Читать книгу Im Norden der Dämmerung - Nuruddin Farah - Страница 14
KAPITEL SECHS
ОглавлениеZwei Tage später herrscht gute, lockere Stimmung. Gacalo freut sich, dass Timiro wieder so weit obenauf ist, dass sie auf einen Höflichkeitsbesuch bei der Witwe und den Kindern vorbeischauen kann. »Wird höchste Zeit, dass ich sie kennenlerne«, sagt Timiro. »Außerdem ist es eine willkommene Abwechslung.« Kurz zuvor hat sie mit Eugenia telefoniert, die für sie einen Anwaltstermin ausmachen wird, damit Timiro die Scheidung von Xirsi einreichen kann.
Mugdi überfällt die beiden Frauen mit einer Frage. »Habt ihr nicht gesagt, dass Saafi unter schrecklichen Albträumen leidet?«
»Ja«, sagt Gacalo.
»Was passiert in den Albträumen?«
»Im Traum ist alles pechschwarz«, sagt Gacalo. »Sie wird von einem bärtigen, lüsternen Mann mit einer Fackel verfolgt.«
»Wie wollt ihr dem Mädchen helfen?«
»Ich habe schon Kontakt zu einer befreundeten Psychologin aufgenommen«, sagt Timiro. »Qumman, du kennst sie ja, Papa. Sie hat zugesagt, Saafi zu treffen.«
»Ich dachte, Qumman hat ihre Praxis in Stockholm«, sagt Mugdi. »Ist sie nach Oslo umgezogen und praktiziert jetzt hier?«
»Inzwischen ist die Nachfrage nach Somalisch sprechenden Therapeuten in Skandinavien so groß, dass sie jetzt in beiden Städten praktiziert«, sagt Timiro.
»Hast du daran gedacht, wie Waliya darauf reagieren könnte, dass ihre Tochter zu einem Psychologen geht?«
»Das ist Mamas Problem, nicht meins.«
»Ich glaube eher, dass für Saafis Heilung in Waliyas Augen nur eine einzige Methode annehmbar ist«, sagt Mugdi. »Und zwar die Lektüre des Korans. Wenn Qumman aber regelmäßige Sitzungen für nötig hält, einmal im Monat oder so, wie wollt ihr das bewerkstelligen?«
»Ich finde schon eine Lösung«, sagt Gacalo zuversichtlich.
Als Gacalo und Timiro sich wenig später auf den Weg zur Trambahn machen wollen, kommt Mugdi gerade aus seinem Arbeitszimmer, um sich in der Küche Kaffee nachzuschenken. Er fragt Gacalo: »Es würde mich interessieren, was Waliya und Timiro voneinander halten.«
Er erinnert sich daran, das Timiro die Witwe mal als »Opfer der Umstände« bezeichnet hat. Er fragt sich, ob die Begegnung ihre Meinung über die Witwe ändern wird. Er hofft, dass das Gespräch höflich bleibt und es nicht zu Verwerfungen kommt, die Gacalo nicht mehr kitten kann.
Bester Laune schlendern die beiden Arm in Arm zur Haltestelle der Tram. Die Tochter genießt die Gesellschaft ihrer Mutter. Als sie im Hauptbahnhof ankommen, beschließen sie, nicht in eine andere Tram umzusteigen, sondern den Rest des Weges zu Fuß zu gehen. Sie haben keine Eile. Der kleine Ausflug macht Gacalo mehr Spaß, als sie für möglich gehalten hätte. Immerhin hat sie das Versprechen an ihren Sohn gehalten und für Waliyas sichere Ankunft in Oslo gesorgt. Außerdem freut sie sich, dass die mit ihrem Enkel schwangere Timiro bei ihr ist und dass sie zusammen die Mutter von Dhaqanehs Stiefkindern besuchen – wenn er ihr schon keine leiblichen Enkel geschenkt hat.
Timiro schlägt vor, die Witwe vor ihrer Ankunft anzurufen, aber Gacalo meint, das sei nicht nötig. »Sie sind sicher da«, sagt sie. »Wohin sollen sie gegangen sein? Und dass sie einen Spaziergang durch die Nachbarschaft machen, ist auch nicht gerade wahrscheinlich.«
Timiro holt ihr Handy aus der Tasche. »Schadet nicht, wenn wir kurz Bescheid sagen«, sagt sie. Aber es hebt niemand ab.
Als sie den Wohnblock erreichen, tippt Gacalo den vierstelligen Code in den Ziffernblock neben dem Eingang. Im Lift begegnen sie einer alten Frau, die Gacalos freundlichen Gruß nicht erwidert. Die für ihre Schnellschüsse berüchtigte Timiro sagt auf Somalisch: »Wenn die Leute in der Anlage alle so unfreundlich sind wie die Frau hier, na dann, danke.« Gacalo bittet ihre Tochter, nett zu Waliya zu sein und nichts zu sagen, was sie provozieren könnte. »Bitte keine von deinen üblichen Kraftproben.« Gacalo erinnert sich an Mugdis Warnung, dass Timiro sicher Streit mit Dhaqanehs Witwe anfangen werde – als wolle sie klarstellen, dass die Geschwisterrivalität immer noch lebe.
Der Lift hält im dritten Stock, und die alte Frau steigt aus. Gacalo und Timiro fahren noch einen Stock weiter, wo der Lift mit einem zischenden Geräusch zum Stehen kommt.
Gacalo klingelt. Keine Antwort. Dann klopft sie an die Wohnungstür, erst leise, dann lauter. Timiro steht hinter ihr. Nach ein paar Minuten sagt Timiro: »Genug gewartet, Mama. Gehen wir. Sehr schlau von Papa, erst gar nicht mitzukommen.« Ungeduldig drückt sie auf den Liftknopf.
Ungefragt hebt Gacalo zu einer Erklärung an. »Seit einiger Zeit praktizieren viele Muslime eine andere Art des Islam als den, mit dem du und ich aufgewachsen sind. Früher haben die Somalis das Verhältnis zwischen Mann und Frau entspannter gesehen, Räume wurden nicht zwangsläufig nur einem bestimmten Geschlecht zugeordnet. Unser Volk hat sich in letzter Zeit einer konservativeren, rigideren Tradition zugewandt, dem Wahhabismus, der zum Beispiel verlangt, dass es für die beiden Geschlechter verschiedene Hauseingänge geben muss.«
»Und was passiert, wenn es nur eine Tür gibt? Wie regeln sie dann das Kommen und Gehen?«
»Tja, wenn es nur einen Eingang gibt, so wie hier, dann darf nur ein Mann einen Fremden hereinlassen.«
»Schrecklich«, sagt Timiro.
»Du darfst eins nicht vergessen«, sagt Gacalo. »Zum ersten Mal gibt es Millionen von Muslimen, die mit anderen Religionen in Berührung kommen. Es ist in Mode gekommen, von der Bewahrung der islamischen Kultur in ihrer reinsten Form zu reden. Deshalb haben sich immer mehr Muslime für den wahhabatischen Weg des konservativen Islam entschieden. Und nach deren Regeln dürfen sich die Geschlechter nicht vermischen und müssen Frauen einen männlichen Beschützer haben.«
»Glaubt Naciim deshalb, dass er der Obermacker ist? Weil einige Scheichs behaupten, dass das der wahre Islam ist?«
»Ja. Der konservative Islam schreibt vor, dass weder Waliya noch Saafi uns die Tür öffnen dürfen, wenn Naciim, der Ersatzbeschützer, nicht im Haus ist.«
»Das ist nicht zu fassen«, sagt Timiro.
Der Lift kommt und kommt nicht. Timiro drückt permanent auf den Knopf und flucht. Gacalo hingegen behält die Wohnungstür im Auge und hofft, sie möge sich doch noch öffnen.
»Ich kann Waliyas Vorsicht verstehen«, sagt Gacalo. »Ihre Tochter ist vergewaltigt worden. Außerdem haben in letzter Zeit Männer, die so alt sind wie dein Vater, in vielen Gegenden Somalias Mädchen geheiratet, die noch jünger sind als Saafi.«
Timiro ist sauer, dass der Aufzug nicht kommt. Erst tritt sie gegen die Lifttür und dann gegen die Tür von Waliyas Wohnung. Ein paar Sekunden später öffnet sich die Tür, und Naciim steht vor ihnen. Er entschuldigt sich. »Ich stand unter der Dusche, ich hatte keine Ahnung, dass ihr da seid. Erst den Krach habe ich gehört.«
Der Junge ist sichtlich überrascht. Er freut sich so, Gacalo zu sehen und Timiro kennenzulernen, dass er anscheinend nicht weiß, was tun: Soll er ihnen die Hand schütteln, oder soll er warten, ob sie ihn einer Umarmung für würdig befinden. Dann bemerkt Gacalo ein leichtes Stirnrunzeln bei ihm. Kann es sein, dass er sich darüber klarzuwerden versucht, wie wohl seine Mutter auf Timiro reagieren wird, die wie eine Norwegerin gekleidet ist, nicht wie eine Somali?
Kurz darauf breitet sich auf Naciims Gesicht ein Lächeln aus, und er sagt, wie er sehr er sich freut, Tante Timiros Bekanntschaft zu machen. Aber zu Gacalos Ärger schleudert Timiro dem Jungen ihren ganzen Zorn ins Gesicht. »Wir haben uns die Finger wund geklopft, warum hast du uns so lange warten lassen?«
Als zusätzliche Beleidigung ignoriert sie seine ausgestreckte Hand und geht, Zornesfalten im Gesicht, an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Sie setzt sich auf die Couch und schaut sich um, mustert die kahlen Wände, die beiden zerschlissenen Läufer, das billige Mobilar, die leere Tüte Kartoffelchips und die nackten Glühbirnen an der Decke. Eine hängt direkt über ihrem Kopf.
»Sag deiner Mutter, dass Besuch da ist«, sagt Gacalo zu Naciim.
Sekunden später ist Naciim wieder zurück und setzt sich in einen Sessel. »Ich habe ihnen gesagt, dass ihr da seid.«
Immer noch ärgerlich sagt Timiro: »Da ist etwas, das ich nicht verstehe.«
»Liebling, lass ihn.«
»Erkläre mir bitte, wer dich als einzige Person dazu ausersehen hat, hier die Tür zu öffnen?«, fragt sie ihn.
»Als einziger Mann im Haushalt ist es meine Aufgabe, die Frauen vor allem zu bewahren, was den Namen der Familie entehren könnte«, sagt er. »Das ist der rechte Weg, der islamische Weg.«
»Wie beschützt du sie?«
»Ich entscheide, wer die Wohnung betritt und wer nicht.«
Naciim denkt an den Grundsatz, den sein Vater ihm eingebläut hat: dass in seiner Abwesenheit er, Naciim, der Mahram seiner Mutter und seiner Schwester sei und deshalb ihr Oberhaupt.
Schließlich bewegt sich die Tür zum angrenzenden Zimmer, und Saafi taucht auf. Ein zartes, liebliches und puppenartiges Wesen, makellos gekleidet und nur dezent mit einem Kopftuch verschleiert. Sie berührt mit den Lippen Gacalos und Timiros Hände und setzt sich dann auf den am weitesten von den beiden Frauen entfernten Stuhl, die Beine zusammen, die Füße geradeaus, die Hände im Schoß. Das Mädchen ist mit einer atemberaubenden Schönheit und verführerischen Augen gesegnet. Ein Jammer, denkt Timiro, dass sie ihre Schönheit vor der Welt verbergen muss.
In der Zwischenzeit tritt Waliya in den Raum. Ihr ist bewusst, wie wichtig es ist, beim ersten Zusammentreffen mit der Schwägerin einen guten Eindruck zu machen. Obwohl sie etwas rundlich um die Hüfte ist, bewegt sie sich elegant. Der Schleier ist aus hauchdünnem, dunklem Material mit einem schmalen Schlitz für die Augen. Ihr Blick fordert, oder besser beharrt auf raffinierte Weise darauf, dass man sie ein zweites Mal anschaut. Sie ist barfuß. Während sie weiter in den Raum hineingeht, in dem alle verstummt sind, richtet sie ein paar bewusst bezaubernde Worte an Gacalo. Sie bleibt mit etwas Abstand vor Timiro stehen, senkt den Kopf und heißt sie mit einigen geflüsterten Worten willkommen.
Waliya und Timiro mustern sich von Kopf bis Fuß, sagen aber lange Zeit kein Wort. Waliya setzt sich ebenfalls auf einen Stuhl, der weit von Timiro entfernt ist.
»Was darf ich euch anbieten? Einen Tee?«, fragt sie.
»Ich kann auch Kaffee machen«, sagt Saafi.
»Wir wollten nur kurz schauen, wie es euch geht«, sagt Gacalo. »Vielleicht wollt ihr zu uns zum Essen kommen?«
»Wir kommen bestens zurecht«, sagt Waliya.
»Der Herd funktioniert? Ihr könnt euch was kochen?«
»Naciim hat herausgefunden, wie er funktioniert. Er gibt nicht nach, bis er weiß, wie etwas funktioniert. Ob ein Herd oder Kühlschrank oder Handy. Dhaqaneh hat ihm viel beigebracht.«
Während sie spricht, behält sie auch Naciim aufmerksam im Auge. Schließlich hat sie genug davon, wie er Timiro angafft. »Was sitzt du hier bei den Frauen?«, sagt sie zu ihm. »Bitte geh in dein Zimmer und lern die Verse, die dein Koranlehrer dir aufgegeben hat.«
»Ja, Mutter«, sagt er mürrisch und steht auf.
Sie sei beeindruckt, sagt Gacalo zu Waliya, dass sie einen Lehrer gefunden habe, der dem Jungen Koranunterricht erteilt.
Timiro verfolgt das Gespräch genau, schaut jetzt zu Saafi und dann zu Waliya. »Da wir schon beim Thema sind«, sagt sie. »Ich würde gern etwas mehr über die Erziehung von Saafi und Naciim erfahren.«
»Saafi ist zu Hause unterrichtet worden«, sagt Waliya. »Wir haben sie von der staatlichen Schule in Kenia abgemeldet.«
Timiro kann nicht umhin, Waliya direkt zu fragen. »Willst du uns damit sagen, dass du deine Tochter zu Hause behalten hast und sie nicht zusammen mit den anderen Kindern in die Schule des Flüchtlingslagers geschickt hast?«
»Das habe ich nicht gesagt«, sagt Waliya.
»Was hast du dann gesagt?«
Weil Waliya nicht sofort antwortet, greift Gacalo ein und blockt die Forderung ihrer Tochter nach einer genaueren Erklärung Waliyas ab. »Das reicht erst mal, Timiro«, sagt sie und wendet sich an Waliya. »Und was ist mit Naciim?«
Timiros Fragen machen Waliya wütend, deshalb schlägt sie einen anderen Kurs ein. Sie wirft Saafi einen flehentlichen Blick zu, dass sie doch die Frage über ihren Bruder beantworten möge. Saafi gehorcht. »Er ist zwölf Jahre alt und geht in die siebte Klasse.«
»Lass mich meine Frage wiederholen: Welche Art von Erziehung möchtest du hier in Norwegen für deine Kinder?«
Waliya macht Saafi ein Zeichen, dass sie das Zimmer verlassen soll.
»Ich möchte eine gute Erziehung für beide Kinder, und wir nehmen gern jede Hilfe an«, sagt Waliya. »Am wichtigsten ist mir, dass sie die heilige Sprache des Propheten und des Koran erlernen und dann Unterricht in islamischer Theologie erhalten.«
»Ich fürchte«, erwidert Timiro, »dass du für die Art ›guter Erziehung‹ im falschen Land bist.«
Gacalo ist bestürzt. Sie wünscht, sie hätte vorher mit Timiro über dieses Thema gesprochen.
»Warum sagst du, dass Norwegen dafür das falsche Land ist?«, fragte Waliya. »Gibt es hier keine Muslime, die den Koran unterrichten und ihren Kindern die Überlieferungen des Propheten nahebringen?«
Fast versagt Gacalo die Stimme, als sie Waliya erläutert: »Du musst wissen, die staatlichen Schulen hier vermitteln nicht die Art von ›guter Erziehung‹, die du dir für Saafi und Naciim vorstellst.«
»Und wie machen das die anderen Muslime?«, fragt Waliya.
»Moscheen und Islamzentren bieten Kurse an, aber nur nach der Schule«, sagt Gacalo. »Außerhalb des Lehrplans, nicht als Hauptfächer.«
»Gibt es keine anderen Möglichkeiten?«
»Die beste wäre, zu warten, bis sie ihr erstes Examen an der Universität gemacht haben«, sagt Timiro. »Dann können sie einen Masterabschluss in Theologie machen.«
Aus ihrem Gesichtsausdruck schließt Timiro, dass Waliya keine Ahnung hat, was ein erstes Examen oder ein Masterabschluss ist oder wo man diese erwirbt.
Timiro wechselt das Thema und fragt: »Warum hast du dich und deine Kinder überhaupt so einer großen Gefahr ausgesetzt, um es bis nach Oslo zu schaffen?«
»Was soll das, Timiro?«, wirft Gacalo ein, als Waliya wiederholt, dass sie nur das Beste für ihre Kinder will.
»Mit der Erziehung, die du dir vorstellst, wenn sie denn zu haben wäre, landen deine Kinder nur in der breiten Unterschicht Norwegens«, sagt Timiro.
Gacalo und Waliya hören schweigend zu, als Timiro in scharfem Ton fortfährt. »Warum bist du nicht in ein islamisches Land wie Saudi-Arabien gegangen, wo deine Kinder in den Genuss der von dir so ersehnten ›guten Erziehung‹ kommen würden?«
Schließlich fällt Gacalo ihr energisch ins Wort. »Du hörst dich an, als würdest du in einem umkämpften Wahlkreis für eine rechte Partei um Stimmen werben.«
»Du hältst dich da raus, Mama.«
Die erregte Timiro beginnt, Waliya zu verhören. »Wie alt warst du, als du aus Somalia geflohen bist und Unterschlupf in Kenia gefunden hast?«
»Ich war fünfzehn, sechzehn.«
»Hast du jemals außerhalb des Haushalts gearbeitet?«
»Warum fragst du?«
»Außer als Callgirl?«
»Wer sagt, dass ich ein Callgirl war?«
»Mein Bruder hat mir in einem seiner seltenen Anrufe erzählt, wie du früher gewesen bist. Erst, da waren deine Kinder noch kleiner, als Partygirl für die Lagerbosse, und dann, später, die Kinder waren schon ein bisschen älter, als fleißige Besucherin der Luxusfeste, die die Expats in Nairobi jedes Wochenende gefeiert haben. Mein Bruder hat mir versichert, dass er es war, der aus dir eine gute Frau gemacht hat. Also spiele hier nicht die verschleierte und gekränkte Heilige, das bist du nämlich nicht. Mein Bruder war kein Idiot, meinen Eltern hat er das natürlich nicht erzählt. Aber mir, weil wir uns näherstanden, als es nach außen den Anschein hatte.«
»Ich denke, wir sollten jetzt besser gehen«, sagt Gacalo zu Timiro.
»Wir gehen, wenn ich fertig bin, Mama.«
Gacalo verstummt, und Timiro fährt fort. »Du hattest nie eine richtige Arbeit, bis du meinen Bruder getroffen und geheiratet hast.«
»Das stimmt.«
»Dann hast du dank der Überweisungen meiner Mutter an meinen Bruder gut zwei Jahre in relativem Wohlstand in Nairobi gelebt.«
»Das stimmt.«
»Du bist jetzt die Witwe meines Bruders in einem Land, das dir und deinen Kindern Zuflucht gewährt hat. Eure Asylanträge sind noch nicht anerkannt, also hast du keinen Anspruch auf die staatlichen Sozialleistungen, auf die Flüchtlinge Anspruch haben. Jedenfalls nicht sofort. Sag mir eins: Wie sieht dein Plan aus? Willst du dich für die Erwachsenenkurse einschreiben, die in Oslo angeboten werden?«
»Ich bin zu alt, um noch zu studieren.«
»Was dann? Willst du dir einen Job suchen?«
»Hängt davon ab, ob es überhaupt welche gibt.«
»Meine Mutter ist viel älter als du, und sie arbeitet noch. Auch ich arbeite jeden Tag der Woche. Noch mal die Frage: Wirst du dir Arbeit suchen?«
»Ich habe nichts gelernt. Ich kann nicht arbeiten.«
»Du kannst als Verkäuferin in einem Supermarkt arbeiten oder als Pflegerin in einem Altenheim.«
»Das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Für diese Art von Arbeit bin ich nicht geeignet.«
»Was meinst du damit? Diese Art von Arbeit?«
»Ich kann nicht arbeiten, wo man Alkohol verkauft«, sagt Waliya. »Und auch nicht da, wo ich mich um die natürlichen Bedürfnisse von alten Männern kümmern müsste.«
»Würdest du als Geschirrspülerin arbeiten?«
»Ich bin immer Hausfrau gewesen.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt. Und wir wissen das auch«, sagt Timiro. »Mein Bruder hat mir erzählt, dass es Zeiten gab, wo du nach Einbruch der Dunkelheit das Haus verlassen hast und erst im Morgengrauen zurückgekommen bist. Mit den Taschen voller Geld. Wir verlangen nicht, dass du etwas derart Entwürdigendes machst. Aber was ist falsch daran, wenn du die Hälfte dessen beisteuerst, was meine Mutter für dich und deine Kinder ausgibt? Bis eure Aufenthaltsbewilligung durch ist? Dann ist gesichert, dass deine Kinder Anspruch auf staatliche Hilfe haben.«
Gacalo schaltet sich wieder ein. »Keine Sorge, mein Schatz. Das Geld, das ich zur Seite gelegt habe, reicht für ein Jahr.«
»Trotzdem, das ist das Geld der Familie, nicht ihrs.«
Waliya schweigt weiter ungerührt.
»Als ich in New York für mein zweites Examen gelernt habe«, sagt Timiro, »da habe ich nebenher Geschirr gespült und anderer Leute Toiletten sauber gemacht. Ich habe es auch mit den natürlichen Bedürfnissen von alten Männern zu tun bekommen, wenn ich sie gebadet und ihre verschmutzten Bettlaken gewechselt habe, um mich über Wasser zu halten. Wenn ich, die Tochter eines Botschafters und einer hohen Verwaltungsangestellten im norwegischen Staatsdienst, mir nicht zu schade war, solche Arbeiten anzunehmen, warum kannst du das nicht?«
Waliya schweigt immer noch.
»Ich sehe schon, du willst über dieses Thema nicht sprechen«, sagt Timiro. »Bist du wenigstens bereit, mir etwas über den Tod von Dhaqaneh zu sagen?«
»Wir waren uns einig, nicht darüber zu sprechen«, sagt Gacalo entsetzt.
»Mama, er ist tot. Sie lebt, und ich will mehr darüber wissen. Ich habe das Recht, ihr diese Fragen zu stellen. Und ich habe das Recht, Antworten zu verlangen.«
»Was willst du wissen?«, sagt Waliya.
»Was hast du von dem Selbstmordattentat gewusst, das sein Leben beendet hat? Und wie warst du daran beteiligt? Ich habe gehört, für den Anschlag warst du vorgesehen, hast dich aber geweigert, weil du die Kinder nicht ohne Mutter zurücklassen wolltest. Also hat er es getan. Entspricht irgendetwas daran der Wahrheit?«
»Nein, nichts davon ist wahr«, sagt Waliya.
»Hast du mehrere Tage lang den Bombengürtel für ihn versteckt, und hast du ihm dann, weil er die Anweisungen für die Handhabung nicht finden konnte, gezeigt, wie er die Explosion auslösen musste?«
»Ich hatte nichts mit dem Bombengürtel zu tun.«
»Noch eine letzte Frage.«
»Na los.«
»Gehörst du zu einer dschihadistischen Terrorzelle, die in Europa operiert?«, fragt Timiro.
»Ich bin eine Witwe mit zwei Kindern.«
Dann herrscht lange Stille.
Waliya bricht das Schweigen. »Kein Wunder, dass Dhaqaneh nie ein gutes Wort für dich übrighatte.« Dann entschuldigt sie sich. »Ich brauche nur eine Minute.« Sie geht aus dem Zimmer und kommt nicht zurück. Schließlich verlassen Gacalo und Timiro schweigend die Wohnung.
Aufgewühlt fahren die beiden Frauen nach Hause. Im Flüsterton stößt Timiro alle Arten von Flüchen aus, bis Gacalo sie schließlich unterbricht. »Warum hast du nie etwas davon erzählt?«
»Was hätte das gebracht?«, sagt Timiro. »Du warst wild entschlossen, sie herzuholen, weil du deinem Sohn versprochen hast, du würdest dich um seine Witwe und ihre Kinder kümmern. Egal, wie viel Geld und Mühen dich das kosten würde.«
Als sie zu Hause ankommen, geht Timiro gleich nach oben. Sie ist müde und sieht krank aus. Als schäme sie sich, betritt Gacalo mit gesenktem Kopf die Küche. Mugdi nimmt sie liebevoll in die Arme und macht ihr einen Tee, wie ihn die Somalis mögen, mit mindestens zwei Löffeln Zucker. Ohne ein Wort stellt er die Tasse und ein paar Vollkornkekse auf den Tisch.