Читать книгу Judentum. Eine kleine Einführung - Norman Solomon - Страница 14
Warum kam es zur Spaltung?
ОглавлениеVon einer erbitterten Konfrontation zwischen den Führern der jüngst gegründeten christlichen Sekte – vermutlich irgendwann zwischen 50 und 60 n. d. Z. – berichtet das 15. Kapitel der Apostelgeschichte im Neuen Testament. Um diese Zeit hatte Paulus, der bis dahin die Anhänger Jesu unerbittlich bekämpft hatte, seine berühmte Vision auf der Straße nach Damaskus erlebt, worauf er sich der von ihm zuvor verachteten Sekte anschloss. Mit seinem Freund Barnabas kehrte er von Antiochia in Syrien nach Jerusalem zurück, um bei den »Ältesten« um Unterstützung für seine Auffassung zu werben, dass zum Christentum konvertierte Heiden sich weder beschneiden lassen noch dem »Gesetz des Moses« gehorchen mussten.
Es gab eine hitzige Debatte. Während Paulus und Petrus (beide selbst Juden) für eine Lockerung der strengen Anforderungen des Gesetzes plädierten, um den Heiden die Konversion zu erleichtern, hielten andere die uneingeschränkte Verpflichtung gegenüber der Thora und ihren Gesetzen für sakrosankt. Jakobus, der Bruder Jesu, machte schließlich den Vorschlag, man solle den Heiden keine zu große Bürde auferlegen und sie nur anweisen, »Verunreinigung durch Götzenopfer[fleisch] und Unzucht zu meiden und weder Ersticktes noch Blut zu essen« (Apg. 15,29). Dieser Kompromiss, heißt es in der Apostelgeschichte weiter, wurde von der Versammlung angenommen und ein entsprechender Brief nach Antiochia, Syrien und Kilikien abgesandt.
Aus anderer Quelle ist jedoch bekannt, dass dieser Kompromiss keine einhellige Unterstützung fand. Paulus selbst erklärte immer wieder das »Gesetz des Moses« (wozu etwa das Verbot, Fleisch von erstickten Tieren zu essen, gehörte) für obsolet. Andererseits blühte eine Zeitlang die »judenchristliche« Gemeinde, welche die »Thora des Moses« vollständig befolgte und ihre besondere Identität trotz der Marginalisierung durch paulinische Christen jahrhundertelang bewahrte; vermutlich gehörte ihr auch Jakobus an. Über ihre Version des Jerusalemer Apostelkonzils können wir nur spekulieren, denn es waren Paulus’ Nachfolger, die das Neue Testament verfassten und so das spätere Christentum prägten. Geschichte wird von den Siegern geschrieben – in einer Perspektive, die ihre Interpretation der Ereignisse rechtfertigt.
Was immer sich bei dem Konzil in Jerusalem abgespielt haben mag, der Bericht in der Apostelgeschichte wirft ein Schlaglicht auf die Ursachen, die Juden und Christen entzweiten. Offensichtlich war man sich uneinig darüber, ob gewisse Gesetze der Thora noch immer galten. Nicht nur ein Streit über die Glaubenslehre war entbrannt, es drohte vielmehr auch eine gesellschaftliche Spaltung. Eine Nation oder Religionsgemeinschaft definiert ihre Identität über Gesetze, Bräuche und Rituale. Mögen kleinere Meinungsverschiedenheiten oder individuelle Irrtümer sich manchmal eindämmen lassen, den kollektiven Bruch mit den tradierten Gesetzen wird man als Identitätsverlust wahrnehmen. Der Plan des Paulus, die Heiden in die Gemeinschaft der Gläubigen zu integrieren – den »Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum« einzupfropfen und ihn an der »Kraft seiner Wurzel« teilhaben zu lassen, wie er sich (Röm. 11,17) ausdrückt – erwies sich als unvereinbar mit dem jüdischen Selbstverständnis als Volk oder Gemeinschaft. Statt »Juden und Heiden« zu vereinen, schuf dieser Plan zwei feindliche Gruppen, von denen jede behauptete, das »wahre Israel« zu repräsentieren.
Aus der Apostelgeschichte geht auch hervor, dass sich die Anhänger Jesu um das Jahr 50 als eine besondere Gruppe konstituiert hatten, die mit der jüdischen religiösen Führung in Jerusalem im Streit lag. Andere ›oppositionelle‹ Gruppen – etwa die Sekten vom Toten Meer – stritten sich ebenfalls mit der Jerusalemer Führung, ohne sich als neue Religionen von ihr abzuspalten. Warum war es in diesem Fall anders?
Der Anspruch der christlichen Sekte, dass es sich bei Jesus um den verheißenen Messias handele, reicht für sich genommen nicht aus, die Spaltung zu erklären; gleiches reklamierten auch andere Sekten für sich ohne solch weitreichende Folgen. Ungewöhnlich war indessen, dass eine Gruppe jemanden zum Messias erkor, der bekanntermaßen tot war. Und paradox musste die Behauptung klingen, dass der Messias just zu der Zeit gekommen war, als das Joch der römischen Fremdherrschaft schwerer denn je auf dem jüdischen Volk lastete und die verheißene Ära des Friedens nicht in Sicht war.
Es war nicht eine einzelne Ursache, sondern eine außergewöhnliche Kombination von dogmatischen Differenzen, gesellschaftlichen Faktoren und äußeren Ereignissen, die den weiteren Weg des Christentums als eine vom jüdischen Glauben verschiedene, wenn auch eng mit ihm verwandte Religion bestimmte. Als die Römer im Jahr 70 den Tempel in Jerusalem zerstörten, vertiefte sich die Spaltung. Die Christen nahmen dieses Ereignis als Beleg dafür, dass Gott die Juden verworfen habe, und sahen ihre eigenen Auffassungen bestätigt. Anders die Juden: sie interpretierten es als gerechte Bestrafung für ihre Sünden, nicht als Verwerfung durch Gott. Es war für sie, als hätte ein Vater seine Kinder gezüchtigt. Auch auf einer mehr profanen Ebene gab es ein starkes materielles Motiv, Distanz zum Judentum und Loyalität zu Rom zu demonstrieren, als nach der Plünderung Jerusalems Kaiser Vespasian eine spezielle Steuer von allen Juden – den fiscus Judaicus – erhob.
Nach dem Jahr 70 gab es sicher kein Zurück mehr. Als Christen und Juden sich in Feindschaft voneinander abgrenzten, verhärteten sich auf beiden Seiten die Lehrmeinungen. Hinzu kam, dass die Christen die »Lehre der Verachtung« in Hinblick auf Juden entwickelten, welche soviel Elend und Blutvergießen über das jüdische Volk bringen sollte, bis sie schließlich, losgelöst von ihrem christlichen Kontext, im Holocaust ihren Höhepunkt erreichte.