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KAPITEL VIER

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Nach einer erholsamen Nacht fühlt sich Gacalo am nächsten Morgen viel besser und frühstückt mit Timiro. Die junge Frau holt sich ein Glas Wasser und setzt sich wieder zu ihrer Mutter. »Heute Nacht hatte ich einen bizarren Traum«, sagt sie.

»Warum bizarr?«

»Ich war in Genf auf einer Party, und da hat sich der Absatz von meinem rechten Schuh gelöst. Die Frau in dem Laden, wo ich das reparieren lassen wollte, hat gesagt, dass die Schuhe ein billiges Imitat sind.«

Das Telefon klingelt, und Timiro verstummt. Gacalo hebt ab. Der Anrufer stellt sich als stellvertretender Leiter der Politiets utlendingsenhet, kurz PU, vor – der Abteilung der Ausländerpolizei, die für die Registrierung frisch eingetroffener Asylbewerber zuständig ist.

»Ich habe ein paar Fragen vorab«, sagt er. »Und zwar zu Frau Ahmed und ihren beiden minderjährigen Kindern, die behaupten, Verwandte von Ihnen zu sein. Sie ist die Witwe Ihres Sohnes, der norwegischer Staatsbürger war. Es wäre nötig, dass Sie persönlich bei uns vorbeischauen, um noch weitere Fragen zu beantworten.«

»Ich weiß, dass sie im Land sind, weil Waliya und ich telefonisch in Verbindung stehen.«

»Die Witwe behauptet, sie sind Ihre Gäste.«

»Ja, sie und die Kinder sind unsere Gäste.«

»Sie sagt, Sie hätten Ihnen eine Wohnung besorgt und würden für Ihren Unterhalt aufkommen, bis die norwegische Einwanderungsbehörde über ihren Status entschieden hat. Ist das korrekt?«

»Ja, das ist korrekt.«

»Ist Ihnen klar, dass die Witwe und ihre Kinder bis zur Bewilligung des Aslyantrags keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch den Staat haben?«, fragt er.

»Ja, das ist mir klar.«

»Bringen Sie bitte alle nötigen Dokumente mit, auch den Mietvertrag für das Haus oder die Wohnung, wo Ihre Verwandten leben werden. Wenn Sie diese Bedingungen erfüllen, können Sie Ihre Verwandten aus unserem Gewahrsam abholen.« Dann gibt er ihr die Adresse.

»Kann auch mein Mann mit den unterschriebenen Dokumenten vorbeikommen und sie abholen?«, fragt sie.

»Natürlich«, sagt der Beamte und legt auf.

Sie hat kaum aufgelegt, als Mugdi in die Küche kommt. Er ist noch im Schlafanzug und reibt sich zum Erwachen in der neuen Realität, von der Gacalo ihm sicher gleich berichten wird, die Augen. Er umarmt sie und Timiro und setzt sich dann den beiden gegenüber an den Tisch. Er fragt sich, ob heute ein besonderer Tag ist, denn sie trägt ein somalisches Kleid mit Blumenmuster. Dann berichtet sie ihm kurz, was der Beamte gesagt hat.

»Könntest du gleich zum Flughafen fahren und sie aus der Ankunftshalle abholen, Liebling.«

»Natürlich«, sagt er.

Als Mugdi wieder vor dem Ausgang der Ankunftshalle steht, ertönt plötzlich auf einem Handy der Ruf des Muezzin, der alle Muslime zum Nachmittagsgebet ruft. Er schaut sich neugierig nach dem Besitzer des Handys um und ist gespannt, wie die Nichtmuslime darauf reagieren. Sein Blick fällt auf einen jungen Mann mit Vollbart ohne Schnäuzer, der nicht weit entfernt von einer alten Frau in Nonnentracht steht – himmelblaue Tunika, weißes Skapulier mit schwarzen Fransen. Er praktiziert seinen Glauben zwar selten, aber als geborener Muslim weckt der Ruf des Muezzin doch Erinnerungen in ihm.

Mugdi interessiert, was die Nonne von alldem hält. Sie bemerkt, dass er sie beobachtet. Ihr Mund breitet sich zu einem herzlichen Lächeln aus, ihre Augen leuchten freundlich. Er schätzt, dass die Frau aus dem Süden Indiens oder von Sri Lanka stammt. Da sie neben einem Rollstuhl mit einem sehr alten Mann steht, hält er sie für seine Pflegerin. Bei genauerer Betrachtung fällt ihm die Ähnlichkeit zwischen den beiden auf. Vielleicht sind sie verwandt.

»Wie alt ist er?«, fragt Mugdi.

»Gerade neunzig geworden«, sagt sie.

»Sie sehen sich so ähnlich, sind Sie verwandt?«

»Er ist mein älterer Bruder.«

»Kommen Sie aus Südindien oder Sri Lanka?«

»Sri Lanka.«

»Waren Sie lange hier in Norwegen?«

»Ja, viel zu lange.«

»Wir auch«, sagt Mugdi. »Meine Frau und ich.«

»Aber in letzter Zeit hat mein Bruder das Wetter nicht mehr vertragen«, fährt sie fort. »Und da der Bürgerkrieg ja nun mehr oder weniger vorbei ist, hat er sich entschlossen, seine restlichen Tage in Colombo zu verbringen. Dort möchte er auch begraben werden.«

Der alte Mann lässt den Strohhalm, mit dem er getrunken hat, auf den Boden fallen. Seine Schwester hebt ihn auf, wischt ihn mit einer Papierserviette ab und gibt ihn ihm zurück. »Und Sie?«, fragt sie. »Werden Sie später auch einmal dahin zurückkehren, wo Sie herkommen? Um dort zu sterben und begraben zu werden?«

»Ich wünschte, ich wüsste, ob ich überhaupt zurückgehen könnte.«

»Ihr Akzent hört sich nach Somalia an. Die Kämpfe in Ihrem Land wüten immer noch, oder?«

Mugdi zögert. »Ja, ich komme aus Somalia.«

»Ihr Bokmål ist ausgezeichnet«, sagt sie.

»Ich bin ja auch schon über zwanzig Jahre hier.«

»Ich heiße Tam, kurz für Tamannah«, sagt sie.

»Mich nennen alle Mugdi«, sagt er.

Tam holt ein Taschentuch hervor und wischt ihrem Bruder sanft etwas Speichel vom Kinn. Er erschrickt und öffnet die Augen. »Was?« Sie sagt etwas auf Tamilisch zu ihm. Der alte Mann nickt, und sein Kiefer bewegt sich wie bei einem Baby, das im Schlaf schmatzt.

»Heißt eigentlich jeder zweite Somali Mohammed?«

»Kennen Sie viele Somalis?«

»Ich habe ein paar Bekannte in der Nachbarschaft, in Grønland. Kommt mir immer so vor, als hieße einer von dreien Mohammed. Aber sie haben auch viele Spitznamen. Haben Sie noch andere Vornamen?«, fragt sie ihn.

»Zufälligerweise ist mein Vorname tatsächlich Mohammed«, sagt er. »Aber ich sage immer Mugdi, wenn man mich fragt. Das ist mein Spitzname, er bedeutet ›schwarz wie die Nacht‹. Meine Mutter hat mir den Namen gegeben, als sie mich zum ersten Mal gesehen hat. ›Mein Gott‹, hat sie gesagt. ›Ich habe die Nacht geboren.‹ Und dann hat sie laut gelacht.«

»Leben Sie auch in Grønland?«

»Nein, in Bislett.«

»Viele Somalis in meiner Straße sind zu laut und zu wild«, sagt sie. »Manche scheinen es geradezu auf Ärger anzulegen. Erst vor Kurzem hat das Jugendamt fünf oder sechs von ihnen die Kinder weggenommen und in Pflegeheime gesteckt.«

Mugdi hat von einigen somalischen Eltern gehört, die mit dem Jugendamt in Konflikt geraten sind. Er hat auch von Somalis gehört, die aus Angst vor dem Jugendamt und staatlicher Fürsorge ihre Kinder zurück nach Somalia oder zu anderen Verwandten in Europa geschickt haben.

»Sie wollen nicht verreisen, oder?«, sagt Tam.

»Ich warte auf die Witwe meines Sohnes und ihre Kinder.«

»Wie alt sind die Kinder?«

»Das Mädchen vierzehn, der Junge zwölf.«

»Werden sie bei Ihnen wohnen?«, fragt sie.

»Wir haben in Grønland eine Wohnung für sie gefunden.«

Über die Lautsprecheranlage kommt die Durchsage, dass der Flug nach Colombo über Dubai pünktlich abhebe und die Passagiere sich zu ihrem Gate begeben sollten. Die Nonne schaut ihren friedlich schlafenden Bruder an. Dann schiebt sie ihm die Reisetasche zwischen die Füße, überprüft, ob sie die Tickets und Pässe hat, und weckt ihn dann leise flüsternd. Sie verabschiedet sich von Mugdi. »Ich wünsche Ihnen und der Witwe Ihres Sohnes und den Kindern alles Gute.«

Kurz nachdem die Nonne gegangen ist, fällt Mugdi ein Teenager auf, der einen Gepäckwagen mit einem wackeligen, turmhohen Kofferberg vor sich herschiebt. Er hat Ähnlichkeit mit dem Naciim auf seinem Foto. Ein junges Mädchen und eine Frau, beide im Ganzkörperschleier, folgen ihm mit etwas Abstand. Dennoch ist unübersehbar, dass die drei zusammengehören. Mugdi lässt sie an sich vorbeigehen, ruft schnell Gacalo an, sagt, »Sie sind da«, und legt genauso schnell wieder auf. Dann ruft er laut einen somalischen Gruß: »Nabad, Naciim!«

Naciim dreht sich um, läuft auf ihn zu und schließt ihn überschwänglich in die Arme. Waliya und Saafi nähern sich den beiden betont langsam, bleiben dann stehen, wechseln nervöse Blicke und einige Worte, die Mugdi nicht verstehen kann, und überprüfen dann den Sitz ihrer Gesichtsschleier.

Mugdi verschränkt die Hände hinter dem Rücken und geht langsam auf die beiden Frauen zu. Er erwartet nicht, dass sie ihn bei der Begrüßung berühren, wie Naciim es getan hat. »Willkommen in Norwegen«, sagt er erst zu Waliya, dann zu Saafi.

»Fahren wir mit dem Zug?«, fragt Naciim.

»Nein, ich bin mit einem Mietwagen gekommen.«

Mugdi geht mit dem Jungen voraus, die beiden Frauen folgen mit Abstand. Mugdi und Naciim warten vor dem Lift.

Mugdi ist klar, dass es für einen Jungen, der fast sein ganzes Leben in einem Flüchtlingslager in einer staubigen Grenzstadt verbracht hat, fernab von den Annehmlichkeiten einer großen Stadt, eine große Sache ist, in einem Auto zu fahren. In Mugdis Jugend in Somalia bekamen die die Mädchen ab, die ein Auto hatten.

»Wo bleiben sie bloß«, sagt der Junge leicht genervt.

Die Frauen gehen langsam auf sie zu.

»Jetzt schau sie dir an«, sagt Naciim. »Mein Stiefvater Dhaqaneh hat immer gesagt, in Europa ist Zeit Geld. Die beiden müssen lernen, schneller zu gehen.«

Zusammen steigen die vier in den Lift. Als noch drei groß gewachsene, laute Norweger einsteigen, bemerkt Mugdi die Angst in den Augen der Frauen. Einer der Männer spricht laut und gestikulierend, wobei er Waliya mit einer Hand fast berührt. Panisch weicht die Witwe zurück und sagt laut auf Somalisch: »Sag doch einer was!«

Auf höchste Korrektheit bedacht, wendet sich Mugdi nicht an Waliya, sondern leise an ihren Sohn, der seiner Mutter sagen möge, dass die Männer sich nur gut gelaunt unterhalten und es keinerlei Grund zur Sorge gebe.

In der Parkgarage will Mugdi Naciim helfen, den Gepäckwagen zu schieben, aber der Junge besteht darauf, das allein zu machen. Waliya und Saafi steigen hinten ein, Naciim setzt sich auf den Beifahrersitz.

»Ein wunderschönes Auto«, sagt Naciim.

Der Junge streicht bewundernd über das Armaturenbrett und die Innenverkleidung des Wagens. »Wenn ich erwachsen bin, kaufe ich mir auch so ein Auto«, sagt er.

»Da musst du aber gut verdienen, wenn du dir so ein Auto leisten willst.«

»Von dem Reisegeld, das Großmama Gacalo uns geschickt hat, habe ich fünf Dollar gespart. Davon kaufe ich mir ein Lotterielos und gewinne den Jackpot.«

»Im Islam ist Glücksspiel ein Verbrechen«, sagt Waliya, die seit der Begegnung im Lift geschwiegen hat. »Das werde ich nicht erlauben.«

Naciim verzieht spöttisch den Mund. Mugdi ist versucht, den Jungen wegen seines unmöglichen Benehmens zurechtzuweisen und ihm außerdem zu sagen, dass ihm in Oslo niemand ein Lotterielos verkaufen wird, bevor er nicht achtzehn ist. Er lässt es bleiben und beschließt, eine bessere Gelegenheit abzuwarten.

Mugdis Handy klingelt, und er berichtet Gacalo kurz, dass sie auf dem Weg sind. Er spricht italienisch mit ihr, weil er annimmt, dass Waliya und die Kinder das nicht verstehen.

Er sagt Naciim, dass er sich anschnallen soll und das auch seiner Mutter und seiner Schwester sagen soll. Er findet es lästig, dass die neuen Umgangsformen unter Islamisten in Somalia heutzutage verlangen, dass Frauen von Männern – Mahrams ausgenommen – nicht direkt angesprochen werden sollen.

Unterwegs schaut Mugdi in den Rückspiegel und sieht, dass die Lippen der beiden Frauen sich bewegen. Anscheinend rezitieren sie Koranverse. Er schaut wieder auf die Straße. Sie sind keinen halben Kilometer gefahren, da fragt Naciim, ob er eben Italienisch gesprochen habe.

»Verstehst du Italienisch?«, fragt er.

»Noch nicht, aber ich will viele Sprachen lernen«, sagt der Junge. »Norwegisch, Französisch, Italienisch. Und ich will mein Englisch verbessern.«

Zum ersten Mal sagt Saafi etwas. »Und was ist mit Arabisch?«, fragt sie mit leiser Stimme.

»Was soll mit Arabisch sein?«, fragt Naciim.

»Es ist die Sprache des Propheten, Allah möge ihn segnen. Es ist die Sprache, die jeder Muslim lernen muss.«

Naciim schneidet eine Grimasse, und Saafis Gesichtsausdruck verdüstert sich.

Inzwischen ist Mugdi aufgefallen, dass Saafi und Waliya ihren Sicherheitsgurt nicht angelegt haben. Er hält an, lässt den Motor aber laufen. Er sagt Naciim, dass er seine Mutter und Schwester noch einmal darauf hinweisen soll, den Gurt anzulegen, das sei in Norwegen Pflicht.

»Wir werden an dem Tag sterben, den Allah für uns bestimmt hat«, erwidert Waliya. »Egal, ob wir diese Dinger anschnallen oder nicht.«

»Wenn wir erwischt werden, muss ich eine hohe Strafe zahlen«, sagt Mugdi. »Wollt ihr das?«

Widerwillig geben sie nach, und auf dem Rest des Weges herrscht Stille. Als sie das Mietshaus erreichen, ruft Mugdi Gacalo noch einmal an. Sie sagt, dass sie schon in der Wohnung ist.

Als sie die Wohnung betreten, umarmt Gacalo ihren Mann und sagt: »Danke, Liebling.« Sie trägt den somalischen Rock mit Blumenmuster, ist aber nicht verschleiert, sondern trägt einen Schal und ein Kopftuch. Waliya und Saafi begrüßen Gacalo flüchtig und verlassen bei erster Gelegenheit das Zimmer. Naciim jedoch steht dicht neben Mugdi und tut so, als gehöre er mehr zur Welt des alten Mannes als zu der, in der die Frauen Zuflucht gefunden haben.

Der Junge kann nicht still stehen. Er schaut aus den Fenstern, berührt die Wände und bewundert die luftige Sauberkeit der Wohnung. Er geht auf und ab, als wolle er ausmessen, wie groß die Wohnung im Vergleich zu den Hütten im Flüchtlingslager ist. »Komm, zeig mir bitte die Zimmer«, sagt er dann zu Mugdi. »Ich will mir eins aussuchen.«

Naciim nimmt Mugdis Hand, und zusammen gehen sie in einen spärlich eingerichteten Raum. Naciim schaut sich um und sagt: »Das könnte Saafi nehmen.«

Er geht aus dem Zimmer, dann nach links, und Mugdi folgt ihm. Sie kommen zur nächsten Tür. Sie ist verschlossen. Naciim klopft leise an. Als niemand antwortet, sagt er: »Vielleicht sind Mama und Saafi da drin.«

Schließlich kommen sie in ein Zimmer mit eigenem Bad und Blick auf den Garten. Naciim setzt sich auf das Doppelbett. Er ist begeistert. »Das hier wird mein Zimmer«, sagt er im dreisten Tonfall eines Menschen, der entschlossen ist, sich durchzusetzen.

»Wie wär’s, wenn du vorher deine Mutter fragst?«

»Aber das ist das Zimmer mit der besten Aussicht.«

Mugdi versteht, was der Junge meint: Das Beste von allem geht an den Mann im Haushalt, und da er der Mann ist, steht das größte Zimmer mit der besten Aussicht von Rechts wegen ihm zu. Mugdi ist wütend. Nicht so sehr auf den Jungen wie auf die Tradition, die die männliche Spezies verhätschelt.

»Woher hast du dieses Machogehabe?«, sagt Mugdi. »Es macht mich traurig, wenn du schlecht über deine Mutter und deine Schwester redest. Sie behandeln dich, als wärst du ihr Mahram, ihr männlicher Beschützer. In unserer Familie heißen wir so ein Verhalten nicht gut.«

Naciim schaut ihn mit gespieltem Zorn an und sagt nichts.

»Was würde dein Stiefvater sagen, wenn er dich so reden hörte? Würde er dich zur Rede stellen oder würde es ihn gar nicht kümmern?«

»Er würde nichts Unrechtes daran finden. Tatsächlich würde Stiefvater Dhaqaneh mich darin bestärken, als Herr des Hauses aufzutreten, als Oberhaupt der Frauen, als Mahram.«

Der Mann als Beschützer der Frauen, dessen oberste Aufgabe ist, die Familienehre auf jede nur mögliche Art zu bewahren. Mugdi kennt solche Männer, und ihm drängt sich der Gedanke auf, dass Naciim ihm und Gacalo noch viel Ärger machen könnte.

»Stiefvater Dhaqaneh würde wollen, dass ich als sein Stellvertreter einspringe«, fährt Naciim fort.

»Und das heißt was?«

»Dass meine Mutter und meine Schwester nichts tun können ohne meine ausdrückliche Zustimmung«, sagt Naciim. »Und dass ich sie bestrafen kann, wenn sie aus der Reihe tanzen.«

»Glaubst du, für einen Jungen deines Alters ist das das richtige Verhalten?«

»Einmal, als mein Stiefvater nicht da war, sind meine Mutter und Saafi zu einer Hochzeitsfeier gegangen, ohne mir vorher Bescheid zu geben«, sagt Naciim. »Als er zurückkam und ich ihm berichtet habe, was passiert war, hat er sie zurechtgewiesen. Er hat gesagt, in seiner Abwesenheit müssten sie meinen Anweisungen folgen.«

»Hat er deine Mutter jemals geschlagen oder misshandelt?«

»Er hat sie oft gemaßregelt«, sagt Naciim.

»Gehörte zu maßregeln auch schlagen?«

»Ja, aber nicht so oft, wie er mich geschlagen hat.«

»Warum das denn?«

»Weil ich sein ›auserwählter‹ Mann war.«

»Was hat er damit gemeint?«

»Dass ich mehr wert bin als die Frauen.«

Vom Flur hörte man Gacalo fragen. »Wo sind die Männer?«

»Wir sind hier, Liebling«, ruft Mugdi.

Gacalo kommt ins Zimmer. »Was macht ihr hier?«, fragt sie.

»Der junge Mann und ich lernen uns gerade kennen. Kommt mir vor, als müsste sich der Junge so einiges abgewöhnen.«

Nach ein paar Minuten Smalltalk geht Gacalo Richtung Küche. Mugdi und Naciim folgen ihr. In der Küche schaut Gacalo ihren Mann liebevoll an, bedankt sich bei ihm und sagt ihm auf Italienisch, dass sie sich jetzt um alles kümmern werde, er könne nach Hause fahren.

Als Naciim merkt, dass Mugdi gehen will, fragt er ihn, ob er mitkommen dürfe. »Heute nicht«, sagt Mugdi.

»Habt ihr zu Hause einen Fernseher?«

»Ja«, sagt Mugdi.

»Kann ich manchmal vorbeikommen und schauen?«

»Wenn du uns besuchst, gern.«

»Ich habe gehört, dass du haufenweise Bücher hast.«

»Jede Menge«, sagt Gacalo.

»Was für Bücher?«

»Alles Mögliche. Jede Größe, jedes Genre. Auf Italienisch, Englisch, Russisch, Somalisch, Arabisch, Norwegisch.«

»Stiefvater Dhaqaneh hatte mehr Bücher als alle, die ich kannte«, sagt Naciim. »Er hat viel gelesen. Er hat mir lesen und schreiben beigebracht. Mit dem Lesen habe ich mich schwergetan, ich konnte nie gut lesen, bis er mir geholfen hat. Früher fand ich Lesen langweilig, jetzt nicht mehr.«

»Wenn du nicht liest, was machst du sonst noch gern?«

»Im Fernsehen Fußball schauen.«

»Spielst du Fußball?«

»Ja, sehr gern.«

Mugdi dreht sich zu Gacalo um. »Wir sehen uns dann zu Hause.«

»Danke fürs Abholen und Herbringen«, sagt sie.

Er ist gegangen, bevor Naciim ihn fragen kann, wann sie sich wiedersehen.

Im Norden der Dämmerung

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