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KAPITEL EINS

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Seit mehreren Monaten kämpft Gacalo um Mugdis Zustimmung, Dhaqanehs Witwe Waliya und ihre beiden Kinder nach Oslo zu holen. Mugdi kennt Gacalo und weiß, dass sie ihre Tochter Timiro, die zu Besuch aus Genf gekommen ist, Mugdis jüngeren Bruder Kaluun, ihre Freunde Johan und Birgitta Nielsen sowie Himmo, eine enge Freundin von ihnen beiden, für ihr Anliegen einspannen wird. Himmo ist Somalierin und lebt in Oslo. Ihrer Meinung nach solle sich Gacalo zwar um die Witwe und ihre beiden Kinder kümmern, allerdings da, wo sie sich jetzt aufhalten, in Kenia. Aber Gacalo wird nicht aufgeben, bis Mugdi und alle anderen ihr zugestimmt haben.

Stur stellt Mugdi ihr immer wieder die eine Frage: »Warum soll ich die Frau eines Sohnes unterstützen, den ich wegen seiner terroristischen Taten verstoßen habe?«

Bevor in Somalia die staatliche Ordnung zusammenbrach, war Mugdi Botschafter gewesen. Er ist es gewohnt, dass er seinen Willen bekommt. Man bekommt Ärger, wenn man seiner Argumentation nicht folgt.

Je länger das Patt andauert und Gacalo keinen Zweifel daran lässt, dass sie sich nur mit Mugdis voller Unterstützung zufriedengeben wird, desto mehr machen sich alle Sorgen. Dass sie Mugdi nicht von ihrer Sicht der Dinge überzeugen kann, regt Gacalo wahnsinnig auf. Sie fühlt sich herabgesetzt, nicht mehr geliebt, und nach einem weiteren heftigen Streit stürmt sie eines Nachmittags aus dem Haus.

Als sie nach Stunden noch nicht zurückgekommen ist und auch nicht ans Handy geht, macht sich Timiro auf die Suche nach ihrer Mutter. Sie sucht sie in den beiden kleinen Parks um die Ecke, findet sie dort nicht und ruft Birgitta an, die sie beruhigt, Gacalo sei bei ihr.

Auf dem Heimweg läuft Timiro Himmo in die Arme, die gerade aus der Tram steigt. Sie arbeitet als Krankenschwester und hat Feierabend. Erfreut über die zufällige Begegnung, gehen die beiden Frauen in ein Café, um sich ein bisschen zu unterhalten. Timiro erzählt, dass sie ihre Mutter gesucht hat, und bringt Himmo auf den neuesten Stand der Auseinandersetzung wegen Waliya. »Die Atmosphäre ist seit ein paar Tagen so vergiftet, es ist nicht mehr auszuhalten. Und das habe ich ihnen auch gesagt. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern sich je so gestritten haben oder dass Mama so laut geworden ist. Na ja, außer einmal, als ich noch klein war.«

»Ach ja?«

»Ich war jung und bockig und wollte unbedingt eine Katze. Mama hat kategorisch abgelehnt, ein Haustier würde bei unseren Wochenendausflügen nur stören. Hinter ihrem Rücken habe ich Papa angebettelt, und der hat ja gesagt, ohne vorher mit ihr zu sprechen, und in der Tierhandlung gleich eine Katze für mich gekauft. Ich habe sie noch nie so wütend erlebt. Am Ende setzte sich Papa durch, und ich durfte die Katze behalten.«

»Na ja, dann ist es vielleicht nur gerecht, wenn sich diesmal deine Mutter durchsetzt.«

»Vielleicht. Aber bei Papa weiß man nie. Er ist der Typ, der seine Meinung genau dann ändert, wenn man es am wenigsten erwartet.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagt Himmo. »Aber im Grunde ist er ein sanftmütiger Mann. Er wird schon nachgeben. Da bin ich ziemlich sicher.«

»Das hoffe ich«, sagte Timiro. »Um ihrer beider willen. Mama grübelt ständig vor sich hin, ist dauernd im Büro, und wenn sie dann nach Hause kommt, schweigt sie uns an. Nach dem Abendessen geht sie ins Bett, wenn sie überhaupt bis zum Abendessen da ist. Und Papa zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück und vertieft sich immer mehr in die Übersetzung seines norwegischen Lieblingsromans Giants in the Earth.«

»Irgendwann werden sie sich wieder zusammenraufen«, sagt Himmo. »Mach dir keine Sorgen. Sie lieben sich doch.«

»Ich wünschte nur, sie würden mir nicht meinen Besuch verderben.«

»Gib ihnen Zeit, ihren Ärger zu verarbeiten«, sagt Himmo. »Dein Vater ist erbost, weil sie hinter seinem Rücken mit Dhaqaneh in Verbindung geblieben ist. Und sie ist wütend, weil er ihn verstoßen hat.«

Timiros Handy klingelt. Sie schaut auf das Display und sagt zu Himmo: »Papa.« Sie wendet sich etwas ab und spricht mit ihrem Vater, sagt, er brauche sich keine Sorgen zu machen, Mama sei bei Birgitta und sie selbst sitze mit Himmo in einem Café, sie seien sich zufällig über den Weg gelaufen.

Der Kellner stellt gerade die Kanne Tee auf den Tisch, als Timiro schlecht wird. Sie hält die Luft an und presst die Hand vor den Mund wie jemand, der sich jeden Augenblick übergeben muss. Himmo bemerkt es, sagt aber nichts. Stattdessen schenkt sie beiden Tee ein und beobachtet Timiro, wie sie die Tasse zum Mund führt und schweigend wieder absetzt.

»Genug jetzt von deinen Eltern und dem Streit über Waliya«, sagt Himmo. »Was gibt es bei dir Neues? Wie geht es Xirsi, warum ist er nicht mitgekommen?«

Timiro verändert ihre Sitzposition und schaut Himmo dann glücklich an. »Ich bin schwanger.«

Himmo greift nach Timiros Hand und drückt sie sanft. Sie gratuliert, wünscht ihr Gesundheit und eine Geburt ohne Komplikationen – immerhin wird Timiro wird bei der Entbindung schon vierunddreißig sein. »Deine Eltern freuen sich sicher.«

»Nicht so, wie ich gehofft hatte«, sagte Timiro.

»Nicht? Warum?«

»Wie gesagt, ich bin in eine angespannte Situation geraten. Sie sind viel zu sehr mit ihren eigenen Scharmützeln beschäftigt, um sich in meine Lage einfühlen zu können. Ich kann es ihnen nicht mal verübeln. Dhaqanehs Tod, das Versprechen meiner Mutter an ihn, die Frage, ob Waliya in der Familie willkommen ist oder nicht, das ist jetzt wichtiger als meine Schwangerschaft. Außerdem mögen sie Xirsi ohnehin nicht besonders.«

»Was hast du vor?«, fragt Himmo.

»Ich werde mit ihnen sprechen und ihnen sagen, dass ich mein Kind nicht in einer so feindseligen Umgebung bekommen will.«

»Ich bin sicher, sie werden sich besinnen, und ich hoffe, Xirsi wird auch vernünftig und erfüllt seinen Teil der Abmachung – als Vater des Kindes und als dein Ehemann.«

»Xirsi ist ein Scheißkerl«, sagt Timiro. »Ich glaube kaum, dass er sich ändern kann und Verantwortung für mich und das Kind übernimmt. Ich weiß, dass es hart wird als berufstätige, alleinerziehende Mutter. Aber du hast es ja auch geschafft, und zwar gut.«

»Zu Hause war es mit Kindern einfacher, da hilft einem die Großfamilie. Hier in Europa ist es für die meisten somalischen Frauen härter, egal, ob verheiratet oder nicht. Bei vielen Paaren kommt es zur Krise, weil die Männer nichts zum Zusammenhalt der Familie beitragen. Sie beschäftigen sich mehr mit Politik als mit ihren Kindern. Viele berufstätige Frauen halten das nicht aus und lassen sich scheiden. Diese Mütter haben meine volle Hochachtung. Sie schuften unermüdlich, damit Essen auf den Tisch kommt, kümmern sich um die Kinder, sorgen dafür, dass sie zur Schule gehen und nicht in Schwierigkeiten geraten. Jede von ihnen ist eine Heldin. Man sollte den ganzen Tag ihr Lob singen.«

»Ich bin fertig mit Xirsi. Ich lasse mich scheiden«, sagt Timiro.

Himmo drückt ihr mitfühlend die Hand. Schweigend sitzen die beiden Frauen eine Weile da.

Himmo war dreimal verheiratet und hat sich dreimal scheiden lassen, weil keiner der Männer Verantwortung für die Kinder übernommen hat, um die sie sich jetzt allein kümmert. Das weiß Timiro. »Was die Kinder angeht«, sagt Himmo, »ist von allen Männern, die ich kenne, dein Vater eine Ausnahme.«

Timiro freut sich über diese Bemerkung, und sie unterhalten sich noch ein paar Minuten, dann verabschieden sie sich.

Zu Hause macht Timiro das Abendessen. Ihr Vater arbeitet in seinem Zimmer, und ihre Mutter ist auch schon nach Hause gekommen, allerdings in gedrückter Stimmung. Timiro ruft beide zu Tisch. Sie essen schweigend. Von der Verbundenheit, die ihre Eltern immer ausgestrahlt haben, ist nichts zu spüren. Timiro spürt lediglich ihre Angst vor einer ungewissen Zukunft. Das beunruhigt sie. Warum sollte es gerade jetzt jemand Drittem erlaubt sein, sie auseinanderzubringen, wenn sie in ihrer Trauer besonders zusammenhalten müssen?

Sie konfrontiert ihre Eltern mit der Nachricht, dass sie mit dem nächsten verfügbaren Flug nach Genf zurückkehren werde. Gacalo fängt sich als Erste und stammelt: »Aber du hast doch gesagt, du bleibst länger. Du bist gar nicht in der Verfassung, alleine zurechtzukommen.«

»Ich weiß, warum sie fliegt«, sagt Mugdi.

Gacalo schaut von Mugdi zu Timiro, dann wieder zu Mugdi. »Habe ich da was verpasst? Habt ihr beide euch gegen mich verschworen?«

»Unsere Tochter fliegt nach Hause, weil sie es nicht ertragen kann, dass wir uns so erbittert streiten und keiner nachgeben will.«

»Wenn das so ist, was gedenkst du dagegen zu tun?«

»Was gedenken wir dagegen zu tun, Mama«, sagt Timiro. »Das betrifft alle in der Familie, auch das Baby in meinem Bauch.«

Nie wird Timiro den Augenblick vergessen, als der Widerstand ihres Vaters brach – als sie nämlich das alle einschließende Pronomen »wir« in »Was gedenken wir dagegen zu tun?« aussprach. Es stimmt, sie ist mit der Geduld für ihre keifenden Eltern am Ende. Dennoch spürt sie, dass ihr Vater sich wie kein anderer selbst unter Druck gesetzt hat. Verständlicherweise, denn er würde einem Außenstehenden nie erlauben, in ihr Leben gerade dann einzudringen und Schaden anzurichten, wenn sie voller Glück die Geburt ihres Enkelkinds erwarten. Sie habe seine blinzelnden Augen gesehen, wird sie später behaupten, und habe gewusst, dass er nachgeben werde. Und tatsächlich fügt er sich allem, was ihre Mutter anordnet: ein Auto zu mieten, um Waliya abzuholen; Waliya und ihre Kinder zu ihrem neuen Zuhause zu fahren, einer Dreizimmerwohnung, die Gacalo für sie gemietet hat; und dass er all das alleine erledigen müsse, da Gacalo genau an diesem Tag ein Meeting zu leiten habe, das sie unter keinen Umständen versäumen dürfe. Und so bleibt Mugdi nur noch zu sagen: »Es wird mir ein Vergnügen sein, Liebling, sie willkommen zu heißen.«

Er ist ein Schatz.

Gacalo packt ihre Unterlagen für das Büro zusammen, dann überreicht sie Mugdi eine prall mit Münzen gefüllte Geldbörse.

»Was soll das?«

»Für die Parkuhr«, sagt Gacalo.

Mugdi hat Gacalo noch nie nervös erlebt, aber jetzt ist sie so aufgeregt wie eine Glucke, die jeden angackert, der ihren Küken zu nahe kommt.

»Du versprichst mir, dass du ihnen keine unangenehmen Fragen stellst«, sagt sie. »Nicht beim ersten Zusammentreffen, und auch nicht später im Auto auf dem Weg zur Wohnung. Da warte ich dann auf euch.«

»Keine Sorge.«

»Wenn er doch auch kommen würde!«

Er sagt nichts. Er weiß, dass sie von Dhaqaneh spricht. Sie wendet sich von ihm ab, weil ihr Tränen in die Augen steigen. Bevor sie das Haus verlässt, sagt sie mit erstickter Stimme: »Und ruf mich auf jeden Fall an.«

Auf der Fahrt zum Flughafen kommt Mugdi nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass er auf der Welt sei, um zu leiden. Ein Somali, den der Tod eines Sohnes und die Ankunft einer Witwe mit ihren Kindern bewegt, wenn ihn doch eigentlich sein dahinsiechendes Land bekümmern sollte. Er verabscheut das seit 1991 gnadenlos dysfunktionale Somalia, das wegen seiner gescheiterten Clanpolitik kollabierte und aus Mogadischu ein Schlachtfeld machte.


Mugdi kam 1988 nach Norwegen, noch vor Beginn des Konflikts. Damals war Norwegen ein anderes Land. Die Mehrheit seiner muslimischen Bevölkerung bestand aus einer homogenen Gemeinde von Pakistani, die als Arbeitsmigranten ins Land gekommen waren. Bald nach seiner Ankunft lernte Mugdi einen Neunzehnjährigen kennen, der Mitglied der rechten Nationalen Volkspartei war und 1985 einen Bombenanschlag auf die Nor-Moschee verübt hatte – ein Vorbote der später immer häufigeren Anschläge.

Sein Freund Johan Nielsen sagte damals: »Das ist nichts Neues. Früher waren für die Rechtsradikalen die Juden die existenzielle Bedrohung für Norwegen, heute sind es die Muslime.«

»Es ist trotzdem beunruhigend«, sagte Mugdi.

»Vor einem Jahr«, fuhr Johans Frau Birgitta fort, »hat ein bekannter norwegischer Politiker der extremen Rechten behauptet, einen Brief von einem Muslim bekommen zu haben. Der habe geschrieben, eines Tages würden Moscheen in Norwegen so normal sein wie heute Kirchen. Und das heidnische Kreuz in der Landesflagge werde dann verschwunden sein. Eine glatte Lüge, den Brief hat es nie gegeben.«

Als er von diesen Vorfällen hörte, glaubte Mugdi nicht, hier willkommen zu sein und sicher leben zu können. Er erwog sogar, nach Somalia zurückzugehen. Vielleicht hätte er es sogar getan, wenn Gacalo ihn nicht angefleht hätte, um der Kinder willen zu bleiben. Stattdessen tat er aus der Ferne, was er für sein Land tun konnte. Er schrieb Berichte und Leitartikel, in denen er sich für den Frieden zwischen den sich bekämpfenden Clanmilizen einsetzte. Dann schloss er sich einer Gruppe ehemaliger somalischer Botschafter, Politiker und Intellektueller an, deren Ziel es war, das Ausbluten des somalischen Gemeinwesens zu beenden, was jedoch erfolglos blieb. Aber er gab nicht auf und stellte für die Sitzungen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in New York Hintergrundinformationen über Somalia zusammen. Er reiste unablässig und sah seine Familie immer weniger. In dieser Zeit begannen die Schwierigkeiten mit Dhaqaneh. Er schwänzte so oft den Unterricht, dass man ihm schließlich mit Schulverweis drohte.

Wenn Mugdi zu Hause war, machten ihn die Spannungen in der Familie nervös und gereizt. Die Arbeit für sein Land zeitigte keinen Erfolg, er war entmutigt und niedergeschlagen. Er zog sich aus der somalischen Gemeinde zurück und verbrachte mehr Zeit in seinem Arbeitszimmer und im Fitnessstudio, ging im nahe gelegenen Park spazieren und versuchte, Dhaqaneh wieder auf den rechten Weg zu führen.

Trotz seiner Bemühungen lief es nicht gut mit seinem Sohn. Er lief immer mehr aus dem Ruder, bis er schließlich eines minderschweren Vergehens angeklagt wurde. Er und zwei pakistanische Freunde wurden beschuldigt, eine alte Dame verletzt zu haben, als sie sich um einen Ball prügelten. Mugdi versprach Gacalo, mit Dhaqaneh zu reden, was er aber nicht tat. Vielmehr engagierte er sich bei einer neuen politischen Gruppe und arbeitete für einen weiteren somalischen Friedensdialog. Seine Bemühungen endeten im Nichts, und in der Gruppe gab man sich entlang der Clanlinien gegenseitig die Schuld dafür. Einmal mehr schwor sich Mugdi, sich nie mehr auf somalische Politik oder selbstsüchtige Politiker einlassen zu wollen.

Dann bekam Dhaqaneh wieder Ärger mit der Polizei. Diesmal wurde er beschuldigt, der Anführer einer Gruppe gewesen zu sein, die sich eine spontane Schlägerei mit Skinheads geliefert hatte, und Gacalo flehte Mugdi an, Dhaqaneh ernsthaft ins Gewissen zu reden. Aber ihr Sohn ließ sich von seinem eingeschlagenen Weg weder von Mugdi noch sonst jemandem abbringen, und es war klar, dass er auch vor Gewalt gegen seinen eigenen Vater nicht zurückschrecken würde. Er nannte ihn einen »lausigen Politiker, einen Versager«. Er könne keine Achtung vor ihm haben.

Als Dhaqaneh im Teenageralter und Mugdi Somalias Botschafter in Deutschlands Hauptstadt Bonn war, hatte Dhaqaneh ein enges Verhältnis zu Gacalo und galt als Muttersöhnchen. In der Pubertät verbrachte er dann immer mehr Zeit allein in seinem Zimmer. Bei zugezogenen Vorhängen hörte er laut Musik, surfte im Internet und schaute sich Pornos an. Bei einem seiner Besuche zu Hause öffnete Mugdi eines Abends die Tür von Dhaqanehs Zimmer, wo sich sein Sohn gerade splitterfasernackt einen Porno anschaute. Gacalo schlug ein Sabbatical weit weg von Timiro vor. Ständig stritten sich die beiden. Timiro war pflichtbewusst, er nicht; sie arbeitete hart für die Schule, er nicht; sie hatte Erfolg mit allem, was sie anpackte, er nicht. Dhaqaneh hasste es, mit ihr verglichen zu werden, und er hasste auch ihre Courage. Was, wenn Gacalo und Dhaqaneh zusammen nach Mogadischu führen? Würde ihm vielleicht ein Ort guttun, an dem es weniger Annehmlichkeiten gab als in Europa? Sie könnten es für ein paar Monate versuchen. Sie hatten in der Stadt immer noch die Einzimmerwohnung, in der Mugdi übernachtete, wenn er sich, meist aus beruflichen Gründen, in Somalia aufhielt.

Dhaqaneh war einverstanden. Er dachte, er könne dort seine Sprachkenntnisse vertiefen, Gitarre lernen und dann eigene Songtexte auf Somalisch schreiben. Seine Eltern wussten um sein Interesse an Musik, das noch gestiegen war, als er nach einem Konzert in Köln einen seiner somalischen Lieblingssänger getroffen hatte. Fasziniert hatte er zugeschaut, wie der Musiker ein birnenförmiges Saiteninstrument gespielt hatte, das im Arabischen Oud und auf Somalisch Kaman hieß. Seitdem wollte Dhaqaneh unbedingt dieses Instrument lernen. Er wollte auf Somalisch seine eigenen Songs schreiben und sie singen.

Gacalo und Mugdi freuten sich, dass er darauf brannte, nach Mogadischu zu reisen. Von den musikalischen Ambitionen seines Sohnes war Mugdi allerdings weniger begeistert.

»Und was ist mit Schule?«, fragte Mugdi.

»Keine Schule. Ich will Sänger werden.«

»Dann ist ja alles geklärt«, sagte Gacalo und kaufte in einem libaneischen Laden, der auf arabische Musikinstrumente spezialisiert war, eine Kaman. Zwei Wochen später flogen Mutter und Sohn nach Mogadischu. Dhaqanehs Interesse am Oud spielen und Songs schreiben verflog allerdings schnell, sodass sie keine drei Monate später wieder nach Bonn zurückkehrten. Außerdem war Somalia gar nicht nach Dhaqanehs Geschmack. Er war in Europa geboren und aufgewachsen, und Mogadischu unterschied sich sehr von Moskau, London, Brüssel oder Rom, den Städten, die er von den Botschafterstationen seines Vaters gewohnt war. Weder Gacalo noch Mugdi waren überrascht, als Dhaqaneh sagte, er könne sich Somalia nicht als sein Land vorstellen.

Mugdi musste zugeben, dass Gacalo den Jungen in den frühen Jahren, als er gearbeitet hatte und sie Hausfrau gewesen war, gut erzogen hatte. Als sie die Rollen tauschten und sie für den Broterwerb zuständig war und es ihm zufiel, der geduldige, taktvolle und liebende Ratgeber des Jungen zu sein, hatte er versagt.

Als Mugdi und Gacalo wieder einmal versuchten, die Beziehung zu ihrem Sohn zu verbessern, fing Dhaqaneh an, eifrig und regelmäßig in die Moschee zu gehen. Er verbrachte seine Zeit abwechselnd an der Universität, wo er ernsthaft für seinen Abschluss in Kommunikationswissenschaft arbeitete, und dem Gotteshaus, wo er leidenschaftlich betete. Seine Eltern wussten allerdings nicht, dass dort ein wegen seiner radikalen Ansichten berüchtigter Imam Einfluss auf ihn gewann. Dhaqaneh war in seinem vorletzten Studienjahr, als er erstmals sein Missfallen über das säkulare Leben seiner Familie zum Ausdruck brachte. In den folgenden Wochen wurden seine Kritik immer schärfer und die Differenzen schließlich unüberbrückbar.

Dhaqaneh war immer ein Mensch der Extreme. Oft sagte er: »Ich liebe das und nichts anderes«, oder »Ich hasse das mehr als alles andere.« Beispielsweise hatte er schon als Kind wochenlang nur Spaghetti gegessen, um dann zu verkünden, jetzt wolle er keine Spaghetti mehr, und hat dann auch monatelang keine mehr angerührt. Die Eltern haben sich irgendwann mit seinen Entscheidungen abgefunden.

Dhaqaneh studierte in Mogoadischu, und Mugdi fand, dass ein Gespräch mit ihm dringend nötig sei, sodass er nach Hause kommen musste. Er war inzwischen ein hoch aufgeschossener Mann mit Brille und Vollbart und nach vier Jahren in Mogadischu ruhiger als in seiner Jugend.

Im Laufe dieser Jahre hatte der Einfluss des Imams Wirkung gezeigt. Dhaqaneh liebte jetzt Somalia und kam nur noch zu Besuch nach Oslo, vor allem wenn er Geld brauchte. Bei diesen Besuchen tat er geheimnisvoll, behielt für sich, was er in Somalia tat oder wo er wohnte. Es ärgerte Mugdi maßlos, wenn sein Sohn sich in hochtrabenden Worten darüber ausließ, »den Islam vom westlichen Einfluss, der seine Ursprünglichkeit zugrunde richtete, zu reinigen«.

Eines Abends beim Essen, als sie auf die Bombenanschläge von al-Qaida auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Dares-Salam und auf 9/11 zu sprechen kamen, erklärte Dhaqaneh, nur der Islam könne die Welt und jeden ihrer Bewohner vor der Verdammnis retten, und dass er, falls nötig, bereit sei, für das Erreichen dieses Ziels zu töten.

Ein heftiger Streit entbrannte, hitzige, harte Worte fielen. Gacalo flehte ihren Sohn an, den Vater nicht zu provozieren, und bekniete Mugdi, das alles als das zu betrachten, was es sei: die Loslösung eines Sohnes von seinem Vater, um den eigenen Weg in der Welt zu finden.

Zu dieser Zeit arbeitete Dhaqaneh in Oslo als Freiwilliger in einer islamischen, von den Saudis finanzierten Wohltätigkeitsorganisation, lebte in einer Einzimmerwohnung in der Nähe der Moschee, wo er jungen somalischen Studenten kostenlose Nachhilfe in Mathematik und Naturwisschenschaften erteilte. Außerdem gab er Abendkurse für Erwachsene und fuhr Taxi, womit er gerade genug verdiente, um seine Rechnungen bezahlen zu können. Gacalo spürte, dass Mugdi unglücklich darüber war, dass ihr Sohn keinen Ehrgeiz entwickelte. Aber es freute sie, dass er in der somalischen Community beliebt war.

Als man einige Monate später Dhaqanehs religiösem Mentor am Flughafen die Ausreise verweigerte, weil er verdächtigt wurde, Verbindungen zu den 9/11-Attentätern zu haben, fragte Mugdi seinen Sohn, was er davon halte. Ob er gewusst habe, dass der Imam nach Mogadischu fliegen wollte? »Hattet ihr vor, euch da zu treffen?«, fragte er ihn.

Das folgende Schweigen war so eisig wie vielsagend. Vater und Sohn starrten sich an. Keiner wollte nachgeben.

Mugdi sprach als Erster. Er erinnerte Dhaqaneh daran, dass die Menschen und die Regierung von Norwegen rechten Politikern und Ausländerfeinden unerschrocken die Stirn böten und weiterhin Tausende von Migranten und Flüchtlingen aufnähmen, von denen viele Muslime seien. »Ich hoffe, du und deine gleichgesinnten Freunde wissen die großzügige und linksgerichtete Politik der Regierung zu schätzen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Wie sollten deiner Meinung nach Muslime auf Norwegens Willkommenskultur der Offenheit reagieren?«

»Das ist irrelevant«, sagte Dhaqaneh.

»Was meinst du?«

»Für mich sind alle Nichtmuslime Kreaturen ohne Seele, und als solche sind sie auch nicht in der Lage, über ihre Handlungen zu entscheiden. Es ist vielmehr Allahs Wille, dass sie Muslime willkommen heißen und die hungernden Massen in Somalia mit Lebensmitteln versorgen. Kurz gesagt, sie haben gar keine Wahl.«

Das verschlug Mugdi erst mal die Sprache. Dann fragte er seinen Sohn nach den nichtmuslimischen Freunden der Familie, zum Beispiel Johan und Birgitta. »Was ist mit denen? Sind das auch Kreaturen ohne Seele?«

»In meinen Augen sind sie keine vollwertigen Menschen«, sagte Dhaqaneh. »Wenn es darauf ankäme, dann würde ich nicht zögern, sie auszumerzen.«

Wieder kam Mugdi der Gedanke, seinen Sohn aus dem Haus zu werfen und ihn aufzufordern, sich nie mehr blicken zu lassen. Aber er wusste, dass Gacalo da niemals mitziehen würde.


Er geht durch die Ankunftshalle und versucht vergeblich, sich daran zu erinnern, was er direkt nach dieser Unterhaltung getan oder gesagt hat. Gacalo weiß, dass er und Dhaqaneh einen Krach hatten, aber worum es dabei zwischen Vater und Sohn genau ging, das weiß sie nicht. Und nach wie vor ist Mugdi fest entschlossen, es dabei zu belassen.

Mugdi geht in ein Café gegenüber der Fluginformationstafel, holt sich einen Kaffee und ein Croissant und beobachtet die Männer und Frauen, die ebenfalls vor dem Ankunftsgate warten. Manche halten Schilder in die Höhe mit den Namen der Personen, die sie abholen wollen.

Er geht davon aus, dass Waliya und ihre Tochter Saafi aus religiöser Überzeugung den physischen Kontakt zwischen Mann und Frau, wenn sie nicht verheiratet sind, ablehnen. Als er kürzlich einer Frau, die er schon seit Jahren kennt, zur Begrüßung die Hand geben wollte, sagte diese nur: »Tut mir leid, kein Händeschütteln.« Nicht, dass er eine Erklärung verlangt hätte, aber sie sagte: »Früher waren wir keine guten Muslime, aber jetzt wissen wir es besser.« Mugdi glaubte ganz im Gegenteil, dass die Somalis die besseren Muslime waren, bevor der Bürgerkrieg 1991 ihren Geist vergiftet und ihr Herz verdorben hatte.

Mugdis Blick wandert vom Gesicht einer weißen Frau zu einem Mann mit orientalischen Zügen, von einer Frau in einem Sari zu einem afrikanischen Mann in einem Boubou. Und ihm geht durch den Kopf, dass ein solches Bild der Vielfalt an einem öffentlichen Platz in Mogadischu unmöglich wäre. Traurig. Bei einigen Norwegern beobachtet er, wie sich ihr Gesichtsausdruck verändert, wenn sie eine muslimische Frau in Vollverschleierung sehen. Vielleicht empfinden sie sie als Bedrohung. Eine Frau im Sari dagegen gilt hier als ungewöhnlich und faszinierend. Mugdi erinnert sich an einen Artikel über einen Richter im amerikanischen Bundesstaat Georgia, der einer Frau mit Kopftuch den Zutritt zu seinem Gerichtssaal verwehrte. Würde derselbe Richter einen Juden mit einer Kippa auf dem Kopf oder eine Nonne in Ordenstracht abweisen? Mugdi hält sich für einen spirituellen Menschen, auch wenn er nicht die Disziplin aufbringt, jeden Tag zu bestimmten Stunden zu beten, und seine Spiritualität nicht den Zwängen und Ritualen eines formelhaften Glaubens unterwerfen will. Jede Form der Reglementierung widerstrebt ihm.

Sein Handy vibriert, und er schaut auf das Display. »Ja, Liebling?«

»Wir haben gerade Teepause. Ich sehe im Internet, dass der Flug Verspätung hat.«

»Ja, ich sehe es auch gerade an der Informationstafel.«

Eine Stunde später kommt die Durchsage, dass der Flug mit Waliya und ihren Kindern gelandet ist. Mugdi schickt Gacalo eine SMS: »Sie sind da.«

Im Norden der Dämmerung

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