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Eine traurige Gestalt auf vier Pfoten
ОглавлениеEines schönen Wochenendes machten wir mit ihm eine Stippvisite auf Luftikus, unserem Segelboot. Der Aufenthalt auf dem schwankenden Boot war ihm ganz und gar nicht geheuer. Diese „Zirkusnummer“ sollten wir ohne ihn durchziehen.
An trockenen Sommertagen stand Jerrys Napf auch schon mal draußen auf der Terrasse, wo er zum beliebten Treffpunkt der unterschiedlichsten Zaungäste wurde. Dazu gehörte ein Igel, der immer mächtigen Hunger zu haben schien und dem das Katzenfutter sehr gelegen kam, wobei ihm die Eigentumsrechte offenkundig einerlei waren.
Jerry beobachtete die Essmanieren seines stachligen Nachbarn zunächst äußerst kritisch, bis er wohl meinte, sich doch langsam dazugesellen zu müssen, wenn er nicht leer ausgehen wolle, und gemeinsam fraßen sie in völliger Eintracht den Napf leer.
Es gab in der Nachbarschaft allerdings auch, wie von vielen anderen ebenfalls empfunden, äußerst aggressive Rüpel, die dem Gastgeber nicht nur keinen Respekt zollten, sondern ihm sogar feindselig gegenübertraten.
Da waren zwei Elstern, die in seinem Revier lebten. Diese diebischen Vögel verhielten sich taktisch äußerst geschickt, wenn sie auf Raubzug gingen. Eine Elster näherte sich Jerrys gefülltem Napf am Boden bis auf ca. einen Meter. Weiter rückte sie nicht vor, weil sie sonst in Jerrys Wirkungsbereich geraten wäre, der, in entgegengesetzter Richtung ebenfalls ca. einen Meter vom Napf entfernt, eine Verteidigungsposition bezogen hatte.
Jerry fürchtete diesen Gegner nicht, und er hätte ihn auch sofort in die Flucht geschlagen, wenn nicht die zweite Elster auf dem Garagendach gewesen wäre, die drohend auf ihn herab spähte und zum Angriff bereit war.
Sich gegenseitig belauernd, auf einen Fehler des Gegners wartend, so hielten die Kontrahenten eine Zeit lang ihre Position. Es war eine Pattsituation eingetreten, in der keiner auch nur die geringste Schwäche zeigen durfte.
Jerry wirkte äußerst angespannt, war zum Sprung bereit, und man glaubte jeden Augenblick, lautes Gekrächze zu hören und Federn fliegen zu sehen.
Der Gegner war beunruhigt. Er schien nach Abwägung von Risiko und Nutzen seine feindseligen Absichten einzustellen.
Die Lage schien sich zu beruhigen. Jerry wusste allerdings nicht, dass Elstern sehr hartnäckig sein konnten und dass sie zurückschlagen würden, wenn ihre Erfolgsaussichten größer wären.
Ich wollte auf meiner Terrasse keine Gewalt, deshalb führte ich den Streitgegenstand seinem rechtmäßigen Besitzer zu, der ihn, durch die Katzenklappe geschützt, in seinem Domizil finden konnte.
Die hungrigen Elstern änderten ihre Taktik. Sie nahmen das Vogelhäuschen ins Visier, wo Blaumeisen, Kohlmeisen, Sumpfmeisen, Kleiber, Rotkehlchen und Spatzen Erdnüsse, Sonnenblumenkerne, Rosinen und Fettfutter pickten.
Kein Singvogel wollte ihnen zu nahekommen, und so war das lebhafte Treiben augenblicklich beendet, als die Elstern das Häuschen besetzten.
Wir ließen sie regelmäßig gewähren, bis wir dachten, dass sie allen anderen etwas übriglassen sollten.
Eines Tages sahen wir eine traurige Gestalt auf vier Pfoten ängstlich unsere Terrasse erkunden. Es war eine junge Katze mit gestromtem Fell, die vorsichtig näherkam, sich wenige Meter vor uns setzte und uns aus müden Augen ansah. Sie bot einen jämmerlichen Anblick, wie sie da abgemagert und verstört in ihrem verfilzten Fell mit einem triefenden Auge und Schnupfennase so vor uns saß.
Spontan füllte Anneliese Jerrys Napf auf, den er nicht leergefuttert hatte, und stellte ihn in gebührender Entfernung zu unserem Besucher auf.
Als wir uns etwas zurückgezogen hatten, fand unser Gast Mut und näherte sich langsam dem Napf, nahm zunächst prüfend einige Bissen und verschlang den Rest in einem rasenden Tempo, wie wir es noch nicht gesehen hatten. Jerry stand mittlerweile neben uns. Er sah gelassen zu.
Bereits nach wenigen Tagen hatte sich ihr Befinden deutlich verbessert. Sie bewegte sich selbstsicher, und ihr Fell zeigte schon einen leichten Glanz.
Es schien so, als wäre uns eine Schmusekatze zugelaufen, denn sie strich Anneliese ständig um die Beine und wollte ohne Unterlass gestreichelt werden.
Wenn sie bei uns bleiben würde, wäre das in Ordnung, dachten wir, und Anneliese hatte auch schon einen Namen parat. Nicki sollte sie heißen, weil sie ein weißes Dreieck ähnlich einem Nickituch auf ihrer Brust trug.
Irgendwann bemerkten wir, dass Nicki vorzugsweise dort verweilte, wo Jerrys Lieblingsplätze waren. Jerry wich jedem Streit aus. Er änderte seine Gewohnheiten. Irgendwann ließ Nicki den verwunderten Jerry nicht mehr an seinen Futternapf.
Jerry zog sich resigniert zurück. Warum nahm sie ihm alles weg? Es gab doch genug für beide. Was hatte er ihr getan? Er würde ihr so etwas nie antun.
Wir dachten, dass wir eine Lösung hätten, und stellten einen zweiten Futternapf auf, aber sobald sich Jerry seinem vollen Napf näherte, vertrieb Nicki ihn, obwohl ihr Napf ebenfalls noch voll war. Die Fütterung verlief nur dann problemlos, wenn die Näpfe so aufgestellt waren, dass die futternden Katzen keinen Sichtkontakt hatten. Meistens befand sich die Garage zwischen beiden Näpfen.
Nicki nahm jede Gelegenheit war, Jerry klar zu machen, dass er nicht erwünscht sei. Jerry zog sich immer mehr zurück, und wir erkannten, dass hier ein Verdrängungsprozess stattfand.
Innerhalb der Familie gab es keine Aggression, damit war Jerry groß geworden, das hatte er wohl verinnerlicht, und das schien der Grund zu sein, warum er sich nicht zur Wehr gesetzt hatte.
Wir hatten lange überlegt, was zu tun sei. Im Vordergrund stand dabei aber immer, dass Jerry die älteren Rechte hatte und dass sich Nicki in ihre neue Familie friedlich einfügen müsste.
Wir warteten noch einige Tage ab, aber Jerry ließ sich bald gar nicht mehr blicken, und so waren wir zu unserem Leidwesen veranlasst zu handeln. Im Dorf und im Freundeskreis konnten wir Nicki nicht unterbringen, weil dort Katzen schon vorhanden waren, oder weil es dort keinen Raum für eine Freigängerin gab.
Schweren Herzens brachten wir Nicki ins Tierheim, denn wir hatten sie liebgewonnen. Gerade Anneliese hatte viel Freude mit dieser Schmusekatze, aber dass sie unseren braven Kater so brutal verdrängen wollte, konnten wir ihm zuliebe nicht zulassen.
Sie hätte es so schön bei uns haben können, wenn sie Jerry geduldet hätte, meinte Anneliese, die den Tränen nahe war.
Jerry war bekümmert. Wo war sie? Musste sie seinetwegen gehen? Musste sie gehen, weil er sich nicht getraut hatte, Stärke zu zeigen? Das war seine Schuld. Das wollte er nicht. Aber in der Familie war man doch nicht so aggressiv, wie hinter dem Haus, im Dickicht.
Selbst als nach langer Zeit die alltägliche Routine zurückgekehrt war, dachten wir hin und wieder an Nicki, und wir glaubten, dass es schön gewesen wäre, wenn sie hätte bleiben können.