Читать книгу Im Norden der Dämmerung - Nuruddin Farah - Страница 10
KAPITEL ZWEI
ОглавлениеIn der nächsten Sekunde überlegt Mugdi, ob es überhaupt zutrifft, dass sie »da« sind. Gacalo hat nie eine Bestätigung erhalten, dass die drei Nairobi tatsächlich verlassen haben. Waliya hätte sie anrufen sollen, nachdem sie die rigorosen und für Somalis besonders strengen Sicherheitskontrollen in Kenia passiert hatten. Und sie hätte sich nach der Ankunft in Brüssel und vor dem Weiterflug nach Oslo melden sollen.
Mugdi stellt sich darauf ein, lange warten zu müssen, vielleicht Stunden.
Waliya und ihre Kinder waren fast zwei Wochen unterwegs gewesen, mit gefälschten tansanischen Pässen und mit Flugtickets, die Gacalo bezahlt hatte: zuerst von Nairobi nach Entebbe in Uganda; dann weiter nach Damaskus. Dort hielten sie sich eine gute Woche in einem Hotel auf, in dem auch die Schlepper absteigen, die auf die Beförderung von illegalen Migranten nach Europa spezialisiert sind. Gacalo rief Waliya jeden Tag an, um auf dem Laufenden zu sein, mit wem Waliya verhandelte, und für den Fall, dass sie Geld überweisen müsse.
Von Damaskus flogen sie mit einem Aufpasser des Schleppers nach Nikosia auf Zypern, dort kam die Familie für ein paar Tage in einem Hotel im türkischen Teil des Landes unter, bevor es weiterging nach Rom. Dort wurden sie von einem italienischen Grenzbeamten, den ihr Aufpasser offenbar kannte, durchgewunken und zu einem Hotel in Roms Peripherie gebracht. Ob sie es jemals bis nach Oslo schaffen würden, war unsicher. Waliyas Sohn Naciim rebellierte, und seine Schwester war kurz davor, aber Waliya konnte sie beruhigen. »Allah ist auf unserer Seite«, sagte sie.
Zwei Tage später wurden sie von einem Taxi abgeholt, das sie vom Hotel zum Hauptbahnhof von Rom brachte. Die somalische Fahrerin gehörte zu dem Schlepperring, vermutete Waliya, denn sie gab ihnen Schlafwagenkarten für den Zug nach Brüssel und die Tickets für den Flug nach Oslo.
Waliya und ihre Kinder ahnten nichts von den Streitereien in Gacalos Familie. Sie ahnten nicht, dass Timiro sich unverblümt zu den Kosten geäußert hatte. »Fast neuntausend Dollar! Ist es das wert?«
Natürlich gab es keine Garantie, dass die drei nicht von einem gerissenen Schlepper übers Ohr gehauen oder im Gefängnis landen würden. Und selbst wenn sie unversehrt ankämen, würden sie wahrscheinlich, das vermutete Gacalo jedenfalls, wie die meisten Asylsuchenden erst einmal verhaftet werden. In diesem Fall würden sie wohl erst mit ihnen sprechen können, wenn sie die quälende Befragung durch die norwegische Grenzpolizei hinter sich hätten.
Sollten die norwegischen Behörden Mugdi befragen wollen, wäre das nutzlos, da er in die Reisevorbereitungen nicht eingebunden war. Seine Entscheidung, sich allen Details der Reise zu verweigern, war die richtige, davon ist er überzeugt. Es verstößt gegen seine Prinzipien, auch als ehemaliger Diplomat, die Gesetze Norwegens zu verletzen, des Landes, das ihn freundlich aufnahm, als er nicht mehr nach Hause zurückkehren konnte. Es würde ihn nicht überraschen, wenn das Ansehen seiner Familie noch mehr Schaden nähme, wenn etwas schiefgehen würde und Waliya und ihre Kinder zurück nach Nairobi oder, im schlimmsten Fall, zurück nach Mogadischu geschickt würden.
Die Wohnung, in die Waliya und ihre Kinder einziehen werden, glaubt Mugdi, ist vielleicht die größte und schönste, die sie jemals ihr Zuhause genannt haben. Außerdem werden sie reichlich von Gacalos großzügig zubereitetem Essen vorfinden. Sobald er sie abgesetzt hat, denkt Mugdi, hat er seine Schuldigkeit getan und wird wieder fahren.
Er sitzt jetzt gegenüber dem Ausgang, durch den die Passagiere kommen müssen. Er holt einen Ausdruck der Episode aus Giants in the Earth hervor, die er gerade übersetzt. Der Norweger Per Hansa begegnet einer Gruppe Indianer, die ihr Lager eine Meile entfernt von der kürzlich errichteten bäuerlichen Ansiedlung der Norweger aufgeschlagen haben. Die Anwesenheit der Indianer macht seiner Frau Beret Angst. Die armen, hart arbeitenden norwegischen Fischer, die als Auswanderer im Dakota-Territorium gelandet sind, sind nicht nur vor der Armut geflohen, sondern auch vor den Schrecken der Mitternachtssonne im Sommer und der kräftezehrenden Winter. Wie viele seiner Landsleute verfügt Per Hansa über die unerschütterliche Tatkraft eines Mannes, der zur Führung und zum Durchhalten geboren ist und damit etwas aus seinem Leben macht.
Mugdi liest sich seine Übersetzung halblaut vor und findet, dass den Sätzen der Rhythmus des Originals fehlt. Auch das Pathos dieser Episode, das Misstrauen und die Angst der norwegischen Siedler vermitteln sich nicht. Sie unterstellen den »Indianerhorden« schreckliche Absichten. Sie fürchten, von ihnen skalpiert, ihres Viehs und des Landes beraubt zu werden, für das sie nur einen halben Dollar je Morgen bezahlt haben. Per Hansa ist ein überaus feinfühliger Mensch, dem jedoch zu keinem Zeitpunkt in den Sinn zu kommen scheint, dass sie, die norwegischen Siedler, die Indianer von ihrem Land vertrieben haben.
Mugdi fällt ein, dass er Gacalo erzählt hat, diese erste Begegnung der Norweger mit den nordamerikanischen Indianern interessiere ihn am meisten, deshalb habe er seine Übersetzung mit dieser Episode begonnen. Per Hansa und seine norwegischen Landsleute repräsentieren eine mächtigere, stärkere Art des Denkens. Mugdi grübelt darüber nach, was die Norweger mit den Indianern tauschen, und fragt sich, ob der Handel ein fairer ist: Per Hansa versorgt einen kranken Indianer mit Salben und Verbandstoff und erhält dafür Pfeifentabak.
Inzwischen sind immer mehr Leute gekommen, die Schilder mit Namen von Passagieren in die Höhe halten. Und plötzlich vernebelt sich ihm aus unerklärlichen Gründen das Gehirn mit lauter Fragen, auf die er keine Antwort hat. Was soll er tun, wenn man Waliya und ihren Kindern den Flug nach Oslo verwehrt hat? Ihm ist klar, dass die Frau am Schalter das auch nicht weiß, und wenn sie etwas wüsste, dürfte sie ihm die Passagierliste nicht zeigen. Was wäre, wenn Waliya eine Betrügerin ist, eine Spionin, mit einem Auftrag von Dhaqanehs Dschihadistengruppe? Er sagt sich, dass er das unmöglich wissen könne, aber es macht ihn unsicher und gereizt.
Möglich ist auch, dass die Dinge sich nicht zu Gacalos Zufriedenheit entwickeln. Auch wenn Waliya kein »Schläfer« ist, es beunruhigt ihn, dass ihre Kinder vielleicht nicht nach dem Geschmack der Familie sind, dass die Frau, die eindeutig eine Sympathisantin radikaler Dschihadisten ist, in das Leben seiner Familie eindringt, ohne durchleuchtet worden zu sein. Die ewig optimistische Gacalo vertraut darauf, dass am Ende schon alles gut ausgehen werde. Wann immer sie auf seine Fragen keine zufriedenstellende Antwort wusste, sagte sie nur, er solle sich keine Sorgen machen. »Waliya wird begreifen, dass sie hier die einmalige Chance hat, in Frieden zu leben«, sagte sie. »Die Kinder bekommen von uns jede Unterstützung, damit sie hier Fuß fassen und zur Schule gehen können.«
»Und die Witwe?«
»Sie lernt die Sprache und geht arbeiten.«
Mugdi ist nicht so zuversichtlich, trotzdem versprach er seiner Frau, seine Abneigung gegen somalische Flüchtlinge, die seiner Erfahrung nach nur selten arbeiteten, wenn sie vom Staat Almosen erhielten, im Zaum zu halten. Mit seiner Meinung wollte er trotzdem nicht hinter dem Berg halten. »Ich wette, sie will nicht arbeiten.«
»Dann bekommt sie es mit mir zu tun.«
Die Lage von Saafi, der Tochter, sei komplizierter, hat Gacalo gesagt. Sie habe keine Grundbildung erhalten und spreche nur wenig Englisch. Sie müsse am Pflicht-Sprachunterricht teilnehmen, um ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz zu verbessern. Bei diesem Gespräch war Timiro dabei gewesen.
Wenn Gacalo sich in die Ecke getrieben fühlte, ging sie zum Gegenangriff über. »Glaubt ihr, wir sollten solche Gespräche gerade jetzt führen, zwei Wochen vor ihrer Ankunft? Ihr hört euch an, als müsste nur ich Lösungen finden für die tausend Probleme, die auf uns zukommen werden.«
Worauf Timiro sagte: »Das liegt daran, Mama, dass du ihnen das alles ermöglicht hast.«
Mugdi glaubt, dass Gacalo unrecht hat, aber er will sich nicht Elitismus, mangelnde Empathie oder ewige Nörgelei vorwerfen lassen. Birgitta hatte ihn sogar einmal als sich selbsthassenden Somali bezeichnet.
Johan war ihm bei einer dieser ständigen Auseinandersetzungen zur Seite gesprungen: »Er will, dass es den Somalis gut geht, dass sie jede Gelegenheit ergreifen, und daran ist ja nichts Schlechtes. Heutzutage kann man in ein paar Stunden von einem Eck der Welt ins andere fliegen, aber richtige Integration dauert eben ein paar Jahre.«
Das vibrierende Handy in seiner Tasche reißt ihn aus seinen Gedanken. Auf dem Display sieht er die Uhrzeit und ist überrascht, wie spät es schon ist. Von der Witwe und ihren Kindern ist aber immer noch nichts zu sehen.
»Und, wo sind sie?«, fragt er.
»Die Einwanderungspolizei hat mich gerade vom Flughafen angerufen«, sagt Gacalo. »Sie haben alle drei festgenommen.«
»Das bedeutet nichts Gutes. Sonst noch was?«
»Der Beamte hat mich darüber informiert, dass wir demnächst zu einer Befragung im Flughafenbüro zu erscheinen haben.«
Mugdi glaubt aus ihrer Stimme so etwas wie Triumph heraushören zu können – als betrachte sie es als ihren Erfolg, dass Waliya und ihre Kinder die erste und schwierigste Hürde geschafft haben.
»Heißt das, sie werden nicht abgeschoben?«
»Zumindest nicht sofort.«
»Dann kann ich jetzt also nach Hause fahren?«
»Natürlich, mein Liebling.«
Im Auto schaltet Mugdi das Radio an. Bei Ausschreitungen im amerikanischen Bundesstaat Virginia machen Mitglieder einer rechten Bürgerwehr gemeinsame Sache mit dem Ku Klux Klan. Dreihundert Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten ertrinken im Mittelmeer. In Myanmar massakrieren buddhistische Mönche Muslime der Rohingya-Minderheit. Ein Bus voller Schulkinder kommt von einer Bergstraße in Serbien ab. In Kairo stürzt ein Hochhaus aufgrund baulicher Mängel ein. Mugdi schaltet das Radio aus. Er ist davon überzeugt, dass die Welt auf dem falschen Weg ist. Die vielleicht beste Nachricht des Tages ist die, dass man einer Witwe und ihren Kindern zumindest die Einreise erlaubt hat und sie die Entscheidung abwarten können, ob sie als Flüchtlinge anerkannt werden. Mugdi hofft es.