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Kapitel 1 – Booty Call– Samstagnacht, 2. Dezember 2017

»Booty Call, Sweetheart!«, trällerte Belle ins Telefon. So laut, dass ich zusammenzuckte. »Und wie gefällt dir eigentlich dein Rabbit? Ist er schon angekommen?«, fragte sie. Ich konnte mir ihren begeisterten Blick buchstäblich vorstellen. Das schönste Mädchen der Welt und gleichzeitig eine der schärfsten Pornoladys aller Zeiten.

»Klar, heißes Ding«, antwortete ich und plötzlich war es mir egal, dass sie mich bei der zweitschönsten Sache der Welt gestört hatte: Solosex.

»Dein Rabbit?«, fragte sie, weil ich schwieg. »Hat was drauf, oder?«

»Und wie«, merkte ich mit einem Lächeln im Gesicht an. Meine Wangen waren vor Erregung errötet. So offen sprachen wir oft miteinander, denn Belle wusste, dass ich ihren Nebenberuf in der Erotikbranche respektierte. Doch sie wusste nicht, dass ich die Pornos ansah, in denen sie mitspielte. Es war mein Geheimnis.

»Ich dachte, vielleicht wäre der Rabbit etwas für dich. Vor allem nach deinen Freddy-Erfahrungen, oder?« Sie konnte es nicht lassen, auf Freddy anzuspielen. Er ist mein Ex. Ein Spießer-Freund, der den klassischen Traum einer Zukunft verfolgte: Haus, Hund, zwei oder drei gesunde Kids, die auf Privatkindergärten gingen. Es war sein Traum, nicht meiner, und deswegen war er mein Ex-Freund. Jasmin is out.

»Freddy is’n Spießer. Du kannst es nicht lassen, oder?« Mit Humor in der Stimme und einem breiten Grinsen im Gesicht griff ich nach dem Rabbit-Vibrator und packte ihn zurück in seine Box.

Ich stand auf und vergrub die Vibratorbox tief in meinem Rucksack. Schließlich spürte ich, wie warm und feucht es zwischen meinen Schenkeln war und bedauerte einen kurzen Moment, meine Solonummer nicht fortführen zu können.

»Nein, kann ich nicht. So lange du mir nichts von den anderen heißen Bettgeschichten erzählst, werde ich auf Freddy rumreiten.« Sex. Seit Belle vor der Kamera die Hüllen fallen ließ, gab es kaum ein anderes Thema mehr für sie.

»Heiße Bettgeschichten?«, wiederholte ich.

»Ja, du erzählst mir was von deinen Blind Dates und ich gebe die Pornobranche auf, damit ich deine aufregenden Storys aufschreiben und vermarkten kann. Erotische Sexschreiberin, das bin ich dann. Oh ja.« Sie scherzte. Ich lehnte mich wieder zurück auf den Sessel, rückte den Spitzenstoff meines Shirts zurecht und brachte mich in Position.

»Aufregende Storys? Was macht dich da so sicher?« Ich fummelte am Träger meines Spaghetti-Shirts herum. Kreisende Bewegungen auf meiner Schulter. Wie gern würde ich da weitermachen, wo ich vorhin aufgehört hatte.

»Du machst ein Geheimnis draus. Das bedeutet, da geht Hardcore bei dir. Bondage oder so ein Kram. Tantra-Sex, Liebesgeplänkel, Sexspielzeug.«, lachte sie.

»Es ist Samstagabend, Sweetgirl, und ich bin im Haus meiner Mutter. Klingt nach wilden Abenteuern, oder?«, sagte ich mit Ironie in der Stimme.

»Du verheimlichst mir doch was.«

»Sicher«, kicherte ich. Der Träger meines Shirts fiel von meiner Schulter. Ups. Trotzdem hörte ich nicht auf, meine babyweiche Haut zu berühren. Meine Berührung fuhr langsam mein Schlüsselbein hinunter.

»Letztens war es nett. Da war ich mal wieder Webcamgirl und habe einem Exhibitionisten beim Masturbieren zugesehen. Das war ein Spaß. Der Typ war echt süß und es gefiel ihm.« Das war keine neue Geschichte. So was erzählte Belle jedes Mal, wenn wir telefonierten. Sie war ein quirliges Pornomäuschen in einer Branche, die sie gewiss nicht langweilen würde. Pornografie passte zu ihr. Wenn es so weiter ging, brauchte sie meine vermeintlichen Hot-Storys nicht, um erfolgreiche Sexschreiberin zu werden. Sie brauchte einfach nur ein Jahr in der Porno-Szene zu verbringen und hatte Geschichte für ein ganzes Leben zu schreiben.

»Interessant«, meinte ich, »erzähl mehr.« Ich hörte ihr gern zu, telefonierte und simste nach wie vor gern mit ihr. Seit sie nicht mehr in Rutburg wohnte, sahen wir uns kaum mehr. Ich befürchtete, wir würden uns aus den Augen verlieren. Doch bis jetzt hatten wir das nicht.

»Und dann wurde es schräg. Er wollte meine getragene Unterwäsche«, erzählte sie weiter.

»Deine Unterwäsche?«

»Fand er geil. Er sagte, ich sollte ihm die zuschicken, er würde sie schon für mich säubern. Klar. Als ich verneinte, hat er mir Geld angeboten.«

»Hast du?«

»Noch nicht.« Ich hörte ihr Kichern. Sie machte das nicht wegen des Geldes, sondern weil sie das aufregend fand. Wie damals, als wir mit fünfzehneinhalb fremde Typen angerufen hatten. Wir hatten die Nummern in Chris’ Hobbyzimmer gefunden – Belles Bruder – und einfach drauflos telefoniert. Es war nachts und wir hatten uns als hübsche, erwachsene Frauen ausgegeben. Für uns war es ein Spiel. So, wie es für Belle jetzt ein Spiel war, sich halb nackt und willig filmen zu lassen.

»Oh, Miss Kiss.« Ich schüttelte den Kopf.

»Du hast die Erotikmesse und das Film-Porn-Festival verpasst. Das ist noch viel schlimmer«, warf sie mir vor. »Du wolltest herkommen. Mich mal wieder in Berlin besuchen, schon vergessen?« Belle wurde plötzlich ernst. Trotz aller Veränderung, die unsere Freundschaft durchgemacht hatte, vermissten wir einander. Wir waren unzertrennlich gewesen.

»Nein, habe ich nicht.«

»Und warum warst du nicht da?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Ich habe es verpasst. Die Uni, die Abschlussarbeit, das Hin und Her mit Dad.«

»Ausreden. Deinen Papa kannst du zum Mond schießen. Du hast zwei wundervolle Mütter und die Leben auch noch zusammen. Also, bitte.« Sie hatte recht: Ich hatte Mama Karen und Belles Mutter Carla, die als Freundinnen zusammengezogen waren, nachdem sie sich von ihren Ehemännern getrennt hatten.

»Ja. Keine Ausreden mehr.«, stimmte ich zu. Nicht nur Belle hatte meine Ausreden satt, sondern auch ich. Keine Ahnung, was mit mir los war. War es das Studium? War es die Unsicherheit, was ich nach meinem Abschluss machen sollte? Oder ich hatte einfach zu wenig Sex.

»Außerdem bist du nun schon das ganze Wochenende zu Hause bei Mama und Karen. Du hast Zeit. Also, erzähle mir nichts.«

»Okay, okay. Überredet. Wir machen bald etwas fest. Ehrenwort«, versprach ich.

***

Isabelle und ich legten auf. Ihre Worte hatten mir zu denken gegeben. Sie hatte recht und sie wusste, dass etwas bei mir nicht stimmte. War es meine persönliche Veränderung in den letzten Wochen? Wohl kaum. Hier ging es um etwas Größeres. Sehnsucht nach Sex und mehr? Was war da eigentlich mit Freddy, meinem Ex?

Ich wollte nicht, dass das sechste Semester zu Ende ging, denn das bedeutete: Entscheidungen treffen. Ich sah mich noch nicht in der Lage, Entscheidungen fürs Leben zu treffen. Arbeiten, das Leben kennenlernen, Haus-Hof-Hund, Kinder in meinem Bauch und ein Ehemann an meiner Seite. Oder doch etwas anderes? Die Zukunft – was für ein erschreckendes Wort. Was sollte ich schon mit meinem Sozialanthropologie-Abschluss mit mir anfangen? In Museen arbeiten? In der Forschung landen oder doch in sozialen Institutionen unterkommen? Irgendwie hatte ich mir etwas anderes für meine Zukunft vorgestellt. Mehr Spannung, weniger Stock-im-Arsch. Am liebsten würde ich mein WG-Zimmer in der Klinkerstraße aufgeben und zurück zu meiner Mutter in ihr behütetes Heim ziehen, um zur alten Sicherheit zurückzukehren. Seventeen years old – for ever.

Ich stand auf und schlich mich ans Fenster. Es war leicht geöffnet, zarter Wind kühlte meine nackten Schultern. Ich ging zwei Schritte und erreichte das Fenster. Mein Teeniezimmer im Haus meiner Mutter war keine achtzehn Quadratmeter groß. Trotzdem reichte es aus. Mama hatte alles so gelassen, wie es war, als ich auszog.

Ich sah hinab auf regnerische Straßen. Hoffnungslos. Es war dunkel, mitten in der Nacht und das Haus blieb erstaunlich still. Von meinem Fenster aus konnte man auf das Feld schauen und Kühe beim Grasen beobachten. Man sah auch die Schlagloch-Landstraße gegenüber dem Feld und natürlich die Rackerstraße 3a, Chris’ Haus. Begeistert betrachtete ich Chris’ Schweden-Haus und stellte verwundert fest, dass es auch drüben still zu sein schien. Das war sonst nicht so. Chris hatte die wildesten Partys geschmissen und wir, seine Schwester Belle und ich, genossen das Privileg, als junge Teenies auf aufregenden Studentenpartys herumzuschleichen.

Damals, dachte ich und entdeckte plötzlich Chris vor dem Haus in der Rackerstraße. Er tappte im Dunkeln und steuerte Richtung Schweden-Haus zu. Kurz sah er auf. Wahrscheinlich hatte er das angeschaltete rosarote Licht entdeckt, das in meinem Zimmer brannte. Er entdeckte mich, grinste und ich lächelte zurück.

Dann winkte er aufdringlich. Sicher war er betrunken. »Kommst du runter?«, hörte ich seine angeduselte Stimme rufen und öffnete das Fenster vollständig, um ihn besser hören zu können.

»Was meinst du?«

»Na, ob du runterkommst? Zu mir? Ich wusste nicht, dass du mal wieder bei deiner Mama bist, Minniemaus.« Minniemaus? Hat er mich gerade Minniemaus genannt?

»Du bist doch betrunken«, scherzte ich.

»Und wenn schon. Lass uns etwas Spaß haben.«

»Spaß haben?«

»Och, Minnie, komm doch runter. Wie früher. Weißt du nicht mehr?«, bat er mich und sah mich mit diesem Blick an, dem ich schon damals nicht widerstehen konnte.

Oh, Behave … Gehe ich zu meinem Schwarm aus alten Zeiten? Oder bleibe ich hier, bleibe ich vernünftig?

Immer diese verfluchten Entscheidungen. An diesem Samstagabend wollte ich nicht mehr, als meinen neuen Vibrator Rabbit näher kennenlernen …

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