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Wer waren die Juden früher?

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Die Frage nach der jüdischen Identität ist überraschend neu. Im Mittelalter etwa sah niemand darin ein Problem. Man wusste, wer die Juden waren. Die Juden waren ein »besonderes Volk«, »das auserwählte Volk«, wie es in der Bibel heißt, auserwählt von Gott zum Träger seiner Offenbarung. Doch sie hatten Jesus verworfen. Sie waren deshalb verflucht und zu einem niederen sozialen Status verdammt, bis sie Jesus anerkennen würden, wenn die Zeit erfüllt sei. Im späten Mittelalter hatte sich die christliche Voraussage erfüllt: die Christen hatten unter Anwendung politischer Macht die Juden tatsächlich in jenen niederen sozialen Status abgedrängt, den sie ihnen prophezeit hatten. Die Juden wurden gezwungen, in Ghettos zu leben, sie mussten besondere Kleidung tragen, waren von Zünften, Berufen und Landbesitz ausgeschlossen, wurden von den Kanzeln als Christusmörder geschmäht, der Brunnenvergiftung (zur Zeit der Pest) beschuldigt, sowie der Hostienschändung, des »Ritualmords« an christlichen Kindern (die sogenannte »Blutanklage«: angeblich benutzten sie ihr Blut für das Pessach) und so gut wie jeder Schandtat, die nur ein verwirrter Geist auf eine fremde Gruppe projizieren konnte.

Es ist aufschlussreich, ja geradezu schockierend, wie die Juden in der christlich religiösen Kunst, besonders des Westens, dargestellt wurden. Vor dem 12. Jahrhundert besaßen sie keine physischen Merkmale, die sie von anderen Menschen unterschieden. Dann erfolgte plötzlich ein Umschlag: die europäischen Juden bekommen Hakennasen, Schwimmfüße und andere Merkmale, mit denen man sich sonst die Physiognomie des Teufels auszumalen pflegte. Selbst im 20. Jahrhundert hält sich noch in Teilen Europas der Volksglaube, die Juden trügen Hörner. Natürlich waren es nicht die Juden, die ihr Äußeres im 12. Jahrhundert auf mysteriöse Weise verändert und in neuerer Zeit zurückverwandelt hatten, sondern es war die christliche Ikonographie, die von nun an den Mythos des jüdischen Bundes mit dem Teufel artikulierte.

Die in der mittelalterlichen »Christenheit« erzeugten Stereotypen waren selbst dann noch virulent, als das System unter dem Einfluss der Aufklärung zusammenbrach. Sogar Voltaire, ein Protagonist der Aufklärung, hielt die Juden für eine verkommene und minderwertige Rasse. Anstelle des theologischen Antijudaismus der Kirchen entwickelte sich ein rassistischer Antisemitismus, der in der »Endlösung« der Nazis, dem Projekt der Erniedrigung und physischen Ausrottung der »jüdischen Rasse«, gipfelte.

Doch die Nazis hatten ein Problem. Spätestens 1933 war es völlig evident, dass die Juden keine Schwänze, Hörner oder irgendwelche anderen anstößigen Züge besaßen, die sie von anderen Deutschen (oder Polen oder wem immer sonst) unterschieden. Als Goebbels und sein Propagandaapparat die mittelalterlichen Karikaturen im Stürmer wiederaufleben ließen, war denn auch die jüdische »Normalität« derart weit vom Hirngespinst der rassischen Verschiedenheit der Juden entfernt, dass die Nürnberger Gesetze geradezu hilflos Juden als Personen definieren mussten, die zumindest von einem jüdischen Urgroßelternteil abstammten, also 1212 Prozent »jüdisches Blut« in sich trugen. Es war ein böses Omen, dass die Nazis ihre ersten antijüdischen Gesetze – unter anderem Boykott, Rassentrennung und besondere Kleidung – just auf jene Dekrete stützten, die Papst Innozenz III. während des 4. Laterankonzils von 1215 erlassen hatte. Ein Hauptziel dieser Gesetzgebung war es, die Juden dadurch zu isolieren, dass sie anders als andere Menschen aussehen sollten – trotz der Tatsache, dass die Natur sie unpassenderweise ungefähr genauso geschaffen hatte wie die anderen auch.

Judentum. Eine kleine Einführung

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