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Wie sehen sich die Juden heute selbst?

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In einem kürzlich erschienenen Buch über jüdische Identität definiert Michael Meyer, Professor für Jüdische Geschichte am Hebrew Union College Jewish Institute of Religion in Cincinnati, im Anschluss an die Forschungen des Soziologen Erik H. Erikson »Identität« als

»die Gesamtheit der Charakteristika, die die Individuen als konstitutiv für ihr Selbst erachten. Die individuelle Identität wurzelt in Identifikationen des Heranwachsenden mit Personen, die ihm nahestehen, mit deren Werten und Verhaltensmustern. Während es zum Erwachsenen heranreift, müssen diese Identifikationen vom Individuum nicht nur aufeinander abgestimmt, sondern auch an die Normen der Gesellschaft, in der es eine Rolle zu spielen hat, angepasst werden. Dieser Prozess repräsentiert die ›Identitätsbildung‹ […].«

Für den Ghettojuden stellte die Anpassung »an die Normen der Gesellschaft, in der das Individuum eine Rolle zu spielen hat«, kein großes Problem dar. Zwischen den Normen und Werten der Gesellschaft, als deren Glied er sich empfand – d. h. der jüdischen Gesellschaft –, und jenen, die er in der Familie, in der er aufgewachsen war, erworben hatte, gab es keine ernsthaften Konflikte. Familie, Gemeinde und die Fremdheit gegenüber dem, was jenseits lag, bildeten das Amalgam, aus dem sich eine klare Identität herauskristallisieren konnte.

Doch als die Juden in Europa und Amerika allmählich die Bürgerrechte erlangten und sich als Bürger der neuen Nationen oder gar der ganzen Welt fühlten, wurden viele mit radikal anderen Normen als jenen, die sie von ihrer Kindheit her kannten, konfrontiert. Ihre Identität wurde weniger klar, weniger sicher.

Meyer behauptet, dass drei Faktoren zur Ausbildung der heutigen jüdischen Identität beitrugen – Aufklärung, Antisemitismus und die Entstehung des Staates Israel. Wir wollen sehen, worin die Wirkung dieser Faktoren bestand.

Als die Juden, befreit von den Beschränkungen des Ghettolebens, durch die Aufklärung selbst einem Anpassungsprozess an die moderne Kultur unterworfen waren, sahen sie sich gezwungen, ihr eigenes Verhalten statt durch Berufung auf irgendeine Autorität, etwa eine spezielle Offenbarung, durch Vernunftgründe – die allen gemeinsame Diskussionsbasis – zu rechtfertigen. Eine zweite Forderung der Aufklärung war, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien. Sie brachte den Juden zwar neue Bürgerrechte, bedeutete aber zugleich eine Absage an ihr Selbstverständnis als ein »besonderes Volk«.

Niemand hat dies wohl schärfer ausgesprochen als Graf Clermont-Tonnerre, der sich vor der Nationalversammlung der Französischen Revolution 1789 für die volle Staatsbürgerschaft der Juden einsetzte: »Als Volk muss man den Juden alles verweigern, als Individuen aber ihnen alles geben. Sie müssen gleichberechtigte Staatsbürger werden.« Mit anderen Worten, den Juden sollten die vollen französischen Staatsbürgerrechte gewährt werden. Dafür mussten sie auf ihre kollektive Sonderstellung und Autonomie verzichten. Die Entscheidung des Individuums sollte an die Stelle der tradierten Gemeindeautorität treten und die Religion zur »Privatsache« werden. Zwar begrüßten viele Juden diesen Wandel, der sich in West- und in Teilen Mitteleuropas rasch vollzog; vehement wurde er indessen von manchen Traditionalisten bekämpft, die befürchteten, er könnte die etablierte Gemeindeautorität mitsamt dem überlieferten Glauben und Ritus bedrohen. Als die »Plausibilitätsstruktur« traditioneller Glaubensformen, wie Peter L. Berger schreibt, fragwürdig wurde und anstelle der unbefragten Hinnahme der Gemeindeautorität die persönliche Entscheidung trat, wurde »der häretische Imperativ zum Grundphänomen der Moderne«.1

Meyer zufolge ist die Wirkung des Antisemitismus auf die jüdische Identität nicht eindeutig gewesen. Einerseits hat die Ablehnung durch die Außenwelt die jüdische Identität neu gestärkt: Religiöse Erneuerungsbewegungen sind oft in Zeiten der Diskriminierung und Verfolgung erblüht, als die Aufklärungsideale der Vernunft und universellen Menschenrechte ihre Strahlkraft eingebüßt hatten. Als Reaktion auf die »Damaskus-Affäre« von 1840 – die Damaszener Juden waren des Ritualmords angeklagt und von Pogromen bedroht – strömten Juden noch im fernen Amerika zu Protestversammlungen, intervenierten Moses Montefiori in England und Adolphe Crémieux in Frankreich und wurden die Juden weltweit in ihrer Entschlusskraft gestärkt. Und unter der Nachwirkung der »Mortara-Affäre« von 1858 – ein jüdisches Kind war heimlich getauft und von der päpstlichen Polizei in ein Kloster entführt worden – entstand 1859 zunächst der »Board of Delegates of American Israelites« und 1860 die französische »Alliance Israélite Universelle« (AIU). Beide Organisationen festigten – wie schon der 1760 bei der Thronbesteigung Georges III. gegründete englische »Board of Deputies of British Jews« – das jüdische Solidaritätsgefühl, wenngleich ihre primäre Absicht die Verteidigung der Rechte der Juden war.

Andererseits haben die Juden als Reaktion auf den Antisemitismus sich von ihrer Identifikation mit dem Judentum distanziert: durch Verschmelzung mit ihrer kulturellen Umwelt verheimlichen sie ihre jüdische Identität oder geben sie gar ganz auf. Wenn Juden merken, dass sie von Nichtjuden gedemütigt werden, kommen sie sich oft auch in ihren eigenen Augen minderwertig vor, verinnerlichen das gegen sie bestehende Vorurteil und verfallen in Selbsthass. Sie ändern ihre Namen, ihr Äußeres oder ihre Gewohnheiten, um sich ihrer Umwelt soweit wie möglich anzupassen. »Antisemitische Vorurteile machen Juden«, so Michael Meyer, »in Gegenwart von Nichtjuden noch befangener als sonst, mit der Folge, daß sie bestrebt sind, ihr Judentum so lange wie möglich vor dem Auge des nicht vertrauenswürdigen Außenstehenden, dessen Gunst gesucht wird, zu verbergen.«

Karl Marx’ frühe Abhandlung Zur Judenfrage (1844) ist ein faszinierendes Beispiel einer intellektuellen Form jüdischen Selbsthasses. Marx behauptet, das Judentum sei weder eine Religion noch ein Volkstum, sondern Profitstreben. Indem er das riesige jüdische Proletariat in Mittel- und Osteuropa vollkommen ignoriert, setzt er Juden und Christen, deren Religion von der jüdischen abstamme, dem »Feind« gleich, dem Kapitalismus der bürgerlichen Gesellschaft. Marx flieht offensichtlich vor seiner jüdischen Identität – er wurde mit sechs Jahren getauft, stammt aber von beiden Elternseiten von Rabbinen ab –, »assimiliert« sich dem kulturellen Milieu des Antisemiten Feuerbach, dessen groteske Definition des Judentums er übernimmt, und sucht vor dem jüdischen Partikularismus Zuflucht im sozialistischen Universalismus.

Einer von Marx’ engsten Gefährten war der nur wenig ältere Moses Hess, selbst ein bedeutender sozialistischer Philosoph. In einer frühen Schrift urteilte er ähnlich wie Feuerbach und Marx über das Judentum. Später akzeptierte er seine jüdische Identität, die er in seinem zukunftsweisenden Werk Rom und Jerusalem nicht in religiösen, sondern in nationalstaatlichen Kategorien fasste. Anders ausgedrückt, Hess hatte die dritte Bestimmung der jüdischen Identität in der Neuzeit, die Idee der »Rückkehr nach Zion«, wieder aufgegriffen.

Das Paradox des Zionismus – der Begriff wurde erst 1892 geprägt – liegt in seinem doppelten, sowohl religiösen wie säkularen Ursprung. Religiös gesehen war die Rückkehr nach Zion so alt wie Gottes Verheißung an Abraham, dass jenes Land, in dem er wohne, sein Land sei. Diese Verheißung wurde in der Geschichte immer wieder durch religiöse Schriften, Gebete und den frommen Wunsch, im heiligen Land Gottes Gebote zu erfüllen, bekräftigt. Bereits 1782 hatte Elia von Wilna eine »Vision«, die zur Rückkehr nach Zion nebst einem praktischen Programm zur Wiederherstellung Israels aufrief. Und in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat der serbische Rabbiner Jehuda Alkalai, zweifellos vom balkanischen Nationalismus beeinflusst, den uralten Traum von der Rückkehr nach Zion in einer Weise neuformuliert, die sich den zeitgenössischen politischen Kategorien näherte.

Der entscheidende politische Anstoß kam allerdings erst später in diesem Jahrhundert: von säkularen sozialistischen Juden wie Moses Hess und schließlich Theodor Herzl, dem »Vater des modernen Zionismus«. Sie alle lehnten die traditionellen religiösen Glaubensformen ab. Andererseits erkannten sie, dass Aufklärung und Universalismus zwar die jüdische Identität ausgehöhlt, nicht aber den Antisemitismus ausgerottet hatten. Sie teilten mit anderen nationalistischen Philosophen und Politikern des 19. Jahrhunderts das Unbehagen am Universalismus, sahen aber, dass es ohne Preisgabe ihres Judentums unmöglich war, sich zu speziellen europäischen Nationalitäten zu bekennen. Sie lösten dieses Dilemma, indem sie einen spezifisch jüdischen Nationalismus, den Zionismus, kultivierten.

Um eine bewusst säkulare Formulierung der jüdischen Identität war Ascher Ginzberg, besser bekannt unter seinem hebräischen Pseudonym Echad Ha-Am (»einer vom Volk«), bemüht. Er verstand seinen »Kulturzionismus« als Aufruf zur Rückkehr ins geographische Land Israel, um dort eine neue jüdische Kultur zu schaffen. Sie sollte die Moral der Propheten und das Gleichgewicht von Körper und Geist im Sinne der Pharisäer bewahren, doch von religiösen Dogmen und dem restriktiven rabbinischen Ritual frei sein.

Die säkularistische Haltung der führenden politischen Zionisten war den religiösen Führern ein Greuel. Viele bekämpften die zionistische Bewegung, gaben sich aber ihren eigenen Träumen von einer Rückkehr nach Israel in den Tagen des Messias hin. Schließlich aber entstanden auch religiös motivierte zionistische Bewegungen, und zumal seit dem Holocaust und der Gründung des jüdischen Staates sind religiöse Juden in Scharen nach Israel emigriert und haben sich dem Aufbau des Landes gewidmet. Indessen sind die alten Konflikte zwischen religiösen und säkularen Juden keineswegs verschwunden, sondern tauchen regelmäßig in den politischen Debatten und bei sozialen Spannungen in Israel wieder auf.

Judentum. Eine kleine Einführung

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