schutz zu stellen.
So hatten die Juden im ganzen Mittelalter und bis weit in spätere Zeit überall da, wo mittelalterliche Denkweisen und Gesellschaftsstrukturen fortbestanden, kein ›Identitätsproblem‹. Und da ihre eigenen Traditionen und ihre kulturelle Umwelt sich gegenseitig stabilisierten, war eine klare Trennlinie zwischen ihnen und ihren geographischen Nachbarn gezogen.
Natürlich gab es immer Sonderfälle, doch sie waren gering und ließen sich leicht durch tradierte Regeln entscheiden. Was war etwa der Status eines Kindes jüdischer Eltern, das von einem Feind gefangengenommen, christlich erzogen und später wieder in den Schoß des jüdischen Volkes zurückgekehrt war? Oder was war der Status des Kindes einer jüdischen Frau, die – wie es nicht selten geschehen sein mochte – von einem christlichen Soldaten oder Oberherrn vergewaltigt wurde? Die Regel, die sich zumindest bis in die Römerzeit zurückverfolgen lässt, war klar. Das Kind einer jüdischen Mutter war Jude; das Kind eines jüdischen Vaters mit einer nichtjüdischen Frau war Nichtjude, zumindest so lange, bis es formell konvertiert war. Diese Regel gilt noch immer in den meisten jüdischen Gruppen. In jüngster Zeit jedoch haben Reformkongregationen in den USA, dem Trend zur Geschlechtergleichstellung folgend, entschieden, dass wenn einer der beiden Eltern Jude ist, das Kind die vollen Rechte in der jüdischen Gemeinde besitzt, ohne formell konvertiert sein zu müssen (vgl. S. 137).