Читать книгу Im Norden der Dämmerung - Nuruddin Farah - Страница 11
KAPITEL DREI
ОглавлениеMugdi sitzt oben in seinem Arbeitszimmer und arbeitet an seiner Übersetzung von Giants in the Earth ins Somalische. Bevor sie zur Arbeit gegangen ist, hat Gacalo ihm gesagt, dass es keine Neuigkeiten von der Bundespolizei gebe. Die Beamten im internationalen Flughafen hatten versprochen, ihnen den genauen Termin für die Befragung noch durchzugeben, wo sie über ihre Beziehung zu den Neuankömmlingen, ihre Einkommensverhältnisse und ihre Bereitschaft zur Hilfe Auskunft geben sollen. Mugdi sitzt seit über drei Stunden am Schreibtisch. Vor ihm liegen nebeneinander das norwegische Original und die englische Übersetzung. Abwechselnd liest er in dem norwegischen, dem englischen und dem frischen somalischen Text.
Jetzt liest er noch einmal einen Teil der Episode, die er gerade übersetzt hat. Darin schlägt eine Gruppe »Rothäute« in der Nähe der norwegischen Siedler ihr Lager auf. Als sie weiterziehen, sind unerklärlicherweise ein halbes Dutzend Kühe verschwunden, auf deren Milch die Siedler angewiesen sind. Einige verdächtigen die Indianer, das Vieh gestohlen zu haben. Als die Kühe nicht wieder auftauchen, breitet sich tiefe Verzweiflung unter den Siedlern aus. Beret, Per Hansas Frau, plagt die Angst, das ungezähmte Land, die endlose Prärie könne für die menschliche Existenz nicht geeignet sein. Kein Wunder, dass sie fast wahnsinnig wird. Mugdi kritzelt eine Notiz an den Rand, dass sich die Norweger im Dakota-Territorium genauso von ihrem früheren Leben abgeschnitten fühlten wie heute die Somalis in Norwegen. Sie kommen in ein verschneites Land, in dem es das halbe Jahr dunkel ist und die Sonne nicht scheint und in dem die sogenannte Offenherzigkeit seiner Bewohner für Fremde nur schwer zu verstehen ist, wenn sie nicht mit ihnen trinken und ihre Sprache nicht sprechen.
Es ist unmöglich vorherzusagen, denkt er, wie es Waliya und ihren Kinder ergehen wird, obwohl Naciim sich leichter tun wird als seine Schwester Saafi. Gacalo hat ihm von der Gruppenvergewaltigung erzählt, die das Mädchen im Flüchtlingslager in Kenia durchlitten hat und die sie traumatisiert habe. Sie wird besonders zärtliche, liebevolle Zuwendung benötigen. Was Waliya angeht, so sagt ihm seine Erfahrung mit anderen somalischen Frauen in ihrem Alter und mit ihrem Hintergrund, dass sie sich wie eine Schildkröte in ihren Panzer zurückziehen und ihre Gedanken kaum mit ihm teilen wird. Er wird das respektieren, Abstand halten und Gacalo alle wichtigen Entscheidungen überlassen, weil Waliya und Saafi sich in ihrer Gesellschaft sicher wohler fühlen werden. Laut Gacalo ist Naciim intelligent, fleißig, aufgeschlossen und ehrgeizig. Obendrein hat ihn sein Stiefvater Dhaqaneh bevorzugt behandelt und von klein auf in die Rolle des Mahram eingewiesen, des männlichen Oberhaupts des Haushalts.
Mugdi geht nach unten in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen, stellt fest, dass keine Milch mehr da ist, und beschließt, einkaufen zu gehen. Bevor er das Haus verlässt, klopft er an Timiros Tür, die sich nun doch entschlossen hat, länger in Oslo zu bleiben. Sie antwortet mit schwacher, kaum hörbarer Stimme. »Ja?« Er sagt, dass er Milch holen gehe, ob sie mitkommen wolle, etwas frische Luft schnappen.
»Ich bin nicht in der Stimmung, Papa.«
»Soll ich dir was mitbringen?«
»Nein, danke.«
Das Geschäft, zu dem Mugdi geht, hat geschlossen. Wegen einer Hochzeit steht auf dem Zettel an der Tür. Er überlegt kurz, geht über die Straße und dann nach Süden zu einem Supermarkt, an dem er auf dem Weg zur Tramhaltestelle oft vorbeikommt.
Unterwegs denkt er über die Parallelen von Berets Leben im Dakota-Territorium und dem somalischer Frauen in Norwegen nach. Aus Angst vor der Prärie verhängt Beret die Fenster ihrer Lehmhütte und verriegelt jedes Mal, wenn ihr Mann nicht im Haus ist, die Tür. Wenn somalische Frauen das Haus verlassen, verbergen sie ihre Körper aus Angst, wem sie über den Weg laufen könnten, in alles verhüllenden Ganzkörpergewändern.
Während Mugdi mit seiner Milch an der Kasse des Supermarkts ansteht, verfolgt er auf einem Fernsehschirm die Nachrichten. In Großbritannien sind gerade zwei Terroranschläge verübt worden – einer in London, der andere in Glasgow. Die Angreifer seien wahrscheinlich »radikale Muslime« gewesen, sagt der Sprecher. In London hätten sie mithilfe von Handys Bomben zünden wollen, was misslungen sei, wohingegen in Glasgow ein mit Bomben beladener SUV in einen der Eingänge des Glasgower Flughafens gerast und in Flammen aufgegangen sei. Die britische Polizei gehe davon aus, dass die beiden Anschläge miteinander in Verbindung stünden.
In den Nachrichten geht es weiter mit Sport. Das fassungslose Schweigen der Kunden ist ohrenbetäubend. Mugdi denkt sofort an seinen jüngeren Bruder Kaluun, der gerade in Schottland ist. Er kann sich nicht erinnern, ob in Edinburgh oder in Glasgow, wo er eine Gruppe junger Afrikaner, Stipendiaten des British Council, in Radiojournalismus unterrichtet. Hoffentlich ist ihm und seiner Partnerin Eugenia nichts passiert. Er muss sie anrufen, denkt er, da dreht sich ganz vorn in der Kundenschlange eine Frau mit gepiercter Zunge um und sagt laut und wütend zu den anderen Kunden: »Stellt euch vor, die Muslime und Schwarzen haben erst mal die Mehrheit. In zwanzig Jahren ist es so weit, wenn wir sie weiter ins Land lassen. So schnell, wie die sich vermehren, sind die jetzt schon gefährlich.«
»Das meinst du nicht ernst, oder?«, sagt ein junger tätowierter Mann.
»Todernst«, sagt Gepiercte Zunge.
In der folgenden Debatte reden die Leute wild durcheinander. Die Mehrheit widerspricht der Ansicht von Gepiercte Zunge. Eine junge Frau sagt: »Hältst du uns alle für Idioten? In Norwegen werden Muslime und Schwarze nie die Mehrheit haben. Red nicht so ein dummes Zeug.«
Mugdi fragt sich, was Gepiercte Zunge wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass sein in Norwegen aufgewachsener Sohn nicht nur ein Terrorist war, sondern dass seine Familie dessen Witwe und Stiefkindern die Einreise nach Norwegen ermöglicht hat.
Gepiercte Zunge schaut von Mugdi zu dem pakistanischen Supermarktmanager und sagt gereizt: »Wir nehmen sie auf, wir geben ihnen Kleidung und Essen, und was tun sie? Anstatt dankbar zu sein, verüben sie Anschläge auf unsere U-Bahnen und Busse, jagen unsere Gebäude in die Luft und töten dabei Tausende Menschen. Zum Teufel mit ihrer Religion.«
Sie lässt ihre Einkäufe an der Kasse liegen, stapft davon davon und reagiert auch nicht, als der Manager ihr hinterherruft.
Mugdi erinnert sich an den Schrecken, den 9/11 bei so gut wie allen Norwegern hervorgerufen hat, einschließlich Birgitta und Johan. Nur vier Jahre später folgten die Anschläge in der U-Bahn und dem Doppeldeckerbus in London, bei denen über fünfzig Menschen ihr Leben verloren. Und obwohl in Irak, Somalia, Afghanistan, Pakistan und Jemen viele weitere Selbstmordattentate verübt wurden, schenkten die Norweger diesen kaum Beachtung. Vielleicht hatten sie Mitgefühl mit den Opfern, aber doch nie so wie bei den Anschlägen in ihrer Nähe und wenn die Toten Europäer waren.
Als schließlich Mugdi die Kasse erreicht und zahlt, spürt er die feindseligen Blicke wie Pfeile in seinem Rücken. Erst als er den Supermarkt verlässt, entspannt er sich langsam.
Als er nach Hause kommt, macht sich seine Tochter gerade eine Misosuppe. Sie ist im Bademantel und sieht blass aus, ihre Bewegungen sind langsam und fahrig, das Haar noch nass und verstrubbelt. Als Mugdi sofort zum Telefonhörer greift, um Kaluun anzurufen, sagt Timiro: »Du siehst so bedrückt aus. Ist was passiert?« Er erzählt ihr von den Anschlägen in Glasgow und London. »Geht es Onkel Kaluun und Eugenia gut?«, fragt sie.
»Das versuche ich gerade herauszufinden.«
Während er darauf wartet, dass in der Wohnung seines Bruders jemand abhebt, fragt Mugdi Timiro, wie sie sich fühlt. »Ich bin müde, völlig erledigt.« Sie wartet noch, bevor sie nach oben geht. Auch sie will wissen, ob Kaluun und Eugenia wohlauf sind. Nach den ersten Worten zwischen ihrem Vater und seinem Bruder weiß sie, dass alles in Ordnung ist. »Sag ihnen herzliche Grüße von mir, Papa.« Dann nimmt sie einfach ihren Teller Suppe und geht langsam die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Mugdi hört im Hintergrund die leisen Schritte seines Bruders, als der ihm sagt, er gehe gerade hinaus auf den Balkon, von wo er auf den Abney Park Cemetery sehen könne. Auf diesem Waldfriedhof im Osten Londons haben die beiden Brüder oft lange, vergnügte Spaziergänge unternommen.
»Eugenia und mir geht es gut«, sagt Kaluun.
»Wann seid ihr aus Schottland zurückgekommen?«
»Heute Morgen mit dem Nachtzug.«
»Ich bin froh, dass euch nichts passiert ist.«
»Mein Abteilungsleiter braucht mich hier. Ich soll einen Kollegen aus der Nachtschicht entlasten.«
»Überall in Europa läuten die Glocken der Panik. Auch hier in Norwegen hören wir sie laut und deutlich«, sagt Mugdi. »Die Täter haben sie zwar noch nicht erwischt, aber ich ahne schon, dass das Leute waren, die aussehen wie wir. Und da können wir sie noch so sehr verfluchen, natürlich wird man uns alle über einen Kamm scheren. Hoffentlich beruhigt sich das schnell wieder.«
»Ich glaube, das wird eine Weile dauern. Jetzt was anderes, wie geht es Timiro? Eugenia und ich haben uns so gefreut, als sie angerufen und erzählt hat, dass sie schwanger ist.«
»Sie ist etwas empfindlich und immer müde«, sagt Mugdi. »Aber sonst geht es ihr gut. Sie lässt euch grüßen.«
»Als wir das letzte Mal gesprochen haben, hat sie Eugenia und mir gestanden, dass ihre Ehe am Ende ist. Ich habe versucht herauszubekommen, wo Xirsi jetzt ist, aber niemand scheint etwas zu wissen.«
»Du hast sie miteinander bekannt gemacht, oder?«
Kaluun wechselt erstaunlich schnell das Thema. »Und, wie geht es der Witwe und ihren Kindern«, fragt er.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
»Sie sind jetzt in Oslo, oder?«
»Ja, aber wir haben sie noch nicht gesehen. Sie werden noch festgehalten und befragt. Ich weiß nicht, wie lange sich das hinzieht, aber nach den Ereignissen in Glasgow und London dauert es sicher länger. Die Rechten lechzen doch nach Muslimblut, Abschiebungen und drakonischen Überwachungsgesetzen.«
»Du siehst mal wieder ziemlich schwarz, Bruderherz.«
Kaluun ist nicht mehr so rigoros wie früher. Irgendetwas ist mit ihm passiert, denkt Mugdi. Als er nach England gezogen ist, da war er noch so hart wie Winterfutter. Aber in letzter Zeit ist er weicher geworden.
»Was denkst du?«, fragt Mugdi.
»Wir denken darüber nach, das Haus in London zu verkaufen und uns etwas auf einer Insel zu suchen, irgendwo in der Karibik, für den Ruhestand.«
Mugdi weiß, dass Kaluun Reisen selten im Voraus plant und für die Flugtickets seiner Spontantrips oft sehr hohe Preise zahlt. Wenn er sich zu einer Reise entschließt, dann ist er gut bei Kasse. Er hat einen guten Job bei der BBC und keine Kinder. Er hat nie geheiratet, lebt aber mit seiner Partnerin Eugenia, einer angesehenen Rechtsanwältin, zusammen. Ihre Eltern stammen aus Montego Bay, aber sie wurde in London geboren. Sie wollen nicht heiraten, sie sind auch so glücklich, und das ist alles, was zählt. Mugdi mag Eugenia sehr.
»Warum die Karibik? Wegen Eugenia?«
»Weil die Karibik die einzige kosmopolitische Gegend in der Welt ist, wo jedermann willkommen ist und ich entspannter und mit weniger Angst leben kann. Leben und Leben lassen, das ist das Motto der Leute auf den kleineren Inseln. Zumindest kam es mir immer so vor, wenn ich dort war.«
»Eine Woche Urlaub ist etwas völlig anderes, als ganz dort zu leben.«
»Das ist mir klar«, sagt Kaluun, hält kurz inne und fährt dann fort. »Jedenfalls wird es Zeit, dass du uns mal wieder besuchst. Du bist schon lange nicht mehr hier gewesen.«
»Nein danke, jetzt lieber nicht, wo alle so nervös sind.«
»Das hält sicher nicht lange an.«
Mugdi fällt auf, dass Kaluun ihm vor ein paar Minuten noch das genaue Gegenteil gesagt hat.
»Man wird sehen.«
»Große Städte kommen mit solchen Schockerlebnissen besser zurecht als kleine Städte oder homogenere Gesellschaften. Wenn so etwas in Oslo passieren würde, dann könnte das für das Norwegen, wie wir es kennen, fast das Ende bedeuten. Das sagt mir zumindest mein Gefühl.«
Wieder verändert sich Kaluuns Stimme auffällig. Als wäre jemand zu ihm auf den Balkon gekommen. Wie zum Beweis sagt er: »Ich muss jetzt Schluss machen. Grüße Timiro und Gacalo herzlich von mir.«
Beide hängen auf.
Die beiden Brüder trennen sechzehn Jahre. Ihr Vater ist Polizeibeamter in Galkacyo in Zentral-Somalia gewesen, das erste Mitglied der Familie, das nicht mehr Viehhirte war, sondern einer von den jungen Leuten, die in die Städte abwanderten. Dort fing er als einfacher Polizist an. Harte Arbeit und Engagement, die Abendschule und schließlich die Einberufung in die erste Polizeiakademie des Landes hoben ihn von den anderen Rekruten ab, die eine praktische Ausbildung zum Polizisten erhielten. Später gehörte er zu einer Handvoll Polizeibeamten, die zur weiteren Ausbildung ins Ausland geschickt wurden. Fünf Jahre später, als Somalia 1950 zum UN-Treuhandgebiet unter italienischer Verwaltung wurde, kehrte er nach Hause zurück. Innerhalb eines Jahres wurde er einer der ersten Führungsoffiziere und wenig später der für einen ganzen Vorstadtbezirk verantwortliche Polizeibeamte. Nach der politischen Unabhängigkeit Somalias 1960 hatte ihr Vater nach dem Commandante della Polizia die zweithöchste Position im Polizeiapparat.
Kaluun ist für seine Eltern ein Problem und für seine Schwestern eine Plage gewesen – zwischen den beiden Brüdern waren noch fünf Schwestern zur Welt gekommen. Als Kind war Kaluun in mehr Prügeleien verwickelt als die meisten seiner Altersgenossen. Mugdi nahm den Bruder unter seine Fittiche und schaffte es schließlich sogar, ihn durch die schwierigen Teenagerjahre zu lotsen. Und was noch wichtiger war: Er beschützte ihn vor seinem Vater, dessen Jähzorn man besser aus dem Weg ging, wenn man sich nicht von ihm verprügeln lassen wollte. Wenn Kaluun den Unterricht schwänzte, fälschte Mugdi für die Entschuldigungen die Unterschrift des Vaters. Eines Tages brach Kaluun bei einer Schlägerei einem viel älteren Jungen die Nase, und der Direktor bestellte ihren Vater in die Schule, was Mugdi nicht verhindern konnte. Kaluun erhielt seine verdiente Strafe. Der Zorn des Vaters entlud sich mit so harten Schlägen auf Kaluuns Rücken und Fußsohlen, dass er eine Woche lang nicht ohne Schmerzen gehen und schlafen konnte. Die Angst vor der Strafe seines Vaters, sollte er sich erneut danebenbenehmen, hielt ihn fortan auf dem rechten Weg.
Etwa ein halbes Jahr, nachdem Mugdi seine erste Stelle als junger Diplomat in Westdeutschland angetreten hatte, machte Kaluun mit so guten Noten seinen Highschool-Abschluss, dass er an der Nationaluniversität zum Journalismusstudium zugelassen wurde.
Gacalo war damals Hausfrau und sehr unglücklich. Sie fühlte sich nicht ausgefüllt, weil sie sich verzweifelt ein Kind wünschte, aber trotz ihrer Bemühungen nicht schwanger wurde. Mehrere Male konsultierte sie Ärzte und überredete dann auch Mugdi, sich testen zu lassen, was aber auch keine schlüssigen Ergebnisse lieferte. Mugdi machte sich deshalb keine Sorgen. Er war Anfang dreißig, Gacalo sechs Jahre jünger. Er war davon überzeugt, dass sie noch jede Menge Zeit hatten. Aber Gacalos Ängste führten zu täglichen Spannungen. Nach einer durchdiskutierten, reinigenden Nacht schlug Gacalo vor, nach Somalia zu fliegen und es dort mit alternativen Methoden zu versuchen. Mugdi hatte keine Einwände. Die moderne Medizin hatte versagt, also ging er davon aus, dass sie in Mogadischu wahrscheinlich bei einem Arzt der Naturheilkunde Rat suchen würde.
Als Kaluun Gacalo erzählte, dass er und eine Studienkollegin unvorsichtig gewesen seien und das Datum für eine gefahrlose Abtreibung schon verstrichen sei, beschloss Gacalo, ihnen zu helfen. Glücklicherweise war das Mädchen sehr groß gewachsen, und es war noch nicht erkennbar, wie weit sie schon war – jedenfalls nicht für ihre alte, halb blinde und fast taube Großmutter. Nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Mädchen erklärte sie sich bereit, den Schlamassel auf eine Weise aus der Welt zu schaffen, von der sie alle profitieren würden. Sie rief Mugdi an und erläuterte ihm ihren Plan: Das Semester sei gerade beendet, der Unterricht würde erst in drei Monaten wieder beginnen. Mit etwas Glück könne sie das Zeitfenster nutzen und etwas in die Wege leiten.
»Was hast du vor?«, fragte er.
»Vielleicht kann ich sie unter einem Vorwand aus der Stadt schleusen«, sagte Gacalo. »Sie ist eine außergewöhnlich gute Studentin. Ein dreimonatiges Stipendium in Kenia vielleicht, in Mombasa.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit?«
»Kaluun will sie nicht heiraten, und das Mädchen will die ganze Geschichte so schnell wie möglich vergessen. Mein Plan ist sicherer als eine Hinterhofabtreibung.«
»Sei vorsichtig. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.«
Sie versprach ihm, sehr vorsichtig zu sein.
Mugdi hatte die beherzte Art seiner Frau schon immer bewundert. Er versprach, jede ihrer Entscheidungen mitzutragen, sagte aber auch, sie solle ihm nicht alles erzählen, damit er sich keine Sorgen machen müsse.
Als Gacalo sich das nächste Mal meldete, war sie zusammen mit dem Mädchen in Mombasa. Sie hoffte, man würde ihr und dem Mädchen nicht zu viele Fragen stellen.
Für die erste Woche in Mombasa nahmen sie sich ein Hotelzimmer. Danach mieteten sie eine Zweizimmer-Erdgeschosswohnung, die ihnen ein freundlicher Immobilienmakler vermittelt hatte. Sie lag im Vorort Mwembe Tayari, wo es weniger Wohnhäuser gab als in der Stadt und sie unbehelligt blieben. Dank eines jungen Angestellten bei der Stadtverwaltung, der für seine Hilfe ein Schmiergeld in Empfang nahm, konnte Gacalo das Baby problemlos als ihres anmelden.
Als das Mädchen sich wieder erholt hatte, setzte Gacalo es in ein Flugzeug zurück nach Mogadischu. Sie blieb noch drei Monate in Kenia, von denen sie die beiden letzten damit beschäftigt war, in Nairobi für das Baby ein Visum in ihren somalischen Pass eintragen zu lassen. Um mit dem in Tüchern eingewickelten Baby im Arm das Land verlassen zu können, bestach sie einen kenianischen Einwanderungsbeamten. In Mogadischu besorgte sie die Adoptionspapiere. Mugdi war erfreut, der Vater eines kleinen Mädchens zu werden, das Gacalo nach ihrer verstorbenen Mutter Timiro nannte – die so »süß wie Datteln« war.
Gacalo fütterte das Baby mit der Flasche. Es machte keine Probleme, schlief und trank gut. Insgeheim legte sie sich das Baby an die Brust und »säugte« es gemäß einem althergebrachten somalischen Glauben, dass sie so vielleicht ein Kind bekommen würde. Noch heute glaubt Gacalo, dass sie dank dieses »Säugens« vier Jahre später schwanger wurde und Dhaqaneh zur Welt brachte.
Später erfuhr Gacalo von Kaluun, dass es mit Timiros leiblicher Mutter ein trauriges Ende genommen hatte. Sie war ein halbes Jahr nach Timiros Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie war auf dem Weg zum Flughafen gewesen, von wo sie nach Bukarest hatte fliegen wollen, um Medizin zu studieren.
Weder Mugdi noch Gacalo hatten sich je die Frage gestellt, ob Kaluun Timiro vielleicht einmal erzählen würde, dass er ihr leiblicher Vater war. Die allgemeine Sprachregelung lautete, dass sie als Baby adoptiert worden war. Warum ihr mehr erzählen, wenn sie keine Fragen stellte? Sie ist glücklich als ihre Tochter, und nur das war für alle Beteiligten von Bedeutung.
Gacalo kommt nach einem sehr langen Bürotag nach Hause und macht den Eindruck, als trage sie eine schwere Last mit sich herum.
Als Mugdi für sich und Gacalo eine Tasse Tee zubereitet, kommt Timiro dazu. »Mach mir auch eine, Papa«, sagt Timiro.
Mugdi richtet Grüße von Kaluun aus.
»Wie geht es ihnen?«, fragt Gacalo.
»Alles bestens«, sagt er. »Sie haben im Westen Schottlands noch Urlaub gemacht und sind jetzt wieder in London.«
»Hoffentlich haben die Anschläge von Glasgow und London keine negativen Auswirkungen auf die Asylverfahren von Waliya und den Kindern«, sagt Gacalo.
»Mir macht auch Sorgen, dass das Gespenst der Angst wieder umgeht«, sagt Mugdi. »Wir wären besser dran ohne SUVs, die in Flughäfen rasen, oder Bomben, die in U-Bahnhöfen explodieren. Für Dhaqanehs Witwe und die Kinder und viele andere in ähnlicher Lage machen derart barbarische Anschläge alles nur noch komplizierter. Und für uns auch, wir sind alle gefährdet.«
Ein paar Minuten später krümmt sich Gacalo auf ihrem Stuhl zusammen und beugt den Kopf vor. Die Augen sind geschlossen, die Kiefer verspannt, und sie knirscht mit den Zähnen, als habe sie Schmerzen. Mugdi und Timiro wissen um ihr schwaches Herz. Mugdi erinnert sich an ein ähnliches Aufflackern der Symptome, als sie die Nachricht von Dhaqanehs Selbstmord erhielten. Und wie um seinen Befund zu bestätigen, presst sie die Hand auf die linke Brustseite. Mugdi geht zu ihr, nimmt ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen, Liebling. Es wird alles gut werden.«
Gacalo richtet sich auf und atmet tief ein und aus. Dann öffnet sie die Augen und schaut sie an, als wundere sie sich, noch am Leben zu sein. »Hoffentlich.«